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Einzelinteresse und Gesamtinteresse
Teil I von:
Zur Methodologie der normativen Sozialwissenschaften.
Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse Teil I, 1976
Vorbemerkung: 
Der folgende Text enthält den ersten, philosophischen Teil meiner 
Dissertation 
aus dem Jahr 1976 mit dem Titel
"Zur Methodologie der normativen Sozialwissenschaften. Tauschprinzip - 
Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse." 
Teil I ist dort betitelt: "Allgemeine Grundlagen einer normativen Methodologie".
Im 
Klett-Cotta-Verlag erschien 1979 eine überarbeitete und gekürzte Fassung dieser Arbeit unter 
dem geänderten Titel:
    "Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse. Zur Methodologie 
normativer Ökonomie und Politik". 
Dieses Buch ist als PDF-Datei hier verfügbar. 
Diejenigen Paragraphen, die in der Buchfassung nicht enthalten sind, sind im 
folgenden Inhaltsverzeichnis mit einem grünen Sternchen(*) 
gekennzeichnet.
In dem vorliegenden Text geht es um die Möglichkeit, auf Fragen nach dem, was 
sein soll, allgemeingültige Antworten zu geben. 
Dazu muss ein Kriterium bestimmt 
werden, anhand dessen man über die Allgemeingültigkeit normativer Behauptungen entscheiden 
kann analog zum Wahrheitskriterium für empirische bzw. positive Aussagen.   
Das in diesem ersten Teil begründete Kriterium wird im Folgenden dann angelegt 
an:
       
Einstimmigkeits-Regeln und 
Status-quo-Klauseln ** (68 K)   (Teil II, Kapitel 12)
       
Das Modell der Marktwirtschaft. Darstellung und Kritik *** (239 K) 
(Teil II, Kapitel 13-17) und
       
Das Mehrheitsprinzip *** (349 K)  
(Teil III, Kapitel 17-24).
Die Fußnoten wurden in den Text eingearbeitet. Sie sind in eckige Klammern 
gesetzt und außerdem an der Kursivschrift zu 
erkennen. Die ursprünglichen Seitenzahlen wurden in geschweifte Klammern 
gesetzt und in den Fließtext eingearbeitet.
Zur Literaturliste am Ende von 
Teil III
***************************************************************************
Eberhard Wesche (1976):
 "Zur Methodologie der normativen 
Sozialwissenschaften. 
 
Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse."
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung Seite 1
Teil I: ALLGEMEINE GRUNDLAGEN EINER NORMATIVEN METHODOLOGIE 
1. Kapitel 
Die Notwendigkeit normativer Wissenschaft  
§ 1 Die Präzisierung der Fragestellung     Seite 9
§ 2 Die Relevanz der Fragestellung      
12
§ 3 Mögliche Einwände gegen den Versuch normativer 
Wissenschaft    
            1. 
Der positivistische Einwand     13
            2. 
Der subjektivistische Einwand    18
            3. 
Der deterministische Einwand    20*
            4. 
Der "realistische"   Einwand    22*
2. Kapitel
Der Streit um Normen und ihre Gültigkeit
§ 4 Normen und Werturteile als Willensinhalte    25
§ 5 Normen als Entscheidungen in Interessenkonflikten    34*
§ 6. Geltungsformen von Normen     37*
            1. Die Existenz einer Norm    37
            
2. Die Gültigkeit einer Norm    38
            3. Universale Gültigkeit und partikulare 
Rationalität von Normen    43
3. Kapitel
Das Intersubjektivitätsgebot der normativen 
Methodologie
§ 7 Das Intersubjektivitätsgebot     47
§ 8 Die Begründung des Intersubjektivitätsgebots    50*
§ 9 Beweggründe und Vernunftgründe    
52
§ 10 Möglichkeiten des Dialogs jenseits der Argumentation   
56*
§ 11 Das HOBBESsche "Friedensgebot"      58*
§ 12 Die monologische Auffassung von 
Gültigkeit    60
§ 13 De Berufung auf 
den Willen überindividueller Subjekte    62
§ 14 Pauschale 
Unmündigkeitserklärung und totaler Ideologieverdacht    
63
§ 15 Unzulässige 
Personalisierung der Auseinandersetzung    64
§ 16 Das Sanktionsverbot    66
§ 17 Das Begründungsgebot    68*
§ 18 Das Gebot des Bemühens um 
wechselseitige Verständlichkeit    70*
§ 19 Das Überredungsverbot    73
§ 20 Das Gebot der 
Öffentlichkeit    75*
§ 21 Die institutionelle 
Organisation von Argumentationen    78*
§ 22 Das Intersubjektivitätsgebot für alle eingebrachten 
Argumente    80*
§ 23 Unzulässige empirische Argumente    82*
§ 24 Unzulässige logische Schlüsse     85*
            1. 
Der naturalistische Fehlschluss    86*
            2. 
Der normative Essentialismus und die 
Verwirklichung des Wesens    87*
            3. 
Der normative Historizismus und die 
historische Notwendigkeit    91*
4. Kapitel
 Weitere Gesichtspunkte für die Auswahl von Normen
§ 25 Die Unzulässigkeit 
widersprüchlicher Normen    94*
§ 26 Die Notwendigkeit 
präziser und eindeutiger Normen     96*
§ 27 Die Notwendigkeit 
gehaltvoller Normen    98*
§ 28 "Sollen"   setzt "Können"   voraus     101*
5. Kapitel
Eigeninteresse und Verallgemeinerbarkeit als Kriterien der Gültigkeit 
 
§ 29 Konsensfähigkeit von Normen 
und Übereinstimmung der Eigeninteressen    104
             1. Die These 
vom Eigeninteresse aller an einer normativen Regelung     106
             2. 
Vertragstheorie und Übereinstimmung der Eigeninteressen    108
             3. Vertraglicher 
Konsens und Sanktionsverbot    111
§ 30 Konsensfähigkeit und Verallgemeinerbarkeit von 
Normen    115
         1. 
KANTs "Kategorischer Imperativ"   
   115
         2. Fehlende 
Anwendbarkeit sich selbst aufhebender Normen    119
         3. Die "Goldene Regel"     121
6. Kapitel
Das Solidaritätsprinzip
§ 31 Das Solidaritätsprinzip    
123
§ 32 Erläuterungen zum 
Solidaritätsprinzip    
125
§ 33 
Kein unmittelbares Kriterium des Handelns    130
§ 34 
Solidaritätsgebot und das Gebot der Personunabhängigkeit    132
§ 35 
Solidaritätsgebot und HAREs Prinzip der "Universalisierbarkeit"     134*
7. Kapitel
Die Zusammenfassung der individuellen Interessen zu einem 
Gesamtinteresse
§ 36 Allgemeines zur Nutzenbestimmung    140
            
1. Erläuterung der Nutzenterminologie     140
            
2. Anwendbarkeit und Akzeptierbarkeit des Nutzenmaßstabs    144a
§ 37 Kritik einer Beschränkung auf eine nur 
ordinale 
Nutzenmessung    145
            
1. Die Bestimmung der individuellen Nutzen durch Wahlhandlungen    145
            
2. Die Mängel ordinaler Nutzenmessung    147
            
3. ARROWs "Allgemeines Möglichkeits-Theorem"   
155
§ 38 Formale Aspekte der kardinalen Nutzenmessung    165
            
1. Nutzenmessung auf einer Intervall-Skala     
165
            
2. Die Wahl des Nullpunktes der Nutzenskala    
170
            
3. Die Bestimmung der 
Nutzeneinheit    172
            
4. Der Gesamtnutzen als Summe 
der individuellen Nutzen    
173
§ 39 Der interpersonale Nutzenvergleich    175
            
1."  Sich-Hineinversetzen in die Lage des andern"     
175
            
2. Interpersonaler Nutzenvergleich und Introspektion    
187
            
3. Möglichkeiten einer weiteren Konkretisierung der Nutzenmessung    
190
8. Kapitel
 Verfahren einer interpersonal vergleichbaren Nutzenmessung 
und ihre Kritik
§ 40 Präferenzschwellen als interpersonal vergleichbare 
Nutzeneinheiten    199*
§ 41 
Der spieltheoretische Nutzenbegriff     201*
§ 42 
Die Wahl der Alternative mit dem höchsten Gesamtnutzen
bei teilweiser Vergleichbarkeit d. Nutzenmaße    
206*
§ 43 
Gesamtnutzen und Auslosung der 
sozialen Positionen: HARSANYIs Konstruktion "ethischer Präferenzen"    
208
§ 44 
Nutzenmessung durch geopferte Gütermengen    213*
§ 45 
Nutzenmessung durch geopferte Geldmengen    221*
§ 46 Geopferte Zeit als Nutzenmaßstab    227*
           1. 
Wartezeit als Nutzenmaßstab    228*
           2. 
Arbeitsbereitschaft als Nutzenmaß    232*
           3. 
ZINNs Begründung für die Zeit als Nutzenmaß    235*
9. Kapitel
Einwände und Ergänzungen zum Prinzip des maximalen Gesamtnutzens
§ 47 
Zum logischen Status von Nutzenbestimmungen    
239
§ 48 
Die Abhängigkeit der Interessen von 
sozialen Bedingungen    
241
§ 49 
Gibt es unzulässige individuelle 
Interessen?    245
§ 50 Harmonisierung der Interessen durch 
Erziehung und Institutionen    248*
§ 51 
Die Maximierung des Gesamtnutzens und austeilende Gerechtigkeit     .......................................................... 251
§ 52 
Der Übergang zu individualistischen Entscheidungs-Systemen    263
§ 53 Sanktionsfreiheit als 
Qualifikationsbedingung der Interessenäußerung    267
§ 54 Informiertheit als 
Qualifikationsbedingung der Interessenäußerung    270
§ 55 
Fiktion und Wirklichkeit des Willens in 
psychologischen Theorien    
274*
            
1. Die Entscheidung in der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie    275*
            
2. Die Entscheidung in lernpsychologisch orientierten Theorien    277*
§ 56 
Psychischer Konflikt und qualifizierte 
Interessenartikulation    280*
            
1. Hemmung    
280
            
2. Verführung und Sucht    282
§ 57 
Der qualifizierte Wille als Kriterium 
des Eigeninteresses    283
§ 58 
Qualifizierte Interessenartikulation in individualistischen Systemen    
285*
§ 59 
Unterscheidung zwischen Korrektur und Änderung des 
Willens    287*
§ 60 Unaufrichtigkeit bei der individuellen 
Interessenäußerung    289*
            1. 
Eigeninteresse als Motiv zur unaufrichtigen 
Interessenäußerung   290*
            2. 
Die Überprüfung der Aufrichtigkeit von 
Interessenäußerungen   291*
§ 61 
Prinzipielles Fehlen eines qualifizierten Willens
   296*
§ 62 Die Rekonstruktion des  
Interesses durch eine Bedürfnistheorie    297*
             1. 
Die intuitive Rekonstruktion fremder 
Interessen       297*
             2. 
Die Betroffenheit des Individuums von 
Entscheidungen    298*
             3. 
Kenntnisse der menschlichen 
Bedürfnisstruktur    301*
             
