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Die Notwendigkeit der Normsetzung
Argumente für die Grenzen der Argumentation.
Wenn man einen allgemeinen Konsens 
über normative Fragen herstellen wollte, so wäre der entstehende 
Aufwand für 
Informationsbeschaffung, Informationsaustausch und Entscheidungsfindung 
immens. Hinzu kommt, dass sich die Dinge im Zeitverlauf ändern, dass die 
erhobenen Daten also veralten und 
dass dadurch die Ergebnisse der Entscheidungsfindung bereits überholt sind, wenn 
man sie schließlich anwenden will. 
Es ist unmöglich, für alle zukünftigen Situationen schon 
heute geeignete inhaltliche Handlungsregeln 
aufzustellen. Selbst bei der  Formulierung einer Norm, die das Töten 
verbietet, sind zahlreiche Ausnahmesituationen zu berücksichtigen (Notwehr, 
Krieg, Todesstrafe, Tötung auf Verlangen etc.). Deshalb müssen viele Regelungen 
gewissermaßen "vor Ort"   
anhand von aktuellen Informationen über die konkrete Situation getroffen werden. Dies 
gilt vor allem bei Normen, die das Zusammenwirken von Menschen bei der Erzeugung 
von Gütern betreffen. 
Aus der Diskussion, dem Austausch von Argumenten, ergeben 
sich nicht immer definitive 
Antworten. Nicht umsonst spricht man vom "Streit der Gelehrten, der noch 
endlos gehen kann". Menschliches Wissen ist begrenzt und nicht immer vollkommen gewiss. Deshalb 
können mehrere unterschiedliche Antworten rational vertretbar sein. Außerdem 
können neue Argumente auftauchen, die eine Korrektur der 
bisherigen Erkenntnisse erfordern. Damit wird ein bereits erreichter 
Konsens wieder in Frage gestellt.
Wo es aber um soziale Koordination, um Kooperation, um langfristige Pläne und deren sichere 
Verwirklichung geht, bedarf es definitiver, für alle Beteiligten 
verbindlicher Festlegungen. Dies kann der Diskurs allein nicht 
leisten. 
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der auf Konsens ausgerichtete Diskurs durch 
Normsetzungsverfahren ergänzt werden muss, die innerhalb 
begrenzter Zeit und  mit einem angemessenen Aufwand an 
Informations- und  Entscheidungskosten verbindliche Entscheidungen 
erzeugen und Normen setzen. Beispiele für 
Normsetzungsverfahren sind: Wahlen und Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip, 
das Vetorecht, das Eigentumsrecht,  das Versprechen, der Vertrag, die 
Befehlsgewalt, die 
Bevollmächtigung von Vertretern, die elterliche Erziehungsgewalt 
oder Zufallsverfahren wie der Losentscheid. 
Damit eine Norm eine soziale 
Verbindlichkeit bekommt, muss sie "in Kraft gesetzt"   werden. d. h. es bedarf 
eines deutlichen normsetzenden Aktes. 
Dies wird besonders deutlich bei vorwiegend koordinierenden Normen. Hier sind 
die Alternativen manchmal gleichwertig, wie z. B.'rechts fahren' oder 'links fahren'.
Ohne einen besonderen Akt der Normsetzung bleibt die 
Situation chaotisch, da nicht entschieden ist, welche der gleichwertigen  
Alternativen nun gilt. Dies lässt sich nicht durch Erkenntnis bestimmen sondern 
es 
bedarf einer Handlung, eines normsetzenden Aktes, in dem z. B. bestimmt wird: "Es gilt ab Zeitpunkt t auf dem Gebiet g das Rechtsfahrgebot."   
Man kann die Zukunft nur 
verlässlich planen, wenn man sich darauf verlassen kann, dass die andern 
Individuen in einer bestimmten Weise handeln. Dies erfordert, dass sie sich verpflichten, 
zukünftig in einer 
bestimmten Weise zu handeln, auch wenn sie in der Zwischenzeit zu neuen 
Einsichten kommen oder andere Interessen entwickeln. Wenn jeder nur nach seinen 
aktuellen Überzeugungen handeln würde, gäbe es ein Chaos.
Wenn ich aber für die Zukunft keine Planungssicherheit habe, dann werde ich mir 
auch keine langfristigen Ziele setzen, weil völlig ungewiss ist, ob ich diese erreichen kann. Ein konkretes Beispiel: Ich werde 
nur dann im Frühjahr säen, wenn ich darauf vertrauen kann, dass ich im Herbst 
ernten kann. Das setzt voraus, dass andere mein Recht an der Ernte  respektieren und nicht in Frage stellen. 
