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Diskurstheorie als Grundlage normativer Ethik?
Argumentationsregeln und allgemeine Moral
 
Inhalt:
Die Regeln der 
Argumentation als Grundlage
Der konsequente Irrationalist
Der auf Normen beschränkte 
Irrationalismus
Kann ein Dritter für den Irrationalismus argumentieren?
Wann ist ein Diskurs zu führen?
Geltung der Regeln nur für den 
Diskurs
Textanfang
Die Regeln der Argumentation als Grundlage
In seinem Aufsatz "Reflexive Letztbegründung. Zur These von der 
Unhintergehbarkeit der Argumentationssituation"   (in: Zeitschrift für philosophischen 
Forschung, 1981) hat Wolfgang Kuhlmann den Versuch gemacht, im Anschluss an 
Karl-Otto Apel 
den Ausgangspunkt diskurstheoretischer Ansätze möglichst präzise darzulegen.
Dieser Ausgangspunkt besteht in dem Nachweis, dass die 
Regeln diskursiver Wahrheitssuche, d. h. die Regeln wahrheitsorientierter 
Argumentation, nicht sinnvoll bestritten werden können und insofern ein 
tragfähiges Fundament auch für die Beantwortung moralischer Fragen abgeben. 
(Kuhlmann setzt hier voraus, dass Argumentationen der Wahrheitsfindung dienen.)
Kuhlmanns zentrale These lautet: "Wir können die Regeln (und Präsuppositionen) … 
sinnvoller Argumentation nicht sinnvoll, das heißt ohne mit uns in Widerspruch 
zu geraten, bestreiten"   (S.15). Anders ausgedrückt: "Die Behauptung: 'Die Regeln 
der Argumentation gelten für mich nicht' … ist notwendig falsch."   (S.16)
Kuhlmann begründet diese These damit, dass jemand bereits argumentiert, wenn er 
etwas behauptet, und dass er folglich die Geltung bestimmter Regeln der 
Argumentation dabei schon voraussetzen und in Anspruch nehmen muss. (Kuhlmann 
benutzt den Begriff 'Behauptung' in einem engeren Sinne.) Gleichzeitig bestreitet der Betreffende jedoch mit 
dem Inhalt seiner Behauptung die 
Geltung dieser Regeln. Damit ergibt sich zwar kein logischer Widerspruch, jedoch 
liegt darin eine Inkonsistenz zwischen dem Sprechakt des Behauptens und dem 
inhaltlich Behaupteten. Es besteht also ein "performatorischer"   Widerspruch im 
Sinne von Searle. 
Zugespitzt könnte man auch formulieren: "Gegen die Geltung der 
Argumentationsregeln kann man nicht argumentieren, da man dabei zugleich deren Geltung in Anspruch nehmen muss."   (In ähnlicher Weise ist auch die Position 
eines radikalen Skeptikers inkonsistent, sofern dieser für seine eigene These: "Es gibt 
keine Wahrheit"   zugleich Wahrheit beansprucht.)
Wenn jemand argumentiert, warum man nicht argumentieren soll, begibt er 
sich in in 
eine paradoxe Situation.
Der konsequente Irrationalist
Einmal vorausgesetzt, dass die These "Gegen die Regeln der Argumentation 
kann man nicht argumentieren"   richtig ist , so stellt sich die Frage, was 
damit für die Begründung einer normativen Ethik gewonnen ist. 
Wenn jemand argumentieren will, dann muss er offenbar die Regeln einhalten, die 
das Sprachspiel "Argumentation"   ausmachen. Andernfalls stellen seine Äußerungen 
eben keine Argumente dar. Dies ist wohl unstrittig.
Nun könnte sich jemand aber grundsätzlich weigern, überhaupt zu argumentieren. Er könnte 
etwa sagen: "Ich folge keinen Argumenten sondern meinen spontanen Impulsen." Auf 
die Frage: "Soll das ein Argument sein?" könnte er antworten: "Nein, das ist nur ein spontaner Einfall 
von mir."   Auf diese Weise könnte ein 
konsequenter Irrationalist einen performatorischen Widerspruch vermeiden.
Allerdings zahlt der konsequente Irrationalist dafür einen hohen Preis, denn 
damit ist es ihm verwehrt, seinerseits irgendeine Behauptung aufzustellen und 
diese mit dem Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit zu verbinden. 
Um diesen 
Schluss nachzuvollziehen zu können, ist die begriffliche Unterscheidung zwischen 
einem Anspruch auf faktische Geltung und einem Anspruch auf Gültigkeit 
notwendig. 
Wenn jemand z. B. die Behauptung äußert "Die arische 
Rasse ist den andern Rassen überlegen", und von anderen verlangt, diese 
Behauptung zu übernehmen, d. h. sie dem eigenen Denken und Handeln zugrunde zu 
legen, so macht es einen Unterschied, ob der Sprecher dabei zugleich die 
Verpflichtung anerkennt, seine Behauptung für andere nachvollziehbar und einsichtig zu 
begründen, oder ob er diese Verpflichtung nicht anerkennt.