4. Das Problem der Gewichtung verschiedener Bedürfnisse
   304*
             5. 
Die Annahme einer Hierarchie der 
Bedürfnisse    305*
             6. 
Methodologische Probleme der 
Bedürfnistheorie    306*
11. Kapitel
Verfahren zur Vereinfachung der Interessenermittlung
§ 63 
Die Notwendigkeit vereinfachter 
Interessenermittlung    313*
§ 64 
Die Abgrenzung dezentralisierter Entscheidungsbereiche  
315*
§ 65 
Die Beschränkung auf den Kreis der Betroffenen     316*
§ 66 Die Einschaltung von Beratern    319*
§ 67 
Die Ernennung von Interessenvertretern    321*
§ 68 
Die Aufstellung genereller Normen    322*
***
Zum Literatur-Verzeichnis (am Ende von Teil III: Das Mehrheitsprinzip)
Textanfang
{-1-}
Die Geschichte der Sozialwissenschaften ist begleitet von 
ständigen Auseinandersetzungen um die Aufgaben sozialwissenschaftlicher 
Erkenntnis und um die geeigneten Methoden zur Lösung dieser Aufgaben. Dabei hat 
in diesen Auseinandersetzungen das Modell der erfolgreicheren 
Naturwissenschaften eine besondere Anziehungskraft ausgeübt. Dies hat im Laufe 
dieses Jahrhunderts zu einer immer stärkeren Durchsetzung des 
erfahrungswissenschaftlichen Wissenschaftsprogramms auch in den 
Sozialwissenschaften geführt. Den als positive Wissenschaften verstandenen 
Sozialwissenschaften wurde als Aufgabe gestellt, das, was ist, zu beschreiben 
und im realen Geschehen Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, mit 
deren Hilfe die Ursachen sozialer Erscheinungen erkannt sowie zukünftige 
Wirkungen vorhergesagt werden können.
Die Durchführung dieses Wissenschaftsprogramms führte zu 
energischen Bemühungen, alle darüber hinausgehenden Fragestellungen - vor allem 
solche normativer Art - aus den positiv verstandenen Sozialwissenschaften 
auszuscheiden: die Sozialwissenschaften sollten "werturteilsfrei"   sein, sie 
sollten keine Handlungsanleitungen geben, sondern sie sollten die empirische 
Informationsgrundlage des Handelns verbessern.
Wie immer man die Ergebnisse der streng 
erfahrungswissenschaftlich arbeitenden Sozialwissenschaften auch beurteilen mag, 
so bleibt doch als Problem, was mit den normativen Fragestellungen wird, nachdem 
sich die Wissenschaft - zumindest in ihrer erfahrungswissenschaftlichen Form - 
als unzuständig für deren Beantwortung erklärt hat. Denn die überspitzt 
positivistische {-2-} Position, dass Fragen nach dem, was sein soll, "sinnlos"   
sind und dass Werturteile nur ideologische Pseudo-Aussagen darstellen, wird 
heute kaum noch jemand aufrechterhalten wollen, vor allem, seit klargestellt 
ist, dass das erfahrungswissenschaftliche Programm selber als System 
methodologischer Regeln normativen Charakter besitzt.
Die vorliegende Arbeit macht nun den Versuch, die 
normativen Fragestellungen in den Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis 
zurückzuholen und konstruktive Ansätze zum Aufbau einer Methodologie normativer 
Wissenschaften zu entwickeln, ohne jedoch hinter den erreichten Diskussionsstand 
der modernen Wissenschaftstheorie zurückzufallen. Die Arbeit versucht 
nachzuweisen, dass und in welcher Weise über die Antworten auf normative Fragen "wissenschaftlich"   diskutiert werden kann. 
Dabei konnte auf wichtigen 
Vorarbeiten zu einer "nach-positivistischen"   praktischen Philosophie aufgebaut 
werden. Auch historische Versuche zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Ethik 
erwiesen sich - nach entsprechenden Modifikationen - als brauchbar im Rahmen 
einer Lehre von den Methoden zur allgemeingültigen Beantwortung normativer 
Fragen.
Um mögliche Missverständnisse auszuschließen, soll hier von 
vornherein betont werden, dass es nicht darum geht, eine falsche Alternative 
zwischen positiver Sozialwissenschaft oder normativer Sozialwissenschaft zu 
propagieren. Es soll auch für die normativen Fragestellungen kein höherer Rang 
als für empirische Forschungen beansprucht werden. Sowohl die Fragen nach dem, 
was ist, also auch die Fragen nach dem, was sein soll, haben ihren Sinn und ihre 
Berechtigung. Sie stehen zueinander nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz, 
sondern der wechselseitigen Ergänzung. {-3-}
Beide Frageebenen sind vielfältig miteinander verzahnt und 
setzen sich gegenseitig voraus, wie im Verlauf der Arbeit noch deutlich werden 
wird. Wenn sich z. B. normative Fragen um das Problem drehen, welche 
Entscheidungen angesichts mehrerer Alternativen getroffen werden sollen, so 
bedarf es der empirischen Wissenschaften, um den Bereich des Möglichen 
abzustecken und über die Wirkungen und Nebenwirkungen der einzelnen Alternativen 
zu informieren. 
Die Konstruktion einer Scheinalternative zwischen 
empirischen und normativen "Ansätzen"   in den Sozialwissenschaften kann deshalb 
einem Erkenntnisfortschritt auf beiden Fragebereichen nur hinderlich sein. 
Anstatt sich gegenseitig die Berechtigung der jeweiligen Fragestellung zu 
bestreiten, sollte sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung darauf 
konzentrieren, wie die gestellten Fragen allgemeingültig beantwortet werden 
können.
Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine 
methodologische Arbeit. Sie will nicht die Frage beantworten, durch welche 
inhaltlichen Normen ein bestimmter Bereich menschlichen Handelns geregelt werden 
soll, sondern sie will die Methode klären, mit deren Hilfe sich geeignete 
Normen für verschiedenste Bereiche bestimmen lassen. Der Aufbau einer derartigen 
Methodologie erfolgt dabei in mehreren Schritten. 
Nach einer Vorklärung der normativen Problemstellung werden 
in einem ersten Schritt die allgemeinen Bedingungen jeder wissenschaftlichen 
Argumentation entwickelt, die auch für die Beantwortung normativer Fragen 
maßgebend sind.
Diese allgemeinen Voraussetzungen der Argumentation sind 
allerdings als Gültigkeitskriterium für Normen {-4-} noch nicht hinreichend. 
Deshalb wird in einem nächsten Schritt versucht, ein Gültigkeitskriterium für 
Normen zu finden, entsprechend dem erfahrungsbezogenen Wahrheitskriterium in den 
empirischen Wissenschaften. In diesem Zusammenhang wird die Diskussion darüber 
aufgenommen, wie sich so etwas wie ein 'Gemeinwohl' bzw. ein Gesamtinteresse 
bestimmen lässt und wie sich dies zu den Interessen der Individuen verhält. Eine 
Berücksichtigung der individuellen Interessen setzt allerdings voraus, dass die 
individuellen Interessen intersubjektiv bestimmt und gewichtet werden können.
Mit diesem Problem, das in der Ökonomie als Problem der 
Messbarkeit und interpersonalen Vergleichbarkeit des Nutzens bekannt ist, 
befasst sich der Rest des ersten, allgemeinen Teils. Dabei wird dem Problem der 
möglicherweise mangelhaften Erkenntnis der eigenen Interessen durch die 
Individuen besonderer Raum gewidmet, weil dies für alle kollektiven 
Entscheidungs-Systeme von grundlegender Bedeutung ist, in denen die Bestimmung 
der individuellen Interessen den jeweiligen Individuen selber überlassen bleibt.
Anhand der im ersten Teil gewonnenen normativen Kriterien 
werden im Folgenden dann das Tauschprinzip und das Mehrheitsprinzip als zwei 
wichtige Grundformen kollektiver Entscheidungsfindung bzw. Normsetzung 
analysiert und beurteilt.
Der zweite Teil behandelt das Tauschprinzip, das auf 
den Institutionen des Privateigentums und der Vertragsfreiheit aufbaut. Dabei 
wird von der Frage ausgegangen, inwiefern ein derartiges 
Eigentum-Vertrags-System als eine Art Einstimmigkeitsregel interpretiert werden 
kann. Weiterhin werden die Probleme der interessemäßigen Abgrenzbarkeit der 
Eigentumsbereiche und der ungleichen Verhandlungsmacht analysiert. In diesem 
Zusammenhang erfolgt eine Auseinandersetzung {-5-} mit der paretianischen 
Wohlfahrtsökonomie sowie dem Modell einer privatkapitalistischen Marktwirtschaft 
unter Bedingungen vollkommener Konkurrenz.
Der dritte Teil behandelt das Mehrheitsprinzip als 
Verfahren der kollektiven Normsetzung, wobei besonderes Gewicht auf die 
Auswirkungen von Koalitionsbildung und strategischem Abstimmungsverhalten gelegt 
wird. Im Mittelpunkt der normativen Beurteilung steht hier das Problem des 
Schutzes einer stark betroffenen Minderheit vor den Beschlüssen der Mehrheit. 
Sowohl Tauschprinzip als auch Mehrheitsprinzip werden dabei daraufhin 
untersucht, inwiefern sie geeignete Verfahren zur Annäherung an das im ersten 
Teil näher bestimmte Gesamtinteresse darstellen.
Wie aus der Skizzierung des Gedankenganges ersichtlich ist, 
wird in der Arbeit der Versuch gemacht, nicht bei den erkenntnistheoretischen 
Grundlagenproblemen einer normativen Wissenschaft stehen zu bleiben, sondern 
vorzudringen bis zu den zentralen normativen Fragen nach der Gestaltung der 
gesellschaftlichen Ordnung. Denn nur wenn aus den methodischen Überlegungen 
letztlich Kriterien für die Beantwortung derjenigen normativen Fragen gewonnen 
werden können, in denen sich die wichtigen sozialen Konflikte der Zeit 
ausdrücken, wird der Bereich der Unverbindlichkeit verlassen.
Dabei kann mit dieser Arbeit jedoch nur eine gewisse 
Annäherung an dieses Ziel erreicht werden, da solche grundlegenden Überlegungen 
notwendigerweise auf einem sehr abstrakten Niveau verlaufen müssen. Diskutiert 
werden hier noch nicht die konkreten Institutionen-Systeme bestimmter 
Gesellschaften und die in ihnen ablaufenden Prozesse der Normsetzung, sondern es 
geht {-6-} hier noch um kollektive Entscheidungsregeln bzw. um diesen Regeln 
entsprechende hochgradig abstrakte Modelle kollektiver Entscheidungsfindung, 
wobei von der Beschaffenheit der zu normierenden sozialen Bereiche und von der 
Beschaffenheit der Individuen weitgehend abgesehen wird. 
Da das Schwergewicht auf der Anerkennbarkeit der 
kollektiven Entscheidungen liegt, werden Fragen der Kontrolle und Durchsetzung 
dieser Entscheidungen überwiegend ausgespart. Hierzu gehören z. B. Fragen der 
moralischen Erziehung, der Motivierung durch Belohnungs- und Bestrafungssysteme 
sowie Probleme der Normanwendung und -auslegung bei Normübertretungen. 
Keine Berücksichtigung kann im Rahmen dieser Arbeit das für 
industrielle Gesellschaften äußerst wichtige Phänomen hierarchisch 
strukturierter Großorganisationen und bürokratischer Apparate finden. Insofern 
diese sowohl für die Informationsgewinnung und Entscheidungsvorbereitung als 
auch für die Anwendung und Kontrolle getroffener Entscheidungen erforderlich 
sind und dabei zwangsläufig ein Eigenleben entwickeln, ergeben sich daraus auch 
für die normative Gestaltung der Entscheidungsprozesse Konsequenzen, die jedoch 
erst im Zusammenhang von detaillierten institutionellen Analysen von 
Gesamtsystemen sichtbar gemacht werden können. Eine weitere institutionelle 
Konkretisierung von Verfahren der kollektiven Entscheidungsfindung 
einschließlich ihrer Durchsetzung muss deshalb späteren Arbeiten vorbehalten 
bleiben.
Um die grundlegenden Argumentationslinien und die 
normativen Kernstrukturen übersichtlich herauszuarbeiten, ist ein relativ hoher 
Abstraktionsgrad und eine entsprechende Beschränkung der Fragestellung 
unumgänglich.{-7-} Auch historische Bezüge werden in dieser Arbeit ausgeblendet, 
es sei denn, aus ihnen ergeben sich für die Beantwortung der Fragestellung hier 
und heute noch relevante Argumente. Überhaupt ist es das Kriterium für die 
Aufnahme oder Ausscheidung bestimmter angrenzender Fragestellungen und Aspekte, 
ob ihre Einbeziehung die Beantwortung der gestellten Frage verändert oder 
nicht.{-8-}
Teil I
Allgemeine Grundlagen einer normativen Methodologie {-9-}
1. Kapitel
Die Notwendigkeit normativer Wissenschaft
§ l Die Präzisierung der Fragestellung
Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf die Frage, welche 
sozialen Normen existieren sollen und welche nicht. Dies kann auch als die Frage 
nach der Gültigkeit bestimmter Normen bezeichnet werden. Dabei soll es hier 
nicht so sehr um die Gültigkeit einzelner inhaltlicher Normen gehen, sondern um 
die Methode, mit der über die Gültigkeit von Normen generell zu befinden 
ist.
Diese Arbeit stellt sich damit 
die Frage nach der Möglichkeit und den methodischen Grundlagen normativer 
Erkenntnis und Wissenschaft. Unter "normativ"   sollen hier solche Theorien 
verstanden werden, die direkt oder indirekt eine Normierung menschlichen 
Verhaltens, also Verhaltensvorschriften ausdrücken [[1] Nicht gemeint 
sind also empirische Theorien, die die Beschreibung und Erklärung 
existierender Normen zum Gegenstand haben.] 
Der Begriff "Wissenschaft"   
erscheint hier angebracht, insofern es sich um Theorien handelt, die mit dem 
Anspruch auf allgemeine Gültigkeit auftreten und diesen Anspruch auch 
argumentativ zu begründen versuchen. 
"Normative Wissenschaft"   wäre u. a. zu unterscheiden von
 1. empirischer Wissenschaft (Erfahrungswissenschaft), deren Ziel die Information über die Beschaffenheit der Realität ist sowie, 
 2. analytischer Wissenschaft, deren Ziel logischer Natur ist, oder.{-10-}
 3. hermeneutischer Wissenschaft, deren Ziel die Interpretation von 
Texten und sinnhaltigen Zeichen ist. 
Jede Art von Wissenschaft beantwortet unterschiedliche 
Arten von Fragen und bedarf deshalb einer eigenen Methodologie. Zusammen 
genommen bilden die verschiedenen Methodologien die Erkenntnistheorie. 
Allerdings darf diese erkenntnistheoretisch notwendige begriffliche 
Unterscheidung der Wissenschaftsarten nicht als Aufforderung zu ihrer faktischen
Trennung missverstanden werden, denn die verschiedenen Ebenen der 
Erkenntnis stehen in einer engen Wechselbeziehung untereinander. [[2] Leider 
hat sich bisher noch keine einheitliche erkenntnistheoretische Terminologie 
herausgebildet. So wird der hier als "normative Methodologie"   bezeichnete 
Erkenntnisbereich u. a. auch "praktische Philosophie"   (KANT, LORENZEN), "Legitimationslogik"   (HABERMAS) oder "Wertphilosophie"   (SCHELER) genannt. Der 
kaum zu vermeidenden Gefahr rein sprachlicher Missverständnisse muss deshalb im 
Folgenden häufig durch Definition der benutzten Termini begegnet werden.]
Theorien mit verhaltensnormierendem Gehalt gibt es 
innerhalb der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen. Als wichtigste 
wären zu nennen:
             Ethik bzw. Moralphilosophie,
             Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie,
             Politische Wissenschaft,
             Ökonomie und
             Pädagogik.
Alle diese Wissenschaften enthalten handlungsanleitende 
normative Theorien und es stellt sich damit {-11-} die Frage nach ihrer "Wissenschaftlichkeit"   im Sinne einer 
allgemeingültigen Begründbarkeit solcher normativen Theorien. [[3] 
Handlungsanleitungen werden zwar auch von den anwendungsorientierten "technischen"   Wissenschaften gegeben, jedoch handelt es sich dabei nur um eine 
Mittelbestimmung bei vorgegebenen 
Zwecken, so dass sie hier nicht als "normative Wissenschaften"   bezeichnet werden.]
Diese Fragestellung fällt in das Gebiet einer normativen 
Methodologie, worunter die Lehre von den Methoden zur Beantwortung 
normativer Fragen verstanden werden soll. Diese normative Methodologie ist von 
den inhaltlichen normativen Theorien zu bestimmten Bereichen zu unterscheiden 
(analog zur Unterscheidung zwischen der allgemeinen Methodologie der 
Erfahrungswissenschaften und den auf verschiedene Gegenstände bezogenen 
empirischen Theorien). Die normative Methodologie hat vor allem die Aufgabe, Gültigkeitskriterien und Argumentationsregeln für normative Theorien zu 
entwickeln. [[4] Neben der Bestimmung von Gültigkeitskriterien zur kritischen 
Überprüfung normativer Theorien wäre noch die Entwicklung einer normativen Heuristik als Aufgabe einer normativen Methodologie zu nennen. Unter "Heuristik"   wären Methoden zur Gewinnung neuer normativer Theorien zu verstehen, 
die für bestimmte Problemlösungen geeignet sind. Ein großes heuristisches 
Potential liegt z. B. in der Erforschung historischer oder gegenwärtig 
existierender Normensysteme sowie in der Etymologie normativer Begriffe und der 
Analyse normativer Sprachelemente.]{-12-}
§ 2 Die Relevanz der Fragestellung
Die Relevanz einer Beschäftigung mit der Methodologie 
normativer Wissenschaften ergibt sich schon daraus, dass ständig normative 
Behauptungen aufgestellt werden, sei es bei moralischen, rechtlichen, 
politischen, ökonomischen oder pädagogischen Fragen. Es werden individuelle 
Verhaltensweisen kritisiert oder gerechtfertigt, es werden soziale Ordnungen 
angegriffen oder verteidigt, es werden politische Forderungen aufgestellt oder 
abgelehnt, Werturteile über Personen und soziale Tatbestände gefällt usw.. 
Normativ gemeinte Begriffe wie "Gerechtigkeit", "Freiheit", "Emanzipation", "Gemeinwohl", "Fortschritt", "Demokratie", "Wohlfahrt", "Klassenherrschaft", "Ausbeutung"   etc. spielen in sozialwissenschaftlichen und politischen 
Diskussionen eine zentrale Rolle.
Diese normativen Argumentationen sind Ausdruck der 
Tatsache, dass Gesellschaften kollektive Normensysteme darstellen, die 
Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen und - wenn nötig - auch mittels Sanktionen 
durchsetzen. Die jeweilige Art der moralischen, politischen und ökonomischen 
Normensysteme hat dabei für alle Individuen die größte Bedeutung. Denn die 
Beschaffenheit dieser Normensysteme legt fest, was Individuen dürfen oder nicht 
dürfen, wofür sie belohnt oder bestraft werden, was ihnen gehört und was ihnen 
nicht gehört, was ihre Rechte und was ihre Pflichten sind.{-13-}
§ 3 Mögliche Einwände gegen den Versuch normativer Wissenschaft
1. Der  positivistische Einwand
Unter dem Einfluss verschiedener philosophischer Strömungen 
war es - vor allem im deutschen Sprachgebiet - wissenschaftlich eher suspekt, 
sich mit der Aufstellung und Begründung normativer Theorien zu befassen. Vor 
allem diejenigen, denen es um eine wissenschaftlich strenge Beweisführung ging, 
sahen dies meist als unvereinbar mit einer normativen Theoriebildung an - und 
das Übergewicht von methodisch völlig unreflektierten oder abwegigen Arbeiten 
auf ethischem oder politischem Gebiet schien ihnen darin Recht zu geben.
Diese Einstellung entstand vor allem durch die 
erkenntnistheoretisch außerordentlich einflussreiche Strömung des Positivismus. Darunter sollen hier all jene philosophischen Richtungen 
zusammengefasst werden, die in der Erforschung der positiven, d. h. gegebenen 
Realität die einzig zulässige Aufgabe wissenschaftlicher Erkenntnis sehen.[[5] 
LORENZEN bezeichnet diese Position auch als "Szientismus". S. LORENZEN 1969.] 
Die sonstigen wissenschaftstheoretischen Leistungen des Positivismus - z. B. bei 
der Kritik an "übernatürlichen"   Spekulationen oder bei der Entwicklung einer 
erfahrungswissenschaftlichen Methodologie der Natur- und Sozialwissenschaften - 
stehen hier nicht zur Diskussion. [[6] S. hierzu etwa KOLAKOWSKI 1971.]{-14-} 
Hier geht es allein um die Frage, ob die positivistische Ablehnung normativer 
Wissenschaft zu Recht besteht oder nicht.
Der Kern der positivistischen Argumentation ist dabei 
folgender: Zum einen wird festgestellt, dass nur Aussagen positiver bzw. 
faktischer Art (deskriptive Aussagen, empirische Gesetzesaussagen, "Ist-Sätze"  ) 
an der Erfahrung überprüfbar sind. Zum andern gilt, dass mit Hilfe logischer 
Deduktion nur die Implikationen der Prämissen erschlossen werden können, dass 
also damit nur tautologische Bedeutungsumformungen möglich sind, aber keine 
völlig neuen Bedeutungselemente abgeleitet werden können. Aus beidem ergibt 
sich, dass es unmöglich ist, aus ausschließlich empirischen Prämissen 
irgendwelche Normen logisch-deduktiv abzuleiten, die ja ein ganz anders 
geartetes Bedeutungselement darstellen. Damit ist jeder deduktive Schluss vom "Sein"   auf das "Sollen"   als logisch fehlerhaft nachgewiesen. [[7] Diese 
logische Problematik wurde bereits von HUME präzise analysiert. S. HUME 1969, S. 
521. Dies Prinzip wird deshalb auch als "HUMES Gesetz"   bezeichnet.]
Bis hierher scheint der Argumentationsgang akzeptabel zu 
sein und sogar von grundlegender Bedeutung für jede normative Methodologie. [[8] 
S. § 24 über logisch unzulässige Argumentationen.] Die positivistische 
Position wird jedoch in dem Augenblick unhaltbar, wo sie darüber hinaus 
behauptet, dass damit überhaupt jede normative Wissenschaft unmöglich 
geworden ist. Denn aus dem Tatbestand, dass sich Normen im Gegensatz zu 
empirischen Aussagen mit den Mitteln von Erfahrung und Logik allein nicht 
begründen lassen, folgt keineswegs logisch, dass es nicht andere Kriterien ihrer 
Gültigkeit geben kann. {-15-} 
Dieser unzulässige Übergang der Positivisten von der 
richtigen Feststellung, dass Normen nicht unmittelbar an ihrer Übereinstimmung 
mit der erfahrbaren Wirklichkeit überprüft werden können, zu dem unzulässigen 
Schluss, dass Normen überhaupt nicht richtig oder falsch bzw. gültig oder 
ungültig sein können, zeigt sich z. B. an der Argumentation von Herbert A. 
SIMON, der schreibt: "Um zu bestimmen, ob eine Aussage korrekt ist, muss sie 
unmittelbar mit der Erfahrung - mit den Fakten - verglichen werden, oder sie 
muss durch logisches Argumentieren zu anderen Aussagen führen, die mit der 
Erfahrung verglichen werden können. Aber faktische Aussagen können durch 
keinerlei Argumentationsprozess aus ethischen Aussagen abgeleitet werden, noch 
können ethische Aussagen unmittelbar mit den Fakten verglichen werden - denn sie 
behaupten eher ein Soll als ein Faktum. Daher gibt es keinen Weg, auf dem die 
Korrektheit ethischer Aussagen empirisch oder rational getestet werden kann. Aus 
dieser Sicht bedeutet dies, dass, wenn ein Satz ausdrückt, dass ein bestimmter 
Zustand der Dinge sein soll oder dass er vorzuziehen oder wünschenswert ist, 
dass dann der Satz eine imperative Funktion erfüllt und weder wahr noch falsch, 
korrekt noch inkorrekt ist. Da Entscheidungen Wertungen dieser Art einschließen, 
können auch sie nicht objektiv als korrekt oder inkorrekt beschrieben 
werden'.[[9] SIMON 1965, S. 46. (Übersetzung aller fremdsprachigen Zitate 
durch den Verfasser.)]{-16-}
SIMON hat Recht, wenn er feststellt, dass Normen nicht 
allein empirisch-deduktiv begründet werden können. Wer dies verneint, würde 
einen unhaltbaren "vorpositivistischen"   Standpunkt einnehmen.
Dies hat auch HABERMAS gesehen, wenn er schreibt: "Heute 
muss die Konvergenz von Vernunft und Entscheidung, die die große Philosophie 
noch unmittelbar dachte, auf der Stufe der positiven Wissenschaften und das 
heißt: durch die auf der Ebene technologischer Rationalität notwendig und zu 
recht gezogene Trennung, durch die Diremption von Vernunft und Entscheidung 
hindurch wiedergewonnen und reflektiert behauptet werden."   [[10] HABERMAS 
1971, S. 33.]
Allerdings ist die vernünftige Begründung von Behauptungen 
nicht nur logisch-empirisch möglich, wie SIMON meint. Demgegenüber ist 
festzustellen, dass ein rein "deduktionstechnisches Verständnis von 
Begründung dem vernünftigen argumentativen (oder diskursiven) Sinn 
von Begründung nicht gerecht wird."   [[11] KAMBARTEL 1974a, S.16 f. Wie ein 
solches nichtdeduktives Begründungsverfahren aussehen kann, wird unten anhand 
des Intersubjektivitätsgebots ausgeführt.] 
In ähnlicher Weise reserviert Max WEBER den Begriff "Wissenschaft"   für die Erfahrungswissenschaft, während die Geltung von obersten 
Werten für ihn allein eine Sache des Glaubens ist. "Eine empirische Wissenschaft 
vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann 
und - unter Umständen - was er will. Nur unter der Voraussetzung des 
Glaubens an Werte jedenfalls hat der Versuch Sinn, Werturteile nach außen zu 
vertreten. Aber: die Geltung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des 
Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung 
des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber {-17-} nicht 
Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft ... " 
WEBER ist der Auffassung, "dass … die höchsten Ideale, die 
uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich 
auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren."   Folgerichtig 
fordert er vom Wissenschaftler, "jederzeit deutlich zu machen, dass und wo der 
denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen, wo die 
Argumente sich an den Verstand und wo sie sich an das Gefühl wenden."  [[12] 
WEBER 1904, S. 6, 7 u. 11f.]
Die positivistische Annahme unbegründbarer Werturteile 
schleicht sich vor allem dadurch ein, dass der Positivismus Begriffe wie "Wissenschaft", "Theorie", "Erkenntnis"   von vornherein so 
definiert, dass 
sie nur auf erfahrungswissenschaftliche Fragestellungen angewandt werden können.
Solche sprachlichen Festsetzungen mögen zum Zwecke 
begrifflicher Klarheit gelegentlich nützlich sein. Damit ist jedoch die 
eigentliche Frage nach den möglichen Gültigkeitskriterien von normativen 
Theorien noch in keiner Weise beantwortet. Oft lässt sich diese Beschlagnahme 
zentraler Termini der philosophischen Tradition für die Erfahrungswissenschaft 
nicht mit dem Argument der nötigen begrifflichen Eindeutigkeit begründen, 
sondern scheint eher dazu zu dienen, andere philosophische Positionen "sprachlos"   zu machen. 
Deshalb werden hier die Termini "Erkenntnis", "Wissenschaft"   und "Theorie"   weiterhin auf alle Verfahren angewandt, bei denen 
es um die systematische {-18} Beantwortung sinnvoller Fragen geht. Zur 
Unterscheidung der verschiedenen Erkenntnisebenen reichen die Adjektive "normative", "empirische", "analytische"   oder "hermeneutische"   Wissenschaften 
völlig aus. Die Termini "Aussagen"   und "Wahrheit"   werden im Folgenden jedoch nur 
auf empirische Theorien bezogen; die analogen Termini für normative Theorien 
wären "Norm"   und "Gültigkeit".
2. Der  
subjektivistische Einwand
Die positivistische Position ergänzt und verbindet sich 
häufig mit dem normativen Subjektivismus bzw. Relativismus. Hierunter sollen 
solche Positionen verstanden werden, die Normen bzw. Werturteile nur als 
subjektive Willens- und Gefühlsäußerungen ansehen und ihnen deshalb jeden 
Anspruch auf Allgemeingültigkeit absprechen. 
Eine solche subjektivistische und "emotive"   Auffassung 
ethischer Urteile hat z. B. AYER, wenn er ausführt: "Ein anderer mag mit mir 
nicht übereinstimmen, was die Unrechtmäßigkeit des Stehlens betrifft, in dem 
Sinne, dass er bezüglich des Stehlens nicht in der gleichen Weise empfindet wie 
ich, und er kann mit mir über meine moralischen Gefühle streiten. Er kann mich 
aber, genau genommen, nicht widerlegen. Denn wenn ich sage, eine bestimmte 
Handlungsweise sei recht oder unrecht, so mache ich damit keine 
Tatsachenaussage, nicht einmal eine Aussage über meinen eigenen Geisteszustand. 
Ich drücke nur gewisse moralische Empfindungen aus; und der Betreffende, der mir 
widerspricht, drückt nur seine moralischen Empfindungen aus. So liegt einfach 
kein Sinn in der Frage, wer von uns im Recht ist; denn keiner behauptet eine 
echte Proposition. [[13] AYER 1970, S. 142. S. auch die späteren Ausführungen 
bei AYER 1954.{-19-]
Einen subjektivistischen Standpunkt vertritt auch GEIGER, 
der Werturteile mit Ideologien gleichsetzt, wenn er schreibt: "Die Theorie - und
nur die Theorie - intendiert jene als Richtigkeit bezeichnete, besondere 
Art der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit . .. Im Falle des Werturteils .. 
hat die Aussage überhaupt keinen anderen Inhalt als eben den der Objektivierung 
und Theoretisierung des Gefühlsverhältnisses. Das Werturteil ist somit reine 
Ideologie ohne allen echt-theoretischen Gehalt."  [[14] GEIGER 1949, S. 230 u. 
232]
An der subjektivistischen Deutung von Normen ist richtig, 
dass jede Norm, die ein Individuum aufstellt, immer auch seine individuelle 
normative Position darstellt und insofern "subjektiv"   ist. Daraus lässt sich 
jedoch nicht folgern, dass diese Norm nicht gleichzeitig allgemeine Gültigkeit 
beanspruchen kann. Denn auch wenn in der Erfahrungswissenschaft ein 
Wissenschaftler eine Hypothese behauptet, so ist sie zwar immer auch seine 
individuelle Meinung und insofern "subjektiv". Daraus würde jedoch niemand den 
Schluss ziehen, dass dieser Hypothese deshalb keine allgemeine Wahrheit zukommen 
könne.
Auch die Tatsache, dass Normen auf subjektiven 
Willensregungen bzw. Präferenzen beruhen, ist noch kein Argument gegen die 
Möglichkeit von Gültigkeitskriterien. Denn auch die empirischen Aussagen beruhen 
auf subjektiven Wahrnehmungen, aufgrund derer erst eine {-20-} intersubjektiv 
gültige Erfahrung herzustellen ist. [[15] Vgl. hierzu die Diskussion der 
Basissatz-Problematik bei POPPER 1969, S. 95ff. S. zum Problem des normativen 
Subjektivismus bzw. Relativismus auch die Arbeiten in BIRNBACHER / HOERSTER 
1976,S.214ff.]
3. Der  
deterministische Einwand
Eine andere Position, von der her das Unternehmen einer 
normativen Wissenschaft sinnlos erscheint, ist die Position des Determinismus. 
Hierunter soll die Auffassung verstanden werden, die von einer Determiniertheit 
des Geschichtsverlaufs, der sozialen Abläufe bzw. des individuellen Handelns 
ausgeht. Danach geschieht alles gemäß kausalgesetzmäßiger Notwendigkeit, so dass 
für eine normative Gestaltung der Wirklichkeit gar keine Möglichkeit besteht. 
Statt normativer Theoriebildung wird die Erforschung der tatsächlichen 
Gesetzmäßigkeiten gefordert, nach denen die historischen und sozialen Prozesse 
ablaufen, und aus denen sich das Ziel der menschlichen Geschichte ergibt. 
[[16] 
Bestimmte Formulierungen bei MARX und ENGELS lassen eine solche deterministische 
Interpretation zu, wenn sich auch andere Aspekte finden. So schreiben sie: "Der 
Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein 
Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen 
Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt."   
MARX/ENGELS 1845/46, S.35. 
Auf jeden Fall hat die Vorstellung, dass es eine 
gesetzmäßige historische Entwicklung gibt, die zugleich "Fortschritt"   in dem 
Sinne ist, dass das Seinsollende mit dem gesetzmäßig Werdenden zusammenfällt, 
mit dazu beigetragen, dass es innerhalb der marxistischen Theorie kaum Versuche 
gibt, die Frage nach den Kriterien der Gültigkeit von Normen systematisch zu 
bearbeiten. Auch WELLMER sieht als eine mögliche Konsequenz der MARXschen 
Geschichtskonstruktion die "Verschleierung der Differenz zwischen der 
unvermeidlichen und der praktisch notwendigen Transformation der 
kapitalistischen Gesellschaft."   S. WELLMER 1969, S. 77.]{-21-}
Der Determinismus versucht die normative Fragestellung, 
nämlich wie gehandelt werden soll, dadurch zu eliminieren, dass er die 
Existenz verschiedener Möglichkeiten des Handelns verneint. Jeder handelt 
so, wie er es aufgrund der bestehenden Verhältnisse und Gesetzmäßigkeiten muss, so dass die Aufstellung von Normen, wie er handeln 
sollte, 
genau genommen illusorisch ist.
Ohne dass hier auf die recht schwierigen 
erkenntnistheoretischen Probleme eingegangen werden soll, die mit einer Kritik 
des Determinismus verbunden sind, kann doch anhand eines einfachen Beispiels die 
Unbrauchbarkeit der deterministischen Position veranschaulicht werden. Selbst 
bei einem so banalen Problem wie dem, ob ich spazierengehen soll oder lieber zu 
Hause bleiben soll, hilft mir die deterministische Auffassung, dass mein Handeln 
kausalgesetzlich determiniert ist, für mein Entscheidungsproblem überhaupt 
nichts. Ich kann die normative Frage: "Was soll ich tun?"   nicht durch die 
empirisch-prognostische Frage: "Was werde ich tun?"   ersetzen. [[17] S. Dazu auch die Beiträge zum Problem der Willensfreiheit in BIRNBACHER/HOERSTER 
1976, S. 305 ff.]{-22-}
Wenn man genauer hinsieht, ist deshalb die Aufhebung der 
Entscheidungsproblematik durch die Erkenntnis der tatsächlichen Entwicklung nur 
ein Schein. Das Entscheidungsproblem und damit die normative Problematik ist für 
die Menschen nicht eliminierbar, solange es für sie verschiedene Möglichkeiten 
des Handelns gibt. [[18] Diese Kritik bedeutet jedoch nicht, dass deshalb das 
idealistische Gegenstück zum Determinismus richtiger ist, der eine "Freiheit des 
Willens"   von allen empirischen Faktoren und Einflüssen behauptet. S. auch § 
24/3. über 'Historische Notwendigkeit'.]
4. Der "realistische"   Einwand
Der Versuch einer normativen Theoriebildung setzt sich nur 
zu leicht dem Vorwurf des "hilflosen Idealismus"   aus: Solch ein Versuch sei 
vielleicht gut gemeint, aber er sei "realitätsfremd"   und gegenüber den 
wirklichen Kräften und Tendenzen ohnmächtig und deshalb sinnlos. Normative 
Vorstellungen seien auf die wirklichen Entwicklungen ohne entscheidenden 
Einfluss.
Diese Kritik mag gegenüber solchen normativen Positionen 
gerechtfertigt sein, die ohne empirische Analyse der durch die realen 
Verhältnisse und ihre Entwicklungstendenzen gegebenen Möglichkeiten und ohne 
Bezug zur menschlichen Motivationsstruktur irgendwelche Normensysteme 
postulieren oder im schlechten Sinne 'utopische' Gesellschaftsordnungen 
entwerfen.[[19] Insofern ist ENGELS' Kritik am älteren Sozialismus 
berechtigt, dessen Auffassung er folgendermaßen charakterisiert: "Der 
Sozialismus ist der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit, 
und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern. 
... Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische 
Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch 
nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie einfach nur als schlecht verwerfen. 
ENGELS 1878, S. 18 u. 26.]
Der hier unternommene Versuch einer normativen 
Methodologie versteht sich jedoch in keiner Weise als alternativ zur 
erfahrungswissenschaftlichen Erforschung der Gesellschaft und {-23-} ihrer 
Entwicklungsmöglichkeiten, und er beansprucht auch keinen höheren "philosophischen"   Rang als etwa Versuche zur Erklärung und Prognose der 
Wirklichkeit. Stattdessen wird das Verhältnis zwischen normativer und 
empirischer Wissenschaft als eine notwendige Ergänzung und arbeitsteilige 
Kooperation aufgefasst. 
Vor allem wird das Motivations- und Realisierungsproblem 
von Normen hier als ein integraler Bestandteil der normativen Theorie selber 
betrachtet. Normen fordern zu bestimmten Handlungen in Entscheidungssituationen 
auf, aber sinnvoll entscheiden kann man nur zwischen realen Möglichkeiten. Die 
erfahrungswissenschaftlich informierte Analyse der realen Möglichkeiten 
ist deshalb ein notwendiger Bestandteil jeder normativen Theorie. [[20] Zur 
Bedeutung der Kategorie der "objektiven Möglichkeit"   s. z. B. NEGT 1971, S. 85 
f.]
Außerdem stellen normative Zielvorstellungen, die von 
Menschen geteilt werden, selber einen nicht zu unterschätzenden realen Einfluss 
dar. Ihre breite Vermittlung wiederum hängt u. a. auch von der Klarheit und 
Begründbarkeit dieser Zielvorstellungen ab, wozu eine normative Methodologie 
einen Beitrag leisten kann.[[21] Ähnlich argumentiert SEN 1970, S. 192.]
Abschließend sei noch bemerkt, dass man die verschiedenen 
anti-normativen Positionen nur wirklich ernst nehmen könnte, wenn deren 
Vertreter sich selber jeder politisch-normativen Wertung und Forderung enthalten 
würden. Dass diese Enthaltsamkeit aber nirgends anzu- {-24-} treffen ist - 
und auch ohne eine Selbstaufgabe oder zynische Anpassung an die bestehenden 
Verhältnisse überhaupt nicht gelingen kann - erscheint als hinreichende 
Rechtfertigung für den Versuch, sich erkenntnistheoretisch mit der Möglichkeit 
intersubjektiv gültiger normativer Argumentation zu befassen.{-25-}
2. Kapitel
Der Streit um Normen und 
ihre Gültigkeit
§ 4 Normen und Werturteile als Willensinhalte
Wie oben bereits kurz ausgeführt wurde, sollen unter 
"Normen"   
solche Sätze verstanden werden, die eine Verhaltensvorschrift beinhalten, also 
menschliches Handeln normieren. Normen drücken also ein "Sollen"   aus: 
bestimmte Handlungen von Individuen sollen sein oder sollen nicht sein. 
Gewöhnlich treten Normen in der Form von Geboten, Verboten oder Erlaubnissen auf 
bzw. in daraus ableitbaren Formen wie Rechten, Pflichten, Ansprüchen oder 
Normsetzungsbefugnissen. [[1] S. Dazu z. B. KUTSCHERA 1973, S. 11, 35 u. 37 
] Ein derartiges Gebot ist in allgemeiner Form z. B. die Norm: "Individuum A soll jetzt Handlung x 
tun!"   Normen geben also keine Be - schreibung davon, wie die Realität 
beschaffen ist, sondern sie enthalten eine Vor - schrift, wie die 
Realität sein soll. Ihre Funktion ist präskriptiv und nicht deskriptiv.
Eine ausführliche Definition des Begriffs "Norm"   gibt 
EICHHORN: Danach sind Normen "die Ausführung (oder Unterlassung) von 
menschlichen Handlungen betreffende gedankliche Festsetzungen, die mit dem 
Anspruch auf soziale Verbindlichkeit auftreten und dazu dienen, menschliches 
Handeln zu regeln, zu lenken, ihm eine bestimmte Richtung zu geben, es zu 
koordinieren, die also darauf abzielen, eine bestimmte soziale Ordnung zu 
realisieren; Normen treffen Entscheidungen für eine oder mehrere Handlungen 
(oder Handlungsweisen) aus einem Feld möglicher Handlungen (oder 
Handlungsweisen) und legen diese Entscheidung mit einem {-26-} bestimmten 
Grad von sozialer Verbindlichkeit fest."   [[2] EICHHORN 1971, S. 793]
Danach sind also alle politischen, ökonomischen, 
rechtlichen oder moralischen Ordnungen, wie z. B. das parlamentarische 
System, die Eigentumsordnung, das Familienrecht oder die Sexualmoral, normative 
Gebilde und lassen sich als ein System von Normen darstellen. Jede Kritik oder 
Rechtfertigung dieser Ordnungen setzt deshalb eine Methode zur Kritik oder 
Rechtfertigung von Normen voraus, auch wenn dies nicht immer bewusst ist.
Die sprachliche Normierung menschlichen Verhaltens kann 
nicht nur dadurch erreicht werden, dass unmittelbar bestimmte Handlungen geboten 
oder verboten werden. Handlungen können auch indirekt normiert werden, indem man 
die Herstellung bestimmter Zustände fordert. Wenn ein Hausbesitzer zum 
Maler sagt: "Diese Wand soll rot werden!", so ergibt sich daraus für den Maler
indirekt ein bestimmtes Verhalten. Insofern können Normen auch in Bezug 
auf Zustände oder Ereignisse formuliert werden und nicht nur unmittelbar auf 
Handlungen. Allerdings ist bei derartigen Formulierungen der Adressatenkreis 
nicht genau bestimmt und die Art und Weise, wie der geforderte Zustand 
realisiert wird, bleibt bei solchen Normen unbestimmt. Normverletzungen sind 
insofern schwieriger zu bestimmen.
Zwischen Normen als den Formulierungen dessen, was sein 
soll, und Willensäußerungen besteht ein enger {-27-} Zusammenhang. Man könnte 
vereinfacht sagen: "Sollen"   kommt von "Wollen", denn ohne dass es so 
etwas wie wollende Subjekte gibt, könnte es auch keine Normen geben. Als 
Vorschriften darüber, wie die Welt sein soll, drücken sie ein wollendes 
Verhältnis zur Welt aus, während empirische Aussagen ein konstatierendes 
Verhältnis zur Welt ausdrücken als Beschreibungen dessen, was ist. 
Der enge Zusammenhang zwischen "Wollen"   und "Sollen"   wird 
deutlich, wenn man sich einmal klarmacht, wie ein Individuum überhaupt seinen 
Willen sprachlich ausdrücken kann. Angenommen Individuum B will, dass Individuum 
A schweigt. B kann dann z. B. sagen: "Ich will, dass A jetzt schweigt!"   Es 
handelt sich dabei um den individuellen Willen von B, was durch die Benutzung 
des Personalpronomens "ich"   ausgedrückt wird. Wenn man jedoch einmal vom Träger des Willens absieht und nur nach dem 
Inhalt des Willens fragt, 
so kann dieser Willensinhalt auch durch die Norm ausgedrückt werden: "A soll 
jetzt schweigen!"   Normen drücken aus, was gewollt wird, unabhängig 
davon, wer dies will.[[3] Allerdings kann der Träger des Willens 
hinzugefügt werden, wie im folgenden Beispiel: "Betreten des Grundstücks 
verboten! Der Eigentümer."  ]
Dieser Zusammenhang zwischen Willensinhalt und Norm wird 
auch im alltäglichen Sprachgebrauch sichtbar, wenn etwa im Zusammenhang mit den 
staatlichen Gesetzen vom "Willen des Gesetzgebers"   die Rede ist oder wenn die 
Vorschriften eines Testaments als "letzter Wille"   eines Menschen bezeichnet 
werden. {-28-}
Normen, die nicht den Willensinhalt irgendeines Subjektes, 
sei es eines einzelnen Individuums oder sei es einer Gruppe von Individuen 
wiedergeben, sind gegenstandslos. Sie sind eine bloße Ansammlung von Worten und 
verlieren damit jeden Aufforderungscharakter. Wenn jemand sagt: "Du sollst 
schweigen und zugleich will niemand, dass du schweigst", so hat er offenbar 
nicht verstanden, was die Worte "sollen"   und "wollen"   gewöhnlich bedeuten. Wenn 
also eine Auseinandersetzung um alternative Normen geführt wird, so bedeutet 
dies immer einen Konflikt zwischen verschiedenen Willen bzw. Interessen, denen 
nicht gemeinsam entsprochen werden kann. Wird dann eine Entscheidung in diesem 
Streit getroffen, so hat sich damit ein bestimmter Wille durchgesetzt.
Während Normen bereits eine Entscheidung in Bezug auf einen 
Bereich möglicher Handlungen oder Zustände treffen, vergleichen Werturteile 
die möglichen Handlungen oder Zustände eines Bereichs nur auf ihre 
Vorzugswürdigkeit bzw. ihren Wert. "Man muss Werte und Wertträger (Wertvolles) 
streng auseinander halten. Was wertvoll ist, hat Wert, ist aber kein Wert, 
sondern ein Wertträger, ein Gut.
Ein Wertträger ist dasjenige, dem Wert zugeschrieben wird. 
.. Wie den Werten Unwerte, so stehen den Gütern Übel gegenüber."   [[4] 
KRAFT 1951, S.10f.] Werturteile schreiben also bestimmten Objekten, Ereignissen 
oder Handlungen einen bestimmten Wert zu. Dabei werden Wertprädikate benutzt wie "gut", "schlecht", "wertvoller", "am besten"   usw. {-29-}
Dabei müssen zwei Arten von Werten auseinander gehalten 
werden. Einmal die subjektiven oder individuellen Werte, die Objekte für 
einzelne Individuen oder Teilgruppen haben können. Wenn jemand z. B. sagt: "Dies 
Foto ist mir sehr wertvoll", so drückt er einen solchen individuellen Wert des 
Fotos aus. Für ein anderes Individuum kann dasselbe Foto dagegen völlig wertlos 
sein, ohne dass sich daraus ein Widerspruch ergibt. Für individuelle Werte wird 
in dieser Arbeit auch der Ausdruck "individueller Nutzen"   verwendet in Anlehnung 
an die ökonomische Terminologie.[[5] S. Dazu u. § 36.] 
Zum andern kann man Urteile über objektive oder allgemeine 
Werte abgeben, indem man z. B. sagt: "Die Partei x ist die beste". Dabei geht es 
um den Wert, den diese Partei für die Gesamtheit der Individuen hat. In dieser Arbeit wird für den allgemeinen Wert einer Sache auch 
der Ausdruck "Gesamtnutzen"   verwendet. [[6] S. Dazu u. § 38/4.]
Die Auszeichnung, wie sie in den Werturteilen ausgesagt 
wird, stellt keine individuelle sondern eine unpersönliche dar. So wenig wie ein 
Wertbegriff schließt ein Werturteil eine Beziehung auf eine bestimmte Person ein 
- sobald es nicht ausdrücklich auf eine bestimmte Person eingeschränkt wird. 
Diese Unpersönlichkeit wird dadurch ermöglicht, dass die Auszeichnung in den 
Wertbegriffen von der subjektiven Erfahrung abstraktiv gelöst und zum frei 
verfügbaren Prädikat wird."   [[7] KRAFT 1951, S. 183.] {30}
Im Unterschied zu Normen treten Werturteile wie "x ist gut"   
grammatisch im Indikativ auf und nicht im Imperativ. Trotzdem ist "gut"   keine 
empirische Eigenschaft des Gegenstandes x, und ein solches Werturteil ist 
deshalb auch keine empirische Aussage wie z. B. "x ist rot". Wenn z. B. 
Individuum A im Sinne eines unpersönlichen Werturteils von einer Regierung sagt, 
sie mache eine "gute Politik", und Individuum B bestreitet dies, so können sie 
sich über die faktische Beschaffenheit dieser Politik völlig einig sein und 
trotzdem dieselbe Politik unterschiedlich bewerten. Ein Konsens über Fakten 
impliziert also noch keinen Konsens in Bezug auf den Standard der Bewertung.
Der Wertbegriff "gut"   unterscheidet sich dadurch von einem 
rein faktischen Begriff wie "rot", dass er einen präskriptiven bzw. empfehlenden 
Gehalt hat. Allerdings ist der Übergang zwischen wertenden und beschreibenden 
Begriffen fließend, denn Wertbegriffe können auch einen sachlichen Gehalt haben, 
so wie umgekehrt deskriptive Begriffe auch einen wertenden Aspekt haben können. 
So hat das Werturteil: "Dies ist ein guter Bindfaden"   bei Voraussetzung eines 
normalen Bewertungsstandards für Bindfäden auch die faktische Bedeutung, dass 
der betreffende Bindfaden haltbar ist.[[8] S. Dazu z. B. HARE 1964, S. 79ff.] "Sie (die Wertbegriffe, E. W.) enthalten zwei Komponenten: eine rein sachliche, 
neutrale Komponente und die auszeichnende, die den eigentlichen Wertcharakter 
ausmacht".[[9] KRAFT 1951, S. 17f.]{-31-}
HARE führt den präskriptiven Charakter von Werturteilen 
noch näher aus: "Ich habe gesagt, dass es die primäre Funktion des Wortes 'gut' 
ist, zu empfehlen. Wenn wir irgendetwas empfehlen oder tadeln, so geschieht es 
immer, um zumindest indirekt Entscheidungen zu leiten ... Wir haben nur 
Standards für eine bestimmte Art von Gegenständen, wir sprechen nur von den 
Vorzügen eines Exemplars gegenüber einem andern, wir benutzen nur Wertbegriffe 
bei ihnen, wenn bekanntermaßen Gelegenheiten existieren oder denkbar sind, in 
welchen wir oder jemand anders zwischen Exemplaren wählen müsste."   [[10] HARE 
1964, S. 127 u. 128 ] 
Dieser entscheidungsleitende bzw. handlungsanleitende 
Charakter von Werturteilen wird z. B. deutlich, wenn man auf die Frage: "In 
welches Restaurant sollen wir gehen?"   die Antwort erhält: "Restaurant x ist das 
beste". Dies Werturteil ist praktisch gleichbedeutend mit der direkten 
Empfehlung: "Ihr solltet in das Restaurant x gehen!"   KRAFT führt zum 
entscheidungsleitenden Charakter unpersönlicher Werturteile aus: "Wenn man das, 
was ein Werturteil meint, umschreibend auseinanderlegt, so kann das nur in der 
Weise geschehen, dass man es durch eine Forderung, ein Sollen wiedergibt. Ein 
Werturteil ist somit keine Tatsachenaussage, keine beschreibende Darstellung, 
sondern etwas ganz anderes: die Anweisung einer Stellungnahme zu einem 
Gegenstand, und zwar allgemein und anonym, nicht von einer bestimmten Person für 
bestimmte Personen."   [[11] KRAFT 1951, S. 199]  {-32-}
Insofern Wertungen Entscheidungen leiten sollen, so müssen 
sie auch immer relativ zu bestimmten Entscheidungssituationen formuliert sein. 
Eine Entscheidung lässt sich dabei durch die vorhandenen 
Entscheidungsmöglichkeiten (Alternativen) und durch das Entscheidungssubjekt 
charakterisieren, auf das sich die Werte beziehen. Ein Gegenstand mag für ein 
Individuum einen Wert haben, und für ein anderes nicht; und er mag in der einen 
Situation wertvoll sein und in der anderen nicht.
Trotz ihrer grammatischen Form als Indikative erfüllen also 
auch Werturteile eine präskriptive Funktion, ähnlich wie Normen. Im Unterschied 
zu Normen, die Handlungen nur in gebotene, verbotene oder erlaubte klassifizieren, 
können Wertungen sehr viel differenziertere Vergleiche zwischen Handlungen 
ausdrücken. "Ein klassifikatorischer Wertbegriff liegt vor, wenn wir die 
Gegenstände einer Menge in wertvolle und wertlose einteilen. Ein komparativer 
Wertbegriff liegt vor, wenn wir die Gegenstände ihrem Wert nach vergleichen und 
von zwei Gegenständen a und b sagen können, a sei wertvoller als b, oder a sei 
ebenso wertvoll wie b. Ein metrischer Wertbegriff liegt endlich vor, wenn 
wir den Gegenständen eine Zahl zuordnen können, die ihren Wert angibt': [[12] 
KUTSCHERA 1973, S. 85. S. a. Die Abschnitte zu ordinaler und kardinaler 
Nutzenmessung §37und §38.]{-33-}
Normen und Werturteile erfüllen bei der Handlungsanleitung 
unterschiedliche Funktionen. Normen stellen eine endgültige Entscheidung für 
bestimmte Handlungen dar, während sich Wertungen gewissermaßen im Vorfeld der 
Entscheidung abspielen. Werte können ja auch einzelnen Aspekten und Folgen von 
Handlungen beigemessen werden, die dann zu einem einzigen Wertausdruck für eine 
Alternative zusammengefasst werden müssen. Werte repräsentieren gewissermaßen 
ein potentielles Entscheidungsverhalten. Aus einer vollständigen 
Bewertung einer Entscheidungssituation resultiert dann eine Norm und die 
Bestimmung der Handlung, die sein soll. Werte sind dabei etwas "zu 
realisierendes"   oder genauer: etwas "zu maximierendes", denn einem Objekt mit 
einem größeren Wert ist immer der Vorrang zu geben, so dass die Alternative mit 
dem höchsten Wert auch immer diejenige ist, für die man sich entscheiden soll.
Wenn man zu jemandem sagt: "Es ist das beste für dich, wenn 
du dich schlafen legst", so ist dieser Zusammenhang zwischen der 
höchstbewerteten Alternative und der Alternative, die sein soll, völlig klar. 
Man könnte stattdessen auch sagen: "Du solltest dich in deinem eigenen Interesse 
schlafen legen!". Wenn jemand sagen würde: "Handlung x ist die beste, aber tue 
sie nicht!", so hat er offensichtlich die entscheidungsleitende Funktion 
komparativer Werturteile nicht verstanden.
Aufgrund ihres präskriptiven Charakters beziehen sich 
Werturteile ähnlich wie Normen immer auf einen Willensinhalt, sei es der Wille 
bestimmter Individuen oder sei es ein "allgemeiner Wille"   im Sinne eines Willens 
der Gesamtheit aller Individuen. Wenn jemand in einer {-34-} Situation, wo keine 
andern Individuen mit ihren Interessen zu berücksichtigen sind, sagt: "Alternative x ist die beste für mich, aber ich will sie nicht", so ist das 
widersinnig. Oder mit RUSSELL gesprochen: "Es ist wohl klar, dass wir nie auf 
die Gegenüberstellung von gut und schlecht gekommen wären, wenn wir keine 
Wünsche hätten. … Wenn es uns gleichgültig wäre, was uns geschieht, würden wir 
nicht an den Dualismus von gut und schlecht, recht und unrecht, lobenswert und 
tadelnswert glauben. [[13]  RUSSELL 1956, S. 57.
§ 5 Normen als Entscheidungen in Interessenkonflikten
Wie oben ausgeführt wurde, geben Normen einen 
handlungsverbindlichen Willensinhalt in unpersönlicher Form wieder. Eine 
Auseinandersetzung um alternative Normen ist also immer ein Streit um die 
Durchsetzung unvereinbarer Willensinhalte. Normen, hinter denen überhaupt kein 
Wille steht, sind damit für das Problem einer Bestimmung gültiger Normen 
irrelevant, denn um derartige Normen kann man sich nicht sinnvoll streiten, da niemand 
sie vertritt.
Ebenfalls irrelevant sind Normen, die nicht wenigstens mit 
dem Handeln oder Wollen eines einzigen Individuums tatsächlich oder potentiell 
kollidieren. Wenn sich sowieso jeder in der durch die Norm vorgeschriebenen 
Weise verhält, so ist eine Normierung überflüssig. Normen sind als 
Entscheidung in Willens- bzw. Interessenkonflikten nur dann notwendig, wenn 
mindestens ein Individuum etwas tut oder möglicherweise tun könnte, was 
mindestens ein anderes Individuum nicht will. 
Auch KAMBARTEL sieht in {-35-} der 
Interessenkollision den Kern des moralischen Problems. "Eine Interessenkollision 
sei definitionsgemäß genau dann gegeben, wenn für die in einem 
Handlungszusammenhang stehenden Personen oder Gruppen keine Handlungsweisen 
verfügbar sind, die es ihnen gestatten, alle ihre Interessen zu verfolgen, und 
zwar deswegen nicht, weil die Einlösung bestimmter Interessen stets, d. h. welche 
Handlungsweise man auch vorsieht, das Zurückstellen anderer Interessen 
bedeutet."   [[14] KAMBARTEL 1974c, S. 65 ] Auch SCHWEMMER ist der 
Ansicht, "dass eine Ethik ... nur für die Wertungen ein Begründungsprinzip 
aufzustellen hat, die konfliktfördernd oder -hindernd, d. h. konfliktrelevant 
sind". [[15] SCHWEMMER 1973, S. 78.]
Dabei müssen diejenigen Individuen, die für eine Norm 
eintreten und diejenigen, die tatsächlich oder potentiell entgegen dieser Norm 
handeln, nicht zwei personell verschiedene Gruppen darstellen. Es ist vor allem 
bei generellen Normen auch möglich, dass sich Individuen in beiden Gruppen 
gleichzeitig befinden, ja sogar, dass sich alle Individuen in beiden 
Gruppen der Befürworter als auch der potentiellen Verletzer der Norm 
gleichzeitig befinden. Der normativ geregelte Konflikt hat dann nicht nur eine
interindividuelle sondern auch eine intraindividuelle Dimension. 
Es lässt sich auch der Extremfall denken, wo es sich bei den Befürwortern und 
den Übertretern der Norm um ein und dieselbe Person handelt. Z. B. kann sich 
jemand die Norm {-36-} für das eigene Verhalten setzen, sich nicht zu betrinken, 
obwohl - oder richtiger gerade weil - er es gelegentlich doch tut bzw. 
möglicherweise tun würde. Es handelt sich dann um einen Konflikt zwischen 
verschiedenen Willensregungen, die zu verschiedenen Zeitpunkten in ein und 
derselben Person auftreten.
Die Feststellung, dass Normen ohne einen zu regelnden 
Konflikt irrelevant sind, bedeutet allerdings nicht, dass es sich immer um Interessenkonflikte im eigentlichen Sinne handeln muss, sondern es können 
auch Konflikte sein, die allein aus einer mangelnden Koordinierung der 
individuellen Handlungen entstehen. Dabei kann es den Individuen von ihrer 
Interessenlage her völlig gleichgültig sein, auf welche Regelung man sich 
einigt, aber irgendeine Regelung ist notwendig, damit man gegenseitig die 
Handlungen aufeinander abstimmen kann. Beispiele für solche Koordinierungsregeln 
sind etwa Verkehrsregeln wie "Wer von rechts kommt, hat Vorfahrt"   oder "Es muss 
rechts gefahren werden". 
Auch viele Verabredungen haben rein koordinativen 
Charakter, z. B. ob man sich um 7 Uhr oder um 8 Uhr zum Essen trifft. Selbst 
wenn jedem der Beteiligten die möglichen alternativen Regelungen völlig 
gleichgültig sind, so wird doch jeder ein Interesse an irgendeiner 
Regelung haben, um das sonst für ihn unberechenbare Verhalten des andern 
voraussehbar zu machen. Da man sich allerdings um den Inhalt reiner 
Koordinierungsregeln nicht streiten kann. Da diese einem ja per Definition 
gleichgültig sind, brauchen sie im Zusammenhang des {-37-} Gültigkeitsproblems 
nicht weiter behandelt zu werden. [[16] Vgl. zur Koordinationsfunktion von 
Normen LUHMANN 1969. Allerdings scheint LUHMANN nur diesen Aspekt des 
Normenproblems zu sehen und den Aspekt des Interessenkonfliktes völlig zu 
vernachlässigen.]
§ 6 Geltungsformen von Normen
1. Die Existenz einer Norm
Wie anfangs bereits ausgeführt, geht es in dieser Arbeit um 
die Frage, mit welchen Methoden über den Anspruch auf Gültigkeit einer Norm 
entschieden werden kann. Um nun präzise zu bestimmen, was unter der "Gültigkeit"   
einer Norm verstanden werden soll, müssen vorweg einige begriffliche Klärungen 
vorgenommen werden.
Von der "Existenz"   einer Norm soll gesprochen werden, wenn 
eine Norm tatsächlich wirksam ist, wenn sie also mit dem Anspruch auf Befolgung 
tatsächlich vertreten wird. Dies setzt im Allgemeinen ihre Verkündung gegenüber 
den Normadressaten und ihre Sanktionierung voraus. Wenn jemand einen 
anderen überfällt und ruft: "Hände hoch oder ich schieße!", so handelt es sich 
dabei um eine existierende Norm: sie wurde verkündet und mit einer 
ausdrücklichen Sanktionsdrohung verbunden.[[17] Vgl. zur Definition der "Existenz"   einer Norm WRIGHT 1963, S. 107 ff.]
Um über die Existenz einer bestimmten Norm zu entscheiden, 
bedarf es einer empirischen Untersuchung der Realität. So informiert uns z. B. 
Die empirische Ethnologie darüber, welche unterschiedlichen Normensysteme bei 
verschiedenen Völkern existieren. [[18] Diese effektive Existenz einer Norm 
muss von einer bloß "symbolischen Existenz"   unterschieden werden. Wenn jemand 
etwa im Rahmen einer theoretischen Untersuchung ein Beispiel für eine Norm 
erfindet, so hat diese nur eine rein symbolische Existenz. Wenn im Folgenden von 
der "Existenz"   einer Norm die Rede ist, so handelt es sich dabei immer um die "effektive Existenz"   einer gegenüber Normadressaten verkündeten und 
sanktionierten Norm.] { -38-}
Eine existierende Norm stellt immer eine Gehorsamsforderung 
dar, wobei mit der Gehorsamsforderung nicht notwendig der Anspruch verbunden 
sein muss, dass diese auch argumentativ gerechtfertigt werden kann.
2. Die Gültigkeit einer Norm
Von der "Gültigkeit"   einer Norm soll gesprochen 
werden, wenn die Existenz dieser Norm gegenüber jedermann argumentativ 
gerechtfertigt werden kann. Eine Entscheidung über die Gültigkeit einer 
Norm beantwortet also die Frage, ob die Existenz dieser Norm gerechtfertigt ist 
oder nicht bzw. ob eine Norm eingeführt oder abgeschafft werden soll oder 
nicht.[[19] Analog dazu beantwortet eine Entscheidung über die Wahrheit einer empirischen Aussage die Frage, ob die Annahme dieser Aussage 
gerechtfertigt ist oder nicht bzw. ob diese Annahme beibehalten werden soll oder 
nicht.] Die Frage der Gültigkeit von Normen bezieht sich also auf 
normsetzende Handlungen: man gelangt zur Forderung, gültige Normen einzuführen 
oder beizubehalten bzw. ungültige Normen abzuschaffen oder nicht 
einzuführen.{-39-}
KUTSCHERA spricht anstelle der "Gültigkeit"   einer Norm von 
der "absoluten Geltung"   einer Norm. Im Unterschied zur "relativen Geltung"   wird 
hier nicht gefragt, "ob nach den heute gängigen Wertvorstellungen unserer 
Gesellschaft eine demokratische Staatsauffassung besser ist als eine 
oligarchische, sondern ob eine Demokratie an sich und von der Sache her besser 
ist als Oligarchie. Solche absoluten Geltungsfragen spielen besonders in 
der Ethik eine große Rolle. Dabei geht es also nicht um die relative Begründung 
von Norm- oder Wertsätzen auf der Basis eines vorgegebenen Normen- oder 
Wertsystems, sondern um die Begründung der Aussagen eines solchen Systems 
selbst."   [[20] KUTSCHERA 1973, S. 131 ]
Die einzelnen Elemente der hier gegebenen Definition von 
Gültigkeit bedürfen noch einer näheren Erläuterung.
1.) Die Gültigkeit von Normen impliziert nicht bereits ihre unmittelbare Verbindlichkeit für das Handeln.
Es geht bei der Gültigkeit um die Rechtfertigung der 
sozialen Existenz von Normen, nicht jedoch um die Rechtfertigung der 
individuellen Befolgung von Normen. Dass man Normen für gültig halten 
kann, ohne sie deshalb als verbindlich für das eigene Handeln ansehen zu müssen, 
soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Man hält etwa die Norm für gültig, 
dass sich die Kunden in einem Laden zur Abfertigung hinten anstellen sollen 
(d. h. 'Die Reihenfolge der Abfertigung soll gleich der Reihenfolge der Ankunft 
sein'.) Wenn diese Norm jedoch gar nicht effektiv existiert und niemand wartet, 
bis er an der Reihe ist, so ist die Norm auch für mich nicht verbindlich 
{-40-} und ich bin nicht verpflichtet, diese Norm individuell zu befolgen, 
selbst wenn ich sie weiterhin für gültig halte und für ihre Einführung eintrete. 
Gültige Normen werden demnach nur unter der Bedingungen für das Handeln 
verbindlich, dass sie existieren, also effektiv angewendet werden.
 2.) Umgekehrt kann auch eine Norm für das Handeln 
verbindlich sein, ohne dass sie deshalb Gültigkeit besitzen muss.  
Ich kann z. B. Die Norm für gültig halten, dass die 
Mehrheit der Individuen auf bestimmten Bereichen das Recht hat, für alle 
Individuen verbindliche Normen zu beschließen. Daraus folgt jedoch nicht, dass 
ich deshalb jede einzelne Mehrheitsentscheidung für gültig halten muss. 
Ich kann auch als Anhänger des Mehrheitsprinzips ohne weiteres gegen die Existenz und für die Revision einer bestimmten Mehrheitsentscheidung 
eintreten, die ich für "falsch"   halte. Allerdings besitzt diese 
Mehrheitsentscheidung für mein Handeln Verbindlichkeit. Das 
veranschaulicht, dass Verbindlichkeit nicht notwendigerweise Gültigkeit 
einschließt.
 3.) Die Frage nach der Gültigkeit einer Norm muss außerdem 
von der Frage nach ihrer relativen Geltung unterschieden werden.  
"Eine Frage nach der Geltung eines Gebots oder 
Verbots oder nach dem Wert einer Sache bezieht sich oft explizit oder implizit 
auf ein System von Normen oder Werten, deren Geltung vorausgesetzt und nicht 
angezweifelt wird. Es ist dann die Frage, ob die problematische Norm oder der 
problematische Wert aufgrund der Umstände in diesem System gilt oder 
nicht. Solche Fragen bezeichnen wir als relative Geltungsfragen. Sie 
lassen sich auf logische und empirische {-41-} Fragen zurückführen"   [[21] 
KUTSCHERA 1973, S. 130.] Eine Norm besitzt z. B. dann Geltung, wenn sie von 
einer Instanz gesetzt wurde, die durch eine existierende Norm höherer Ordnung 
zur Setzung dieser Norm befugt war. 
Der Begriff der Geltung einer Norm 
ist also immer relativ zu einem existierenden Normensystem und über die Geltung 
einer Norm kann deshalb auch immer nur relativ zu dieser übergeordneten 
Norm befunden werden. Dabei spielt die Frage, ob es sich dabei um ein gültiges 
Normensystem handelt, keine Rolle. Entscheidend ist allein die effektive 
Existenz eines solchen Normensystems. Selbst den Anweisungen eines 
Gefängnisaufsehers in einem Konzentrationslager kommt Geltung zu, insofern er 
durch das existierende faschistische Rechtssystem zur Erteilung solcher 
Anweisungen befugt ist. Dabei spielt die Frage der Gültigkeit des übergeordneten 
Rechtssystem keine Rolle. [[22] Zur Geltung von Normen s. WRIGHT 1963, S. 194 
ff. sowie KELSEN 1970, S. 10ff. Allerdings stellen beide die Frage nach der 
Gültigkeit von Normen nicht. Der englische Ausdruck für "Geltung"   ist bei ihnen "validity".]
Mit der Frage nach der Geltung einer bestimmten Norm in 
Bezug auf ein bestimmtes existierendes Normensystem sowie möglichen Verletzungen 
geltender Rechtsnormen beschäftigt sich vor allem die Rechtswissenschaft. Dabei 
müssen nur Fragen nach der Existenz und dem Gehalt von Normen beantwortet 
werden, ohne dass die Frage nach ihrer Gültigkeit aufgeworfen wird. 
{-42-}
4.) Die Gültigkeit einer Norm soll gegenüber jedermann argumentativ gerechtfertigt werden können.
Mit 'Gültigkeit' ist also immer 'Allgemeingültigkeit' 
gemeint, d. h. es wird ein allgemeiner Konsens beansprucht. Wenn folglich 
jemand behauptet, dass eine Norm N1 gültig ist, so macht er damit nicht nur eine 
Feststellung über sich und sein eigenes Interesse wie z. B. in dem Satz: "Die 
Norm N1 entspricht meinem Eigeninteresse", sondern er behauptet, dass die 
Rechtfertigung der Existenz dieser Norm für jedermann nachvollziehbar 
ist. 
Dies bedeutet, dass die Gültigkeit einer Norm nicht relativ 
zu einzelnen Subjekten bestehen kann, sondern immer "intersubjektiv"   besteht. 
Zwar wird eine strittige Norm von einem Individuum für gültig und vom andern für 
ungültig gehalten, aber eine Norm kann nach der obigen Definition von 
Gültigkeit niemals zugleich für den einen gültig und für den andern ungültig sein. Insofern bedeutet die Entscheidung über die Gültigkeit einer Norm N1 
eine für alle Individuen gleiche Antwort auf die Frage: "Soll die Norm N1 
existieren oder nicht?"  
 5.) Die Existenz einer gültigen Norm soll gegen über 
jedermann argumentativ gerechtfertigt werden können.  
Es muss also ein argumentativer Konsens herstellbar sein 
und nicht ein Konsens, in den irgendeine Form von Zwang oder Sanktion eingeht. 
Über die Gültigkeit einer Norm kann also nur argumentativ entschieden werden. 
Unter "Argumenten"   sollen dabei nur solche sprachlichen Mitteilungen 
verstanden werden, deren Wirkung auf das Urteil eines Individuums die Anerkennung {-43-} dieser Mitteilung 
als richtig durch das Individuum 
voraussetzt. Damit sind andere Formen der Beeinflussung wie Sanktionsdrohung 
oder Suggestion ausgeschlossen. Denn dies sind entweder keine sprachlichen 
Mittel, wie z. B. Anwendung von Zwang, oder aber sie bewirken auch dann eine 
Veränderung der Meinung des Individuums, wenn die Mitteilung vom Individuum 
nicht als richtig akzeptiert worden ist. Die Drohung "... oder ich schieße!"   ist 
z. B. kein Argument, denn sie bewirkt die Anerkennung jedes beliebigen Befehls, 
selbst wenn das Individuum den Befehl nicht als gültig akzeptiert. [[23] Zur 
näheren Charakterisierung von Argumenten s. u. § 9.]
Es wird also hier nicht gefordert, dass die Norm tatsächlich gegenüber jedermann gerechtfertigt wird - was aus verschiedenen 
Gründen unmöglich ist, sondern nur dass dies möglich sein muss. Die Norm 
muss also nur Konsensfähig sein, ohne dass immer ein faktischer 
Konsens existieren muss.
3. Universale Gültigkeit und partikulare Rationalität von 
Normen
Eine gültige Norm muss gegenüber jedermann gerechtfertigt 
werden können. Insofern könnte man auch genauer von einer universalen 
Gültigkeit oder Allgemeingültigkeit von Normen sprechen. Nun gibt es jedoch auch 
Normen, für die nur beansprucht wird, dass sie gegenüber bestimmten 
Individuen gerechtfertigt werden können. Man kann dies als {-44-} eine partikulare Gültigkeit oder als 
Rationalität dieser Normen bezogen 
auf bestimmte Individuen bezeichnen. In der ethischen Literatur werden Normen 
mit universalem Gültigkeitsanspruch auch als "moralische Normen"   bezeichnet, 
während man partikular gültige Normen als "Klugheitsregeln"   bezeichnet. Der 
partikulare Gültigkeitsanspruch solcher Normen kann sich dabei auf ein einziges 
Individuum, eine Gruppe oder eine Organisation beziehen.
Wenn es sich um Normen partikularer Art, um "Klugheitsregeln"   handelt, gehen die übrigen Individuen nicht als Subjekte in 
die Überlegungen ein, denen gegenüber eine Rechtfertigung möglich sein muss, 
sondern sie werden nur als vorhandene Umweltbedingungen berücksichtigt, ebenso 
wie etwa Situationsbedingungen rein sachlicher Art. Beispiele für solche 
Normensysteme partikularer Gültigkeit sind etwa betriebswirtschaftliche oder 
militärische Strategien, bei denen die anderen Subjekte nur als ökonomische 
Konkurrenten oder militärische Feinde einkalkuliert werden. [[24] Mit KANT 
gesprochen werden sie nur als Mittel und nicht zugleich auch als Zwecke 
angesehen. S. KANT 1967, S. 79.]
Die Probleme, die sich bei der Bestimmung rationaler Normen 
ergeben, sind teilweise analog zu denen, die sich bei der Bestimmung gültiger 
Normen ergeben. Insofern kann die formale Entscheidungstheorie, die 
gewissermaßen die Methodologie zur Aufstellung von Klugheitsregeln ist, auch für 
eine normative Methodologie nützliche Hinweise geben. [[25] So kann ein 
Teilkollektiv z. B. aus Individuen mit unterschiedlichen Eigeninteressen 
bestehen, und wenn sich das partikulare Kollektiv so sehr "universalisiert", 
dass es alle Individuen umfasst, so fallen allgemeine "Gültigkeit"   und 
partikulare "Rationalität"   von Normen zusammen.]{-45-}
Jedoch können Verfahren partikularer Rationalität keinen 
Ersatz für universal gültige Normensysteme darstellen. Die Anwendung von 
Rationalkriterien auf das Handeln verschiedener Entscheidungsträger führt 
nämlich nicht notwendig zu miteinander vereinbaren Handlungsverläufen, sondern 
u. U. zu offenen Konflikten. Damit würde sich jedoch das Problem universal 
gültiger Normen des Handelns erneut stellen, sofern man eine Rechtfertigung des 
eigenen Handelns und eine argumentative Entscheidung des Streits will. 
Bereits von KANT ist klar erkannt worden, dass subjektive 
Rationalität bzw. Das 'Prinzip der Selbstliebe' ungeeignet ist zur Bestimmung 
universal gültiger Normen bzw. 'allgemeiner praktischer Gesetze', wie KANT es 
formuliert. "Prinzipien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der 
Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten, alsdann sind es 
aber bloß theoretische Prinzipien, (z. B. wie derjenige, der gerne Brot essen 
möchte, sich eine Mühle auszudenken habe). Aber praktische Vorschriften, die 
sich auf sie gründen, können niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund 
des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als 
allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet angenommen werden kann, gegründet. 
[[26] KANT 1966, S. 44f. Allerdings ist KANT nicht zuzustimmen, wenn er 
daraus schließt, dass die Inhalte bzw. Die 'Materie' des Willens der Individuen 
bei der Bestimmung gültiger Normen überhaupt keine Rolle spielen dürfen, sondern 
nur "die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung". S. Dazu unten § 31 zum 
Solidaritätsprinzip, das den allgemeinen Willen aus den individuellen Willen 
hervorgehen lässt.]{-46-}
Allerdings können Normensysteme partikularer Rationalität 
dann indirekt einen universal gültigen Charakter annehmen, wenn sie ihre Geltung 
aus einem universal gültigen Normensystem beziehen. Dabei wird dem betreffenden 
Handlungsträger durch übergeordnete Normen erlaubt, in einem bestimmten Bereich 
nach seinen eigenen Klugheitserwägungen zu handeln. Für eine 
betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie kann dieser universale Rahmen etwa 
durch das existierende Eigentumsrecht gegeben sein, das dem Eigentümer - 
innerhalb bestimmter Beschränkungen - erlaubt, mit seinem Eigentum nach eigenem 
Interesse zu verfahren.
Die Problemstellung dieser Arbeit wird sich vor allem auf 
das Problem der universalen Gültigkeit von Normen beziehen und Normen 
partikularer Rationalität nur heranziehen, wenn diese hierfür von Bedeutung 
sind. Wenn deshalb im Folgenden von "Gültigkeit"   die Rede ist, so ist damit 
immer die universale Gültigkeit bzw. Allgemeingültigkeit gemeint.{-47-}
3. Kapitel
 Das 
Intersubjektivitätsgebot der normativen Methodologie
 
§ 7 Das Intersubjektivitätsgebot
Wie lässt sich nun die Gültigkeit einer Norm begründen, wie lässt sich ihre 
Existenz argumentativ gegenüber jedermann rechtfertigen? Das bloße faktische "Für-gültig-halten"   
und die einfache Zustimmung zu einer Norm reichen offensichtlich nicht aus, denn 
die Individuen können unterschiedlicher Meinung über die Gültigkeit einer Norm 
sein. Diese Uneinigkeit ist ja der Grund dafür, dass das Gültigkeitsproblem 
überhaupt aufgeworfen wird: Ausgangspunkt der Überlegungen ist gerade der
Streit um Normen.
Eine andere Möglichkeit zum Nachweis der Gültigkeit einer 
Norm bestünde darin, dass man diese Norm logisch aus einer übergeordneten 
gültigen Norm deduziert. Da man aber dann die Gültigkeit dieser normativen 
Prämisse begründen müsste, wäre das Problem dadurch höchstens verschoben aber 
nicht gelöst. Man stände dann vor dem Dilemma, entweder einen unendlichen 
Regress vorzunehmen oder aber an einer bestimmten Stelle diesen Regress 
abzubrechen und durch eine willkürliche Setzung bestimmte oberste Normen 
einzuführen. [[1] Dies Argument wird z. B. bei ALBERT 1969, S. 13 angeführt.]
Wie lässt sich nun dies scheinbar aussichtslose Dilemma 
auflösen? Lässt sich eine Norm finden, die jeder für gültig halten und als 
verbindlich für sein Handeln anerkennen muss, der sich an der Argumentation über 
{-48-} die Gültigkeit von Normen beteiligt? Falls eine solche Norm gefunden 
werden kann, könnte sie als methodisches Kriterium dienen, um über die 
Gültigkeit von Normen zu entscheiden. 
Tatsächlich lässt sich eine solche oberste 
methodische Norm bestimmen. Sie lässt sich sehr einfach in dem Satz: "Suche 
nach gültigen Normen !"  zusammenfassen. Diese Norm soll im Folgenden als 
Intersubjektivitätsgebot der normativen Methodologie bezeichnet werden, da 
es sich um das Gebot handelt, zu Normen zu gelangen, die auch andere 
Subjekte aufgrund von Argumenten anerkennen können. Alle Normen bzw. 
Rechtfertigungen von Normen, die mit dem Intersubjektivitätsgebot nicht 
vereinbar sind, wären damit als ungültig erwiesen.
Ein ähnliches Kriterium, wie das Intersubjektivitätsgebot 
ist bereits von verschiedenen Autoren formuliert worden. LORENZEN spricht z. B. 
von der Forderung nach "Transzendierung der Subjektivität"   bzw. Dem "Grundgesetz 
der Transsubjektivität". [[2] "Um einen Terminus zu haben, der sich an die 
philosophische Tradition anschließt, sei hier die - zunächst nur für die 
Wahrheit von Aussagen - geforderte Überwindung der Subjektivität auch 
'Transzendenz der Subjektivität', abkürzend 'Transsubjektivität' genannt... Mit 
dem Terminus 'Transsubjektivität' wird nur das festgehalten, worauf sich jeder 
'immer schon' eingelassen hat, wenn er sich z. B. überhaupt auf ernsthafte 
Gespräche eingelassen hat - ja sogar 'immer schon', wenn er überhaupt zu reden 
begonnen hat."   LORENZEN 1974, S. 35f. ]
Es erscheint jedoch sinnvoll, von Intersubjektivität 
zu sprechen, weil Transsubjektivität so verstanden werden könnte, als gäbe 
es ein Gültigkeitskriterium "über"   oder "jenseits"   der Individuen. "Gültigkeit"   
ist jedoch wie empirische "Wahrheit"   eine Angelegenheit "zwischen"   den 
Individuen. Der Anspruch {-49-} auf Gültigkeit der vertretenen Normen ist ein 
Anspruch eines Individuums gegenüber einem anderen, er konstituiert 
gewissermaßen ein gesellschaftliches Verhältnis.
Außerdem soll die Verwandtschaft des normativen 
Intersubjektivitätsgebots mit dem entsprechenden Intersubjektivitätsgebot der 
empirischen Methodologie hervorgehoben werden. Wie im Folgenden noch deutlich 
werden wird, verläuft die kritische Anwendung des normativen 
Intersubjektivitätsgebots weitgehend analog zu der Kritik an 
Immunisierungsstrategien in den Erfahrungswissenschaften.
HABERMAS formuliert ein ähnliches Kriterium wie das 
Intersubjektivitätsgebot, wenn er als Ziel von praktischen Diskursen, die der 
Rechtfertigung empfohlener Normen dienen, "eine rational motivierte Entscheidung 
über die Anerkennung (oder Ablehnung) von diskursiv einlösbaren 
Geltungsansprüchen"   nennt. "Was die rational motivierte Anerkennung des 
Geltungsanspruchs einer Handlungsnorm bedeutet, geht aus dem diskursiven 
Verfahren der Motivierung hervor."   Ein Diskurs ist dabei unter anderem dadurch 
ausgezeichnet, "dass kein Zwang außer dem des besseren Argumentes ausgeübt wird: 
dass infolgedessen alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche 
ausgeschlossen sind."   [[3] HABERMAS 1973, S. 148 ]
Allerdings will HABERMAS die Bedingungen eines derartigen 
Diskurses nicht als methodologische Kriterien normativer Erkenntnis verstanden 
wissen, die ausdrücklich aufgestellt {-50-}werden müssen. Er sieht sie bereits 
in der Umgangssprache verankert, die insofern eine Art transzendentale Basis der 
Erkenntnis darstellt: "Eine kognitivistische Sprachethik bedarf keines Prinzips; 
sie stützt sich allein auf Grundnormen der vernünftigen Rede, die wir, sofern 
wir überhaupt Diskurse führen, immer schon supponieren müssen."   [[4] HABERMAS 
1973, S. 152. Zum Unterschied der Auffassungen LORENZENs und HABERMAS siehe 
KAMBARTEL 1974c, S. 9ff.]  
Das oben formulierte Intersubjektivitätsgebot 
lässt sich in der Terminologie von HABERMAS als die Aufforderung formulieren, 
normative Streitfragen diskursiv zu entscheiden. Wenn das 
Intersubjektivitätsgebot von jedem Beteiligten verlangt, nach einem 
argumentativen Konsens zu streben, so ist damit eine Abgrenzung zu einem bloß 
erzwungenen Gehorsam vollzogen und "die entscheidende Differenz zwischen dem 
Gehorsam gegenüber konkreten Befehlen und der Befolgung von intersubjektiv 
anerkannten Normen " [[5] HABERMAS 1973, S. 143 ] benannt.
§ 8 Die Begründung des Intersubjektivitätsgebots
Wie lässt sich nun das Intersubjektivitätsgebot "Suche nach 
gültigen Normen!"   bzw. "Suche nach Normen, die argumentativ konsensfähig 
sind!"   als verbindlich für jedes Individuum nachweisen, das sich an der 
Argumentation über die Gültigkeit von Normen beteiligt? Die Antwort lautet, dass 
es sinnlos ist, mit jemandem über die Gültigkeit von Normen zu diskutieren, dem 
es gar nicht um die Gültigkeit von Normen geht und der nicht zumindest für die 
von ihm vertretenen Normen nicht nur Gehorsam, sondern auch intersubjektive 
Gültigkeit beansprucht. 
Wenn jemand für {-51-} seine Normen keine Gültigkeit 
beansprucht, so braucht auch nicht dagegen argumentiert zu werden. Seine 
Auffassungen können einem insoweit "gleichgültig"   sein.[[6] In 
ähnlicher Weise kann man auch nicht über Aussagen streiten, die nicht "Wahrheit"   
beanspruchen. Wenn jemand sagt: "Für mich ist der Ball grün"   so ist es sinnlos, 
mit ihm darüber zu streiten. Etwas anderes ist es, wenn er allgemein sagt: "Der 
Ball ist grün"   und damit für mich die Aufforderung verbindet, diesen Satz zu 
übernehmen].
Wenn er aber trotzdem seine Normen mir gegenüber durchsetzen will, so ist 
das dann keine Frage von Argumenten mehr, sondern höchstens eine Frage der 
Macht. Jemand, der für die von ihm vertretenen Normen keine Gültigkeit 
beansprucht, sondern allein Gehorsam, hat damit sein Verhältnis zu den 
Adressaten der Norm als ein reines Gewaltverhältnis definiert, gegen das man 
sich mit andern Mitteln als Argumenten zur Wehr setzen muss.
Es ist also festzuhalten: Das Intersubjektivitätsgebot kann 
zwar nicht als gültig für jedes Individuum nachgewiesen werden, aber es kann 
gezeigt werden, dass eine normative Argumentation nur dann sinnvoll ist, wenn 
alle Teilnehmer das Intersubjektivitätsgebot als für sich verbindlich 
anerkennen. Wer jedoch gar nicht argumentieren will, kann auch nicht Quelle von 
allgemeingültiger Kritik sein und braucht bei Erkenntnisproblemen nicht 
berücksichtigt zu werden.[[7] Die Problemsituation ähnelt dem von POPPER 
analysierten Dilemma, "Rationalität"   zu rechtfertigen gegenüber einem 
Irrationalisten. Vgl. POPPER 1966, Bd. II, S.228ff. Vgl. auch ALBERT 1969, S.13 
. Allerdings unterscheidet sich der Lösungsweg: ALBERT meint, überhaupt auf das 
Ziel der Rechtfertigung verzichten zu müssen, während hier die Position 
vertreten wird, dass nur gegenüber demjenigen eine Rechtfertigung bzw. 
Argumentation unmöglich aber auch unnötig ist, der das Intersubjektivitätsgebot 
nicht anerkennt.] {-52-}
Ähnlich begründet APEL ein derartiges oberstes Prinzip: "Wer die m. E. durchaus sinnvolle Frage nach der Rechtfertigung des 
Moralprinzips stellt, der nimmt ja schon an der Diskussion teil, und man kann 
ihm 'einsichtig machen', was er 'immer schon als Grundprinzip akzeptiert hat und 
dass er dies Prinzip als Bedingung der Möglichkeit und Gültigkeit der 
Argumentation durch willentliche Bekräftigung akzeptieren soll. Wer dies 
nicht einsieht bzw. nicht akzeptiert, der scheidet damit aus der Diskussion aus. 
Wer aber nicht an der Diskussion teilnimmt, der kann überhaupt nicht die Frage 
nach der Rechtfertigung ethischer Grundprinzipien stellen ..."   [[8] APEL 
1973, S. 420f.]
Damit ist ein für alle normativ Argumentierenden 
verbindliches methodologisches Kriterium aufgestellt worden. Die Frage wird im 
Folgenden sein, wie sich dies Kriterium - auch unter Zuhilfenahme weiterer 
begründeter Annahmen - entfalten lässt und damit zu einer Überprüfung konkreter 
Normen geeignet ist.
§ 9 Beweggründe und Vernunftgründe
Im Intersubjektivitätsgebot ist die Unterscheidung zwischen 
bloßen Beweggründen (Motiven) und Vernunftgründen (Argumenten) enthalten, wobei 
das Intersubjektivitätsgebot fordert, zur Herstellung eines Konsens bei der 
Beantwortung der gestellten Fragen nur Vernunftgründe anzuwenden. Insofern wird 
durch das Intersubjektivitätsgebot ein argumentativer Konsens 
gefordert. Die Frage ist, was Vernunftgründe gegenüber bloßen Beweggründen 
auszeichnet. {-53-} 
Vorweg ist festzuhalten, dass auch Vernunftgründe 
Beweggründe sein können, denn ich kann jemanden auch mit Vernunftgründen zur 
Bejahung oder Verneinung einer Behauptung "bewegen". Voraussetzung dafür ist, 
dass er überhaupt für Argumente zugänglich ist und bereits das Motiv hat, 
dem Intersubjektivitätsgebot entsprechend zu verfahren. Sein Wille zur 
Wahrheitssuche bzw. zur Gewinnung allgemeingültiger Erkenntnis muss also bereits 
eine solche Stärke haben, dass er auch "eingefleischte"   Ansichten und 
Denkgewohnheiten aufgrund von Argumenten aufgeben kann. Ein Vernunftgrund nimmt 
seine motivierende Kraft also aus dem übergeordneten Motiv, nach 
allgemeingültiger Erkenntnis zu streben, auch wenn sie subjektiv unangenehm sein 
mag.
Dies Motiv zur Vernunft kann keineswegs bei jedem 
Individuum als in ausreichender Stärke vorhanden vorausgesetzt werden. 
(Allerdings kann es von jedem gefordert werden, der für bestimmte Erkