Ethik-Werkstatt 
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Ein Nachwort nach 30 Jahren 
 
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*** Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, Freunde, Kollegen und 
Bekannte auf die Ethik-Werkstatt hinzuweisen ***
Als das Buch 1979 unter dem Titel "Tauschprinzip - 
Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse. Zur Methodologie normativer Ökonomie und 
Politik"  im Verlag Klett-Cotta erschien, hatte ich gehofft, dass es 
Reaktionen zustimmender oder kritischer Art auslösen würde. Aber die Resonanz 
war gleich Null, wenn man von einer nicht sehr sachkundigen Besprechung in der 
"Politischen Vierteljahresschrift" absieht. 
Weshalb die Arbeit keine Resonanz fand, kann man nur vermuten. War die Arbeit so 
schwach, dass sich eine Auseinandersetzung darüber nicht lohnte? Einige Gründe 
für die fehlende Resonanz erscheinen plausibel:
- Ende der 70er Jahre dominierten in den Sozialwissenschaften Empirismus und 
Marxismus. Eine explizite, wissenschaftliche Beschäftigung mit 
ethisch-normativen Fragestellungen war bei beiden Ansätzen gleichermaßen 
verpönt.
- Die Arbeit ließ sich keiner der vorherrschenden Strömungen zuordnen: 
- Der 
Ansatz war utilitaristisch - aber auf diskurstheoretischer bzw. 
konsenstheoretischer Grundlage. 
- Er enthielt eine Kritik der Marktwirtschaft 
- aber 
ohne Marx. 
- Er nahm sich "unwissenschaftlicher" Fragen an aber strebte zugleich 
methodische Strenge an. 
- Er war logisch-empirisch und zugleich normativ. 
So fiel 
die Arbeit durch alle üblichen Raster.
- Die Arbeit ging in Bezug auf die Begrifflichkeit z. T. eigene Wege, die den 
Zugang zum Inhalt erschwerte. Dies zeigt sich schon im Titel, der lautete 
"Tauschprinzip – Mehrheitsprinzip – Gesamtinteresse" statt "Märkte, Wahlen und 
Gemeinwohl". Statt "Marktwirtschaft" wurde der Ausdruck 
"Eigentum-Vertrags-System" verwendet, statt vom vielbeschworenen "Diskurs" wurde 
von "Argumentation" gesprochen usw.
-  Erschwerend für die Rezeption wirkte sich schließlich aus, dass die Arbeit 
fächerübergreifend war und sowohl Themen der Philosophie, der Ökonomie als auch 
der Politikwissenschaft behandelte. Hier fehlten oft wohl die Kenntnisse, wie 
schon die einzige Rezension zeigt, in der z. B. das in der Arbeit entwickelte 
Theorem von der Äquivalenz aller gleichgewichtigen Wahlverfahren bei 
Rationalverhalten der Beteiligten nicht einmal erwähnt wurde.
Ich habe daraus die Konsequenz gezogen und habe die einzelnen Teile (zum 
Kriterium des Gemeinwohls, zu Einstimmigkeitsregeln, zum Modell der 
Marktwirtschaft und zum Mehrheitsprinzip) nach Fächern getrennt in der 
Ethik-Werkstatt angeboten.
Ich hoffe, dass heute die Bedingungen für eine Rezeption der Arbeit und eine 
kritische Auseinandersetzung mit ihr günstiger sind. Heute ist "Ethik" nicht 
notwendig "überholt" und "unwissenschaftlich" und heute ist die Kennzeichnung 
als "utilitaristisch" kein Todesurteil für einen ethischen Ansatz, wie im 
deutschen Sprachraum lange üblich. Aber noch steht eine Kritik durch die 
Fachwissenschaften aus ... 
Wie sehe ich selber diese Arbeit? Wo bin ich heute anderer Ansicht?
Generell gesagt ist für mich kein Teil des Buches überholt oder fehlerhaft und 
auch nach 30 Jahren hat die Arbeit nach meinem Eindruck noch keinen Staub angesetzt. Allerdings 
müsste sie an verschiedenen Punkten ergänzt und abgerundet werden und die 
inzwischen gewonnenen Forschungsergebnisse in diesem Bereich müssten natürlich 
einbezogen werden. 
Einige kritische Punkte will ich im Folgenden skizzieren.