Die Ebene der Theorie (Diskussion um Wahrheit, Richtigkeit, Allgemeingültigkeit) 
und die Ebene der Praxis (Setzung von Normen und Entscheidungen als allgemein 
verbindlich) müssen sorgfältig unterschieden werden. Normsetzungsverfahren 
befinden sich auf der Ebene der Praxis, wo es nicht nur um Wahrheit geht, 
sondern wo auch zeitliche Beschränkungen sowie Informations- und Entscheidungskosten eine 
Rolle spielen. Die Ebene der 
Wahrheitssuche und die Ebene der Entscheidungen gehen nicht bruchlos 
ineinander über sondern sie verbleiben in einem Spannungsverhältnis.
Für Normsetzungsverfahren stellt sich ebenfalls die Frage, ob sie konsensfähig sind, 
ob sie also von 
jedem verständigen Individuum zwanglos akzeptiert werden können. 
Die Beurteilung eines Normsetzungsverfahren hängt vor allem 
davon ab, ob die dadurch gesetzten Normen inhaltlich akzeptabel sind. 
Gewalt und legitimer Zwang
Auch 
das bestgeeignete Normsetzungsverfahren kann "falsche"   
Normen hervorbringen. Man gerät dann in das Dilemma des 
Demokraten, der sagt: "Ich respektiere die Entscheidung der 
Mehrheit als für mich verbindlich, auch wenn ich sie 
inhaltlich für katastrophal halte."   Um ein Gewaltverhältnis würde es sich allerdings dann handeln, wenn für 
das angewandte  Normsetzungsverfahren nicht die Konsensfähigkeit 
beansprucht wird. 
Im Unterschied zur Argumentation entscheidet eine Abstimmung nicht über "Wahrheit"   oder "Richtigkeit". Hier wird 
durch ein formales Entscheidungsverfahren eine Norm als verbindlich gesetzt, 
gerade weil unterschiedliche inhaltliche Überzeugungen fortbestehen. Dass eine Position 
überstimmt wird, heißt folglich nicht, dass sie falsch ist. 
Wenn jemand im Falle eines Konfliktes das Streben nach einem argumentativen 
Konsens aufgibt, dann kann er seine Lösung des Konfliktes dem anderen gegenüber 
nicht mehr "vernünftig" begründen. Wenn er sie trotzdem durchsetzt, so beruht 
sie für den andern auf reiner Gewalt. Damit scheint es für eine  
Konfliktlösung nur die Alternativen Konsens oder pure Gewalt zu geben. 
Aber es gibt 
auch legitime Gewalt, die nicht auf einem 
erreichten Konsens beruht, z. B. die mit staatlichen Sanktionsmöglichkeiten 
ausgestattete, nach dem Mehrheitsprinzip entscheidende gesetzgebende Gewalt des 
Parlaments.
Die 
Verbindlichkeit eines Gesetzes, das vom Parlament mehrheitlich 
beschlossen wird, muss nicht einhergehen mit der inhaltlichen 
Konsensfähigkeit  dieses Gesetzes. Obwohl hier die 
Befolgung einer nicht konsensfähigen Norm verlangt wird, 
handelt es sich nicht um ein reines Gewaltverhältnis. 
Man muss also zwischen verschiedenen Formen von "Gewalt"   unterscheidet. Wenn das 
herrschende Normensystem gegenüber bestimmten  Individuen nicht 
argumentativ gerechtfertigt werden kann, so handelt es sich für diese Individuen 
um ein "Gewaltverhältnis". 
Diese "Gewalt"   ist zu unterscheiden vom argumentativ begründbaren, also 
gerechtfertigten Zwang, 
wie er z. B. zur  Durchsetzung der konsensfähigen Normen 
notwendig ist  (Bestrafung von Normverstößen).  (Im herrschenden 
juristisch beeinflussten Sprachgebrauch spricht man allerdings von "Staatsgewalt", "Gewaltmonopol", "Gewaltenteilung", auch wenn es sich dabei um "legitimen Zwang"   im oben definierten Sinne handelt). Auch die auf einem 
als möglich erachteten argumentativen Konsens beruhende Ordnung benötigt zu ihrer Durchsetzung 
Zwangsmittel. 
*****
Siehe auch 
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Normativer Diskurs und verbindliche Normen *** (93 K) 
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Letzte Bearbeitung 03.10.2007 / Eberhard Wesche
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