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Abstimmungsverfahren und Koalitionsbildung
Die Mehrheitsalternative als Gleichgewichtspunkt aller gleichgewichtigen Wahlverfahren
Eine frühere Version dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel "Die 
      'unsichtbare Hand' in der Demokratie"   in G. Göhler (Hg.): Politische 
		Theorie, S. 77-84, Klett-Cotta Verlag, 1978.
      
      
      
	  Inhalt:
      
      Die "unsichtbare Hand"   in 
      der Marktwirtschaft
      Der Gleichgewichtspunkt in Mehrheitsabstimmungen
      
      Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse
      
      Anmerkungen
      
      
      
      
	  
Einleitung: Die "unsichtbare Hand" in der Marktwirtschaft
      
      In der Geschichte der ökonomischen Theorie spielt das 
      Theorem von der "unsichtbaren Hand" eine große Rolle, die unter 
      Bedingungen vollkommener Konkurrenz das eigeninteressierte Handeln der 
      privaten Eigentümer auf einen Gleichgewichtszustand lenkt, der zugleich 
      ein optimaler Zustand im normativen Sinne ist. 
      
      Diese schon bei Adam Smith1) angedeutete Rechtfertigung einer privaten 
      Marktwirtschaft wurde später in der Paretianischen Wohlfahrtsökonomie 
      präzisiert und systematisch dargestellt2). Danach führt unter bestimmten 
      Voraussetzungen das eigeninteressierte Verhalten von profitmaximierenden 
      Unternehmen und nutzenmaximierenden Haushalten im idealen Konkurrenzmodell 
      zu einem Gleichgewichtszustand mit pareto-optimaler Produktion und 
      Verteilung3). Als pareto-optimal gilt dabei ein Zustand dann, wenn zu ihm 
      keine Alternative existiert, bei der zumindest ein Individuum besser 
      gestellt wird und zugleich kein anderes Individuum schlechter gestellt 
      wird.
      Ohne dass auf die Kritik an dieser ökonomischen Rechtfertigungstheorie 
      hier eingegangen werden kann, die bereits am paretianischen 
      Optimalitätskriterium selber anzusetzen ist4), soll im Folgenden gezeigt 
      werden, dass ein analoger Mechanismus in Form einer "unsichtbaren Hand"   
      auch in demokratischen Abstimmungsverfahren wirksam ist, insofern auch 
      hier das eigeninteressierte Abstimmungsverhalten der Wähler zu einem 
      Ergebnis führt, das unter bestimmten Voraussetzungen als Ausdruck des 
      Gesamtinteresses angesehen werden kann. 
      
      Wenn dies richtig ist, so ist es nicht erforderlich, dass die Individuen 
      in den Abstimmungen ein Urteil über das Gesamtinteresse abgeben, sondern 
      es genügt, wenn jeder nur seine eigenen Interessen durch seine Stimmabgabe 
      ausdrückt. 
      
      Im Folgenden soll nun anhand des Prinzips der relativen 
      Mehrheit modellhaft dargestellt werden, wie diese Zusammenfügung der 
      individuellen Interessen zu einem Gesamtinteresse in demokratischen 
      Abstimmungsverfahren verläuft.
Der Gleichgewichtspunkt in Mehrheitsabstimmungen
Zur Veranschaulichung soll ein einfaches Beispiel 
      gewählt werden, bei dem 5 Individuen A, B, C, D und E über die 3 
      Alternativen x, y und z abstimmen. Als kollektiv gewählt gilt diejenige 
      Alternative, die die meisten Stimmen - also mehr als irgendeine andere - 
      erhält.
      
      Die Präferenzen jedes Individuums hinsichtlich der zur Entscheidung 
      stehenden Alternativen lassen sich dabei durch eine entsprechende 
      Rangfolgen der Alternativen ausdrücken. 
      