Ich schlage 
vor, eine Behauptung ohne die Verpflichtung, sie zu begründen, als "dogmatische 
Behauptung" zu bezeichnen. Eine dogmatische Behauptung positiver 
(faktischer) Art verlangt von den Adressaten, dass sie dem Sprecher glauben und die behauptete 
Beschaffenheit der Welt in ihr Weltbild übernehmen. Dogmatische Behauptungen 
normativer Art ("Wenn Erwachsene reden, haben Kinder zu schweigen") 
verlangen von ihren Adressaten, dass sie dem Sprecher gehorchen und die 
behauptete Norm befolgen.
Ich schlage vor, eine Behauptung, die nicht nur 
die Übernahme durch die Adressaten verlangt, sondern die zugleich mit der 
Verpflichtung zu ihrer intersubjektiv nachvollziehbaren einsichtigen Begründung 
verbunden ist, als "rationale Behauptung" zu bezeichnen. Wer eine rationale 
Behauptung aufstellt, verlangt die Übernahme dieser Behauptung nur soweit, wie 
die gegebene Begründung reicht.
Dogmatische Behauptungen, die tatsächlich 
geglaubt bzw. denen tatsächlich gehorcht wird, besitzen eine "faktische 
Geltung". 
Für rationale Behauptungen kann der Anspruch auf 
"Gültigkeit" insoweit erhoben werden, als die intersubjektive 
Nachvollziehbarkeit und Einsichtigkeit der Behauptung gegeben ist. 
Eine 
Beschränkung auf dogmatische Behauptungen hat für den konsequenten 
Irrationalisten einschneidende Konsequenzen. 
Wahrheitsansprüche ohne die Verpflichtung zu ihrer argumentativen Begründung 
sind 
keine ernst zu nehmenden Wahrheitsansprüche mehr sondern Dogmen.
Der 
konsequente Irrationalist kann deshalb nicht beanspruchen, in irgendeiner 
Weise "richtig"   zu handeln, ja er kann noch nicht einmal vom andern eine Begründung 
dafür verlangen, warum er die Argumentationsregeln befolgen soll, denn damit 
würde er sich wieder auf die Ebene der Argumentation begeben und implizit die 
Argumentationsregeln akzeptieren, indem er sie in Anspruch nimmt.
Ein konsequenter Irrationalist, der von andern verlangt, sie 
sollten bestimmte Auffassungen über die Beschaffenheit der Welt teilen oder sie 
sollten bestimmte Normen befolgen, kann damit höchstens einen Glaubens- bzw. 
Gehorsamsanspruch erheben. Er hat sich damit 
selber aus der argumentativen Wahrheitssuche ausgeschlossen, seine Position 
ist buchstäblich "indiskutabel".
Gegen jemanden, dem es nicht um Wahrheit geht, sondern der nur Glaubens- oder 
Gehorsamsansprüche aufstellt, ist es jedoch sinnlos zu argumentieren. 
Die Moralphilosophie kann 
Gehorsamsansprüche als solche identifizieren, aber mehr kann und soll die Theorie nicht 
leisten. Gegen unbegründete Gehorsamsansprüche helfen keine Argumente. Dagegen 
muss man sich mit anderen Mitteln zur Wehr setzen.
Fazit dieser Überlegungen ist, dass die Regeln der Argumentation zwar nur für 
denjenigen gelten, der argumentieren will, dass jedoch derjenige, der gar nicht 
argumentieren will, kein Problem für die Erkenntnistheorie darstellt. Da der 
konsequente Irrationalist weder etwas behaupten noch bestreiten kann, sind seine 
Äußerungen für 
den Fortgang der Argumentation irrelevant. Alle andern Teilnehmer der Diskussion aber legen sich auf die 
Einhaltung der Argumentationsregeln fest.
Der auf Normen beschränkte Irrationalismus
Die bisherigen Überlegungen bezogen sich auf den konsequenten Irrationalisten, 
der überhaupt nicht argumentieren will und allen Wahrheitsansprüchen ausweicht. 
Wie ist es jedoch, wenn jemand im Bereich positiver Erkenntnis Argumentation 
zulässt, sich aber weigert, in Bezug auf die Beantwortung normativer Fragen zu 
argumentieren und die Argumentationsregeln anzuerkennen? Wie kann gegenüber 
einem solchen "normativen Irrationalisten"   argumentiert werden, der nur in Bezug auf 
normative Fragen jedem argumentativ gestützten Wahrheitsanspruch ausweicht?
Der normative Irrationalist vertritt die These: "Normative Fragen sollen nicht 
argumentativ entschieden werden!"   Dies ist aber selber eine normative These. Wenn der 
normative Rationalisten also konsistent bleiben will, dann kann er diese These 
selber nicht begründen, ja er kann diese These gar nicht als Behauptung mit 
Wahrheitsanspruch vertreten. 