1.) Für die normative Methodologie ist das Kriterium der allgemeinen 
Konsensfähigkeit von Normen zentral. Dazu wird in 
der Arbeit die Ansicht vertreten, dass verschiedene Subjekte im Prinzip durch "Sich-hineinversetzen-in-den-anderen" 
zu einer intersubjektiv übereinstimmenden Gewichtung der Vor- und Nachteile für 
die Beteiligten kommen können. 
Ob dies möglich ist, ist letztlich eine Frage, die nur durch empirische 
sozialpsychologische Forschung beantwortet werden kann. Dazu müssen Experimente 
zum kollektiven Entscheiden und Handeln unternommen werden, bei denen versucht 
wird, durch "Sich-hineinversetzen" einen Konsens über die Gewichtigkeit von Vor- 
und Nachteilen anderer Individuen herzustellen. Wo dies 
nicht gelingt, ist nach den Gründen für den Dissens zu suchen. Es ist zu fragen, 
inwieweit sich durch zusätzliche Information und Übung die Hindernisse auf dem 
Weg zum Konsens ausräumen 
lassen.
Auch die Erforschung realer Konflikte und deren Lösung wäre hilfreich, wenn 
Begriffe wie "argumentativer Konsens" und "solidarischer Nutzenvergleich" auf 
ihre theoretische Brauchbarkeit hin geprüft werden sollen.
2.) Die Grenzen einer konsensorientierten wissenschaftlichen Argumentation sind 
deutlich zu machen. In vielen Fällen sind – z. B. wegen der Unkenntnis von 
Folgen bestimmter Handlungen – mehrere Positionen argumentativ vertretbar. 
Insofern ist die konsensorientierte Argumentation kein Verfahren, das in jedem 
Fall zu definitiven Resultaten führt. Es bedarf deshalb für eine soziale 
Koordination geeigneter Entscheidungsverfahren, die bestimmte Normen für alle 
verbindlich setzen. Das Spannungsverhältnis zwischen argumentativ begründeter 
"Richtigkeit" und verfahrensmäßig gesetzter "Verbindlichkeit" von Normen muss 
gründlich untersucht werden. Die Normsetzung ist dabei kein Ende der Argumentation, denn es bleibt 
u. a. die Frage, welches Entscheidungsverfahren für die Regelung eines bestimmten 
Problems das geeignete ist. 
Dabei wäre es falsch anzunehmen, dass ein Entscheidungsverfahren umso besser 
ist, je mehr es sich in der Form einem herrschaftsfreien Diskurs annähert. Hier 
wird übersehen, dass es in der Lebenspraxis nicht nur um die inhaltliche Richtigkeit der gesetzten 
Entscheidungen geht, sondern z. B. auch um die Kosten der Informationsgewinnung 
und um den Zeitbedarf, den das Entscheidungsverfahren erfordert. Wo schnelle 
Entscheidungen erforderlich sind, ist die Suche nach einem argumentativen 
Konsens in aller Regel fehl am Platz. Wenn die Situation bereits wesentlich 
verändert ist, so ist die Entscheidung unbrauchbar, obwohl sie für die ursprüngliche 
Situation richtig gewesen sein mag. 
3.) Bei dem Modell des Marktes und dem Modell der parlamentarischen Demokratie, 
deren Funktionieren in der Arbeit analysiert wurde, handelt es sich um sehr vereinfachte Modelle. 
Diese müssen durch zusätzliche 
Annahmen der Realität von Märkten und Wahlen angenähert werden.
 
Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die verschiedensten Teilkollektive 
(Gemeinschaften, Organisationen) existieren, mit denen sich die Individuen 
identifizieren und von denen sie oft auch abhängig sind.
Auch hier sind empirische Untersuchungen nötig, um zu klären, ob die theoretisch 
gewonnenen Begriffe wie "Mehrheitsalternative" oder "Gleichgewicht der 
Koalitionsbildung"  in der Realität identifiziert werden können, und ob die 
Schlussfolgerungen aus dem Modell der Realität entsprechen. Ein Beispiel hierfür 
ist die Prüfung, ob im Falle des Fehlens einer Mehrheitsalternative aufgrund 
zirkulärer Mehrheiten Instabilität eintritt oder ob solche Situationen z. B. per 
Konsens geregelt werden. 
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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Ein Nachwort nach 30 Jahren" / Letzte Bearbeitung 
28.09.2009 / Eberhard Wesche