      In der folgenden Tabelle sind für 5 Individuen deren mögliche 
      Interessenlagen in Form solcher Präferenz-Rangordnungen dargestellt, wobei die 
      Alternativen in der Rangfolge, wie sie dem Interesse des jeweiligen 
      Individuums entsprechen, untereinander geschrieben wurden: 
| 
			 A  | 
            
			 B  | 
            
			 C  | 
            
			 D  | 
            
			 E  | 
          |
| 
			 1. Rang  | 
            
			 x  | 
            
			 y  | 
            
			 z  | 
            
			 y  | 
            
			 z  | 
          
| 
			 2. Rang  | 
            
			 y  | 
            
			 z  | 
            
			 x  | 
            
			 x  | 
            
			 y  | 
          
| 
			 3. Rang  | 
            
			 z  | 
            
			 x  | 
            
			 y  | 
            
			 z  | 
            
			 x  | 
          
Tabelle 1
In diesem willkürlich gewählten Beispiel entspricht z. B. die Alternative 
      y den Interessen des Individuums D am besten. Die Alternative z nimmt bei 
      D den letzten Rangplatz ein und ist für D die schlechteste Möglichkeit.
Die Frage ist nun, welche Alternative sich angesichts 
      einer solchen Konstellation der individuellen Interessen bei einer 
      Abstimmung nach dem relativen Mehrheitsprinzip durchsetzt, wenn jedes 
      Individuum bei der Abstimmung nur seinem Eigeninteresse – ausgedrückt 
      durch seine Präferenzrangfolge der Alternativen – folgt und die 
      Präferenzrangfolgen aller Individuen allen Beteiligten bekannt sind.
      
      Dabei ist vorweg zu klären, was unter einem "eigeninteressierten 
      Abstimmungsverhalten"   zu verstehen ist. Auf den ersten Blick könnte man 
      meinen, dass jedes Individuum für diejenige Alternative stimmt, die seiner 
      Interessenlage am besten entspricht, dass also z. B. Individuum A für 
      seine Spitzenalternative x stimmt. Tatsächlich wäre ein solches "aufrichtiges" Abstimmungsverhalten jedoch nicht in A's Interesse, da 
      angesichts der Interessenlage der übrigen Individuen die Alternative x 
      keine Chance auf die Erlangung einer relativen Mehrheit besitzt und die 
      Stimme für x damit "verloren"   wäre. 
      
      Wenn jedoch nur y und z eine Aussicht auf die Erringung der relativen 
      Mehrheit haben, so ist es für A am vorteilhaftesten, seine Stimme für die 
      Alternative y abzugeben, die für A immer noch besser ist als die 
      Alternative z.
      
      Tatsächlich bildet die Alternative y im vorliegenden Fall den 
      Gleichgewichtspunkt, auf den hin das Abstimmungsergebnis tendiert, sofern 
      vorausgesetzt wird, dass alle Individuen über die Interessenlage aller 
      Beteiligten informiert sind und dass jedes Individuum diejenige 
      Abstimmungsstrategie wählt, die für es selber am vorteilhaftesten ist. 
      
      Es lässt sich zeigen, dass in jedem Fall, wo eine andere Alternative als y 
      die relative Mehrheit erhält, mindestens ein Individuum nicht "rational", 
      also nicht den eigenen Interessen entsprechend abgestimmt hat. 
      
      Hätten z. B. die Individuen A, C und E für x gestimmt, so dass x mit 3:2 
      Stimmen die relative Mehrheit gegenüber y erhält, so hätte Individuum E 
      nicht seinem Eigeninteresse gemäß abgestimmt. Denn hätte E für die 
      Alternative y gestimmt, so wäre die Alternative y erfolgreich gewesen, die für E besser 
      ist als x.
      
      Dass im vorliegenden Beispiel die Alternative y den Gleichgewichtspunkt 
      der Abstimmung darstellt, hängt damit zusammen, dass es sich bei y um die 
Mehrheitsalternative handelt. Die "Mehrheitsalternative", die auch als 
"Condorcet Winner" bezeichnet wird, ist dadurch definiert, 
dass sie im paarweisen Vergleich mit jeder anderen Alternative mehr Stimmen 
erhält als diese5). 
      
      In unserem Beispiel gibt es 3 mögliche Paarvergleiche mit den folgenden 
      Abstimmungsergebnissen: 
    x gegen y -> 2:3         x gegen z -> 3:2         y gegen z -> 
      3:2.
      
Die Alternative y ist also den beiden übrigen 
      Alternativen x und z im Paarvergleich überlegen und ist somit die 
      Mehrheitsalternative.  
      