Darüber hinaus wird auch seine 
Argumentationsbereitschaft in Bezug auf positive Fragen problematisch, denn 
auch die Position "Positive Fragen sollen argumentativ entschieden werden"   
stellt eine normative These dar: Es wird von jedem verlangt, dass er sich bei 
der Beantwortung dieser Fragen um Wahrheit bemüht.
Das entscheidende Problem für den normativen Irrationalisten ist jedoch, dass er 
für die von ihm vertretenen Normen keine Wahrheit bzw. Richtigkeit beanspruchen 
kann, sondern höchstens Gehorsam. Der normative Irrationalist kann niemandem den 
Vorwurf machen, er habe falsch gehandelt. Er kann die von ihm vertretenen Normen 
gegenüber anderen nicht rechtfertigen und er kann entgegenstehende Normen nicht 
kritisieren. Er hat sich mit seiner Position aus der Ebene der Wahrheit und der Sphäre der 
Gültigkeit von Normen verabschiedet.  
Kann ein Dritter für 
den Irrationalismus argumentieren?
Eine theoretische interessante Frage ist: Kann ein Dritter sinnvoll fragen, ob 
die Haltung des konsequenten Irrationalismus berechtigt ist? Dies ist offenbar 
möglich, denn der Dritte, der kein konsequenter Irrationalist ist, kann 
ohne Einschränkung argumentieren. 
Die Frage, ob der konsequente Irrationalismus eine berechtigte Position ist, 
stellt jedoch bereits eine inhaltliche ethische Frage dar. Diese Frage kann man 
also sinnvoll erst dann stellen und beantworten, wenn man die Regeln normativer 
Argumentation, die Methoden normativer Erkenntnis, zuvor geklärt hat.
Wenn die Frage, ob die Haltung des konsequenten Irrationalismus berechtigt ist, 
bejaht werden müsste, dann ergäbe sich allerdings die paradoxe Situation, dass 
man vernünftig entscheidet, vernünftige Entscheidungen nicht gelten zu lassen, die 
Vernunft wäre dann selbstzerstörerisch. Man würde dann die Legitimation der 
Vernunft dafür in Anspruch nehmen, um die Legitimation der Vernunft zu 
bestreiten. Angesichts dieser Paradoxie erscheint die vernünftige Frage nach der 
Berechtigung des Irrationalismus wiederum problematisch. Zumindest für diese 
Frage selber müsste man den Irrationalismus ausschließen.
Wann ist ein Diskurs zu führen?
Oben war festgestellt worden, dass mit den bisherigen Überlegungen nur Normen 
für die spezifische Situation der argumentativen Wahrheitssuche begründet worden sind. Damit 
erhebt sich die Frage, wann überhaupt ein Diskurs zu 
führen ist. Die allgemeine Antwort darauf lautet: Der Diskurs ist dann zu 
führen, wenn es um Wahrheitsansprüche geht.
Daraus folgt jedoch nicht, dass immer dann, wenn die Wahrheit von Behauptungen 
problematisch ist, ein Diskurs zu eröffnen ist, denn der wahrheitsorientierte 
Diskurs ist mit einem bestimmten Aufwand verbunden und dies kann mit anderen 
Zielen kollidieren. Wahrheitssuche ist im Alltagsleben nur ein Ziel unter 
anderen. Eine Wahrheitssuche um jeden Preis ist nicht sinnvoll. Dies wird etwa 
deutlich bei strittigen aber unwichtigen Fragen, die den Aufwand eines Diskurses 
nicht lohnen. Ähnliches gilt für strittige Fragen in Situationen, wo unter 
Zeitdruck entschieden werden muss. Ein langwieriger Diskurs wäre eine Vergeudung 
von Kräften, da sein Resultat zu spät kommt.
 Angesichts dieser 
Problemlage kann die Realisierung idealer Diskurse nicht zum allein maßgeblichen 
Ziel erklärt werden.
Geltung der Regeln nur für den Diskurs
Schließlich ist festzuhalten, dass es sich bei den Regeln der Argumentation 
nicht um allgemeine Verhaltensnormen handelt, sondern um Normen für die 
spezifische Situation der argumentativen Wahrheitssuche, den Diskurs. 
So gilt z. B. für den Diskurs die Argumentationsregel, dass nur wahrhaftige bzw. 
aufrichtige Äußerungen erlaubt sind. Jedoch kann aus den obigen Überlegungen 
keineswegs die Norm abgeleitet werden, dass in jeder Situation - auch außerhalb 
der Wahrheitssuche - Wahrhaftigkeit geboten ist.
***
Siehe auch 
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
    
Diskurstheoretische 
Normenbegründung ** (22 K)
   
Diskurstheorie bei J. Habermas ** (8 K)
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der normativen Ethik" /
Letzte Bearbeitung: 23.06.2013 / Eberhard Wesche
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