      Das Bemerkenswerte an diesem Ergebnis ist, dass sich unter der 
      Voraussetzung der Transparenz aller Interessen und eines 
      eigeninteressierten Abstimmungsverhaltens aller Individuen die 
      Mehrheitsalternative y als erfolgreich erweist, obwohl über die 
      Alternativen gar nicht paarweise abgestimmt wurde, sondern nur ein 
      einmaliger Wahlgang nach der Regel der relativen Mehrheit vorgenommen wurde.
      
      Es ist jedoch keineswegs zufällig, dass sich in unserem Beispiel bei 
      Anwendung des relativen Mehrheitsprinzips die Mehrheitsalternative als 
      Gleichgewichtspunkt des Abstimmungsprozesses ergibt. Wie sich zeigen 
      lässt, gilt das gleiche für alle Abstimmungsverfahren, die den 
      Präferenzordnungen der Individuen gleiches Gewicht beimessen6). Insofern 
      sich in jedem Fall  eine vorhandene7) 
      Mehrheitsalternative durchsetzt, kann man hier auch von einem
"Äquivalenztheorem"   für alle individuell 
      gleichgewichtigen Wahlverfahren sprechen.
      
      Dies Äquivalenztheorem lässt sich am einfachsten negativ beweisen, indem 
      gezeigt wird, dass immer dann, wenn anstatt einer vorhandenen 
      Mehrheitsalternative m irgendeine andere Alternative x erfolgreich ist, 
      zumindest eines der Individuen nicht die für sich günstigste 
      Abstimmungsstrategie gewählt haben muss: 
      
      Da eine Mehrheitsalternative m bei Abstimmungen gegenüber jeder anderen Alternative die 
      Mehrheit der Stimmen erhält, so muss auch die Anzahl derjenigen Individuen, die m 
      gegenüber irgendeiner beliebigen Alternative x vorziehen, größer sein als 
      die Zahl derjenigen, die umgekehrt x gegenüber m vorziehen.
       
      Wenn jedoch jedes Individuum einen gleichgewichtigen Einfluss auf die 
      Entscheidung besitzt, so haben die Befürworter von m aufgrund ihrer 
      zahlenmäßigen Überlegenheit immer die Möglichkeit, mit ihrem größeren 
      Gewicht anstelle von x die von 
      ihnen vorgezogene Alternative m durchzusetzen.
      
      Für die normative Beurteilung von Abstimmungsverfahren ist das oben 
      entwickelte Äquivalenztheorem nicht unerheblich, denn es 
      lässt die 
      Abstimmungspraxis demokratischer Gremien in einem neuen Licht erscheinen. 
      So wird vor diesem Hintergrund verständlich, warum so häufig das relative 
      Mehrheitsprinzip Anwendung findet, obwohl es bei einem "aufrichtigen"   
      Abstimmungsverhalten aller Individuen zu kaum akzeptablen Ergebnissen führt, vor 
      allem bei einer relativ großen Zahl von Alternativen8). 
      
      Weiterhin wird verständlich, warum gewöhnlich Diskussionen, Verhandlungen 
      oder Zwischen- bzw. Probeabstimmungen der endgültigen Abstimmung 
      vorgeschaltet sind, denn sie geben nicht nur die Gelegenheit zu besserer 
      Information über die zur Entscheidung anstehenden Alternativen, sondern 
      sie sind auch Voraussetzung für die Information über die Interessenlage 
      der Beteiligten. Erst diese Information ermöglicht  eine 
      eigeninteressierte, rationale Koalitionsbildung und Abstimmungsstrategie.
      
      Mit Hilfe des Äquivalenztheorems erledigt sich auch ein weiteres Problem, 
      das bei der normativen Beurteilung von Abstimmungsverfahren meist eine 
      erhebliche Schwierigkeit bildete. 
      
      Um etwa eine vorhandene Mehrheitsalternativ durch paarweise Abstimmungen 
      zwischen den Alternativen zu ermitteln, wurde bisher vorausgesetzt, dass 
      alle Individuen gemäß ihren tatsächlichen Interessen bzw. 
      Präferenzordnungen "aufrichtig"   abstimmen und darauf verzichten, durch 
      geschicktes Abstimmungsverhalten ein für sich selber vorteilhafteres 
      Abstimmungsergebnis zu erzielen. Die Durchsetzung einer derartigen "Abstimmungsmoral"   ist jedoch bei geheimer Abstimmung nicht möglich9). 
      
      Angesichts des Äquivalenztheorems ist eine derartige Kontrolle des 
      Eigeninteresses aber auch überflüssig, denn wie gezeigt wurde, führt gerade 
      das eigeninteressierte Abstimmungsverhalten der Individuen bei Information 
      über die Präferenzen der andern Abstimmungsberechtigten zum Resultat der 
      Mehrheitsalternative.
      
      Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass es angesichts des 
      Äquivalenztheorems müßig erscheint, nach noch ausgeklügelteren 
      Abstimmungsverfahren zu suchen, denn aufgrund des eigeninteressierten 
      Abstimmungsverhaltens der Individuen ist bereits beim leicht 
      durchzuführenden relativen Mehrheitsprinzip die Durchsetzung der 
      Mehrheitsalternative möglich. Auch ein komplizierteres Verfahren könnte 
      hier kein besseres Ergebnis erbringen10).
Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse
      Die bisherigen Ausführungen haben den Nachweis erbracht, dass - unter den 
      genannten Voraussetzungen - in demokratischen Abstimmungen eine "unsichtbare Hand"   wirksam ist, die das eigeninteressierte 
      Abstimmungsverhalten der Individuen auf die Durchsetzung des 
      Gleichgewichtspunktes in Form einer vorhandenen Mehrheitsalternative 
      lenkt. 
      
      Offen bleibt jedoch noch die Frage, ob es sich dabei um eine "wohltätige"   
      Hand handelt. Es bleibt also noch die Frage zu beantworten, 
      inwiefern die 
      Mehrheitsalternative als Ausdruck des Gesamtinteresses angesehen werden 
      kann11). 
      
      Dies setzt voraus, dass ein "Gesamtinteresse"   als allgemeingültiges 
      normatives Kriterium bestimmt werden kann. Ein Versuch zur Lösung dieser 
      grundlegenden Problematik jeder Sozialethik habe ich an anderer Stelle 
      unternommen12), so dass hier eine grobe Skizzierung der Ergebnisse 
      genügen soll.
      
      Um als Kriterium für die normative Gültigkeit kollektiver Normen oder 
      Entscheidungsregeln gelten zu können, sind m. E. bei der Bestimmung des 
      Gesamtinteresses zwei Prinzipien zu berücksichtigen:
      
      1. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit von Behauptungen steht und fällt 
      mit der argumentativen Konsensfähigkeit dieser Behauptungen13). Dies 
      gilt auch für normative Behauptungen, wie z. B. die Bestimmung eines 
      allgemeingültigen Gesamtinteresses. 
      (Intersubjektivitätsprinzip).
      
      2. Ein argumentativer Konsens in Bezug auf das Gesamtinteresse lässt 
      sich nur dann erreichen, wenn jedes Individuum die Interessen jedes 
      anderen solidarisch so berücksichtigt, als wären es zugleich seine eigenen14) (Solidaritätsprinzip).
      
      Um angesichts eines Interessenkonflikts zu einem argumentativen Konsens 
      zu gelangen, ist es demnach erforderlich, dass jedes Individuum nicht nur 
      seine eigenen Interessen berücksichtigt, sondern dass es sich zugleich in 
      die Lage der Anderen hineinversetzt und die Entscheidung unparteiisch 
      auch aus deren Sicht beurteilt15). 
      
      Da sich die Begründung dieser ethischen Position hier nicht leisten lässt, 
      sei das Prinzip der unparteiischen Interessenberücksichtigung hier nur als 
      eine bewusste normative Setzung eingeführt, so dass auch ein Positivist 
      keine methodischen Bauchschmerzen bei der nachfolgenden Erörterung haben 
      muss. Diese ist damit rein analytisch und kommt ohne weitere normative 
      Behauptungen aus. Ihre Ergebnisse gelten nur für denjenigen, der das 
      ethische Prinzip der unparteiischen Interessenberücksichtigung akzeptiert.
      
      Wie verhält sich nun die Mehrheitsalternative zu einem derartigen 
      solidarisch bestimmten Gesamtinteresse? Welche Stärken und Schwächen hat 
      das demokratische Mehrheitsprinzip gemessen an diesem Kriterium normativer 
      Allgemeingültigkeit?
      
      Zum einen impliziert das skizzierte Solidaritätsprinzip, dass
      das Gesamtinteresse aufgrund der individuellen 
      Interessen bestimmt wird. Dies wird durch das Mehrheitsprinzip 
      erfüllt, denn die kollektive Entscheidung ist allein von der Stimmabgabe 
      der Individuen abhängig16). 
      
      Allerdings wird die Bestimmung der individuellen 
      Interessen durch die betreffenden Individuen selber vorgenommen. 
      Ein solches rein subjektives Verfahren ist jedoch keineswegs 
      selbstverständlich, wie schon die Tatsache zeigt, dass in der Regel 
      Kindern oder Geisteskranken das Stimmrecht nicht gewährt wird. 
      
      Die Berechtigung einer subjektiven Selbsteinschätzung der individuellen 
      Interessen steht und fällt aber mit der Beantwortung der Frage, inwiefern 
      die Individuen tatsächlich über ihre eigene Interessenlage aufgeklärt sind 
      und selber am besten beurteilen können, was für sie gut ist. Dies Problem 
      drückt sich in der gängigen Formel aus, dass die Demokratie den mündigen 
      Bürger voraussetzt, der also nicht durch Erziehungsinstitutionen oder 
      Massenmedien "manipuliert"   sein darf17). 
      
      In dem Maße, wie die sozialen und psychischen Bedingungen der Aufklärung 
      für die Individuen nicht gegeben sind, wird fraglich, ob ein Abstimmungsergebnis 
      dem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse entspricht.
      
      
      Weiterhin müssen unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen 
      Interessenberücksichtigung alle von einer Entscheidung betroffenen 
      Individuen mit ihren Interessen einbezogen werden. Insofern es also 
      betroffene Individuen gibt, die bei der Entscheidung nicht 
      abstimmungsberechtigt sind, wird die Mehrheitsentscheidung ethisch 
      problematisch. Ein solcher Fall ergibt sich etwa bei 
      Abstimmungsentscheidungen mit sehr langfristigen Konsequenzen, bei denen 
      zukünftige Generationen in ihren Lebensbedingungen zwar stark betroffen 
      sind, aber aus naturgegebenen Gründen ihre Interessen in der Abstimmung 
      nicht selber artikulieren können.
      
      Selbst wenn die beiden bisher angesprochenen Probleme befriedigend gelöst 
      werden könnten, könnte man trotzdem nur unter bestimmten einschränkenden 
      Voraussetzungen von einer solidarischen Interessenberücksichtigung durch 
	  das 
      Mehrheitssystem sprechen. 
      
      Zwar gehen bei der Bestimmung der Mehrheitsalternative alle Individuen mit 
      gleichem Gewicht in die kollektive Entscheidung ein, so dass keine 
      Individuen oder Gruppen prinzipiell bevorzugt werden. Es spielt dabei auch 
      keine Rolle, von welchem Individuum eine bestimmte Stimme kommt, so dass 
      auch eine anonyme Stimmabgabe möglich wäre18). 
      
      Allerdings ist Gleichgewichtigkeit der Individuen nicht mit solidarischer 
      Berücksichtigung der individuellen Interessen gleichzusetzen, da eine 
      möglicherweise unterschiedliche Dringlichkeit bzw. Gewichtigkeit der 
      individuellen Interessen nicht berücksichtigt wird, wie die folgende 
      Überlegung zeigt.
      
      Die Mehrheitsalternative ist dadurch charakterisiert, dass sie 
      gegenüber jeder anderen Alternative im Paarvergleich von einer Mehrheit 
      vorgezogen wird. Dabei spielt also nur eine Rolle, ob eine Alternative für 
      das betreffende Individuum besser ist oder nicht. 
      
      Es wird jedoch nicht berücksichtigt, um wie viel 
      eine Alternative im Vergleich besser ist. Die Interessen der 
      Individuen werden nur als Rangordnungen von Alternativen erfasst, wobei 
      der interessenmäßige Abstand zwischen den Alternativen nicht 
	  berücksichtigt wird19).
      
      Durch diese Beschränkung auf ein ordinales Messniveau bei der Bestimmung der 
      individuellen Werte bleibt eine  
      unterschiedliche Dringlichkeit der Interessen unberücksichtigt.
      
      Dies ist unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen 
      Interessenberücksichtigung jedoch problematisch, denn diese verlangt, 
      fremde Interessen bei der Bestimmung des Gesamtinteresses so zu 
      berücksichtigen als seien es die eigenen. 
      
      Bei der isolierten eigenen Entscheidung berücksichtigt man jedoch selbstverständlich 
      unterschiedliche Dringlichkeiten von Interessen, was z. B. dann deutlich 
      wird, wenn mehrere Einzelentscheidungen zu einer einzigen 
      Gesamtentscheidung zusammengefasst werden und die wichtigeren 
      Entscheidungen den Ausschlag bei der Gesamtentscheidung geben
      
      Wie schwerwiegend ist nun dieser ethische Einwand gegen das 
      Mehrheitsprinzip? Unter welchen Bedingungen kann man dann noch davon 
      ausgehen, dass die Mehrheitsalternative zugleich diejenige Alternative 
      ist, die einem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse zumindest annähernd  
      entspricht? 
      
      Die bloße Tatsache, dass Individuen unterschiedlich stark von einer 
      Entscheidung betroffen sind, muss noch keine Probleme aufwerfen, sofern 
      sowohl bei der Mehrheit als auch bei der Minderheit starke und schwache 
      Betroffenheit der Individuen vorkommt und die durchschnittliche 
      Betroffenheit bei beiden Gruppen ungefähr gleich ist. 
      
      Unproblematisch ist es 
      ebenfalls, wenn die Mehrheit stärker betroffen ist als die Minderheit. 
      
      Nur in dem Fall, bei dem die Minderheit von der 
      Entscheidung durchschnittlich stärker betroffen ist als die Mehrheit, 
      müssen sich Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse nicht mehr decken.
      
      
      Dabei ist die Mehrheitsentscheidung in diesem Fall ethisch umso 
      problematischer, je knapper die zahlenmäßige Überlegenheit der Mehrheit 
      ist20). Ein solcher Fall liegt etwa vor, wenn die Bevölkerung eines 
      Landes mehrheitlich eine Entscheidung fällt, die für die Bewohner einer 
      bestimmten Region, die sich in der Minderheit befinden, mit schweren 
      Nachteilen verbunden ist. 
      
      In derartigen Fällen sehr ungleicher Betroffenheit der Individuen von der 
      Entscheidung ist der Gleichgewichtspunkt in Form der Mehrheitsalternative 
      kein geeigneter Ausdruck für ein solidarisch bestimmtes Gesamtinteresse, 
      so dass Regelungen getroffen werden müssen, um die starken Unterschiede in 
      der Betroffenheit möglichst auszuschließen bzw. auszugleichen. 
      
      Eine von vielen Möglichkeiten hierzu ist die Abgrenzung dezentraler 
      Entscheidungsbereiche, in denen nur die jeweils davon stärker betroffenen 
      Individuen abstimmungsberechtigt sind, etwa durch die Einrichtung 
      regionaler Selbstverwaltungseinheiten.
      
      Fazit dieser Überlegungen ist, dass der Gleichgewichtspunkt in Form der 
      Mehrheitsalternative nur unter den genannten einschränkenden Bedingungen 
      als geeigneter Ausdruck eines solidarisch bestimmten Gesamtinteresses 
      angesehen werden kann. Deshalb kann das Wirken der "unsichtbaren Hand"   in 
      demokratischen Abstimmungsverfahren auch nur unter diesen Bedingungen als "wohltätig"   angesehen werden.
       
      
      Anmerkungen
      
      
      (1) Vgl. dazu auch M. Blaug, Economic Theory in Retrospect. London 1968, 
      S. 58f.
      (2) Eine Darstellung gibt D.M. Winch, Analytical Welfare Economics. 
      Harmondsworth 1971.
      (3) Anzumerken ist, dass es sich dabei um eine statische Analyse handelt, 
      bei der von dynamischen Aspekten des Zeitablaufs abstrahiert wird.
      (4)  Vgl. dazu z. B. A.K. Sen, Collective Choice and Social Welfare. San 
      Francisco u. a. 1970, S. 22 oder J. Rawls, A Theory of Justice. London u.a. 
      1973, S. 70f.
      
      (5)  Vgl. dazu Duncan Black: The Theory of Committees and Elections. 
      London 1971, S. 57.
      (6)  Individuell gleichgewichtige Abstimmungsverfahren sind dadurch 
      gekennzeichnet, dass jedes Individuum eine gleich große Anzahl von Stimmen 
      je Wahlgang zu vergeben hat. Zufallsverfahren sind nicht in diesem Sinne 
	  "gleichgewichtig", weil ein Zufallsergebnis überhaupt nicht aus den 
	  Rangordnungen der Individuen abgeleitet wird.
      (7)  Es muss jedoch nicht immer eine derartige Mehrheitsalternative 
      vorhanden sein. Zur Problematik derartig zirkulärer Mehrheiten vgl. Sen 
      1970, S. 163ff.
      (8)  Vgl. dazu z. B. Black 1971, S. 68.
      (9)  Man vergleiche z. B. einmal die Überlegungen bei 
      Dodgson: "A Method of Taking Votes on More than Two Issues"   in: Black 
      1971, S. 232ff.
      (10)  Eine Analyse unterschiedlicher Abstimmungsverfahren in diesem 
      Sinne findet sich in Black 1971.
      (11)  Insofern die Fragen nach dem Gleichgewichtspunkt und nach dem 
      Gesamtinteresse auf unterschiedlichen Erkenntnisebenen liegen, bleiben die 
      Ergebnisse hinsichtlich des Gleichgewichtspunktes in ihrer Geltung 
      unberührt von den folgenden sozialethischen Überlegungen.
      (12)  Diese Konzeption eines solidarisch bestimmten Gesamtinteresses ist 
		dargestellt in E. Wesche: Zur Methodologie der normativen 
		Sozialwissenschaften. Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - 
		Gesamtinteresse, § 53f., Dissertation Berlin 1976 (In dieser Website 
		verfügbar
		hier.)
      (13)  Zur argumentativen Konsensfähigkeit als Kriterium für die 
      Allgemeingültigkeit normativer Behauptungen vgl. J. Habermas: 
      Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, S. 148, P. 
      Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1974, S. 35, 
      sowie K.-0. Apel: Transformation der Philosophie 2. Bd. Frankfurt a. M. 
      1973, S. 420f.
      (14)  Einem derartigen Solidaritätsprinzip verwandte Prinzipien 
      werden in der Geschichte der Ethik verschiedentlich formuliert. Zu nennen 
      wäre vor allem Leonard Nelson, dessen "Abwägungsgesetz"   lautet: "Handle 
      nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, 
      wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären."   L. 
      Nelson: Kritik der praktischen Vernunft. Göttingen 1916, S. 133.
      (15)  Dabei kann jedoch die Frage, wie dies möglich ist und wie man fremde 
      Interessen kennen und mit den eigenen Interessen vergleichen kann, noch 
      keineswegs als gelöst angesehen werden. Wichtige Überlegungen zu einem 
      derartigen 'interpersonalen Nutzenvergleich' finden sich in J. C. Harsanyi: "Cardinal Welfare, Individualistic Ethics, and Interpersonal Comparisons 
      of Utility", in: Journal of Political Economy, 63.(1955), S. 309-321.
      (16) Es werden also nicht bestimmte Entscheidungsalternativen unabhängig 
      vom Interesse der Individuen bevorzugt. Zum Beweis dieser "Neutralität"   
      der Mehrheitsregel gegenüber den Alternativen s. K.O. May: "A Set of 
      Independent, Necessary and Sufficient Conditions for Simple Majority 
      Decision"   in: Econometrica 20.(1952) S. 680-684.
      (17)  Zur Frage, was die Bedingungen der Aufklärung über die eigenen 
      Interessen sind und was als manipulative Verletzung dieser Bedingungen 
      anzusehen ist, s. Wesche 1976, Kap. 6
      (18) Zum Nachweis der Anonymitätseigenschaft der Mehrheitsregel vgl. May 
      1952.
      (19)  Zur Diskussion des Messniveaus in der Nutzentheorie vgl. G. Gäfgen: 
      Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. Tübingen 1968, S.144ff.
      (20)  Zur Problematik fehlender Berücksichtigung von Präferenzintensitäten 
      vgl. R. A. Dahl: A Preface to Democratic Theory. Chicago u. a. 1970, S. 90ff.
***
Siehe auch 
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   Das Mehrheitsprinzip, § 
120
   
Zirkuläre Präferenzen ** (10 K)
zum Anfang
      Alphabetische Liste aller Texte
Übersicht
      
      
Ethik-Werkstatt:
Ende der Seite "Abstimmungsverfahren und Koalitionsbildung"  
      Letzte Bearbeitung 03.01.2007 / 06.11.2012 / Eberhard Wesche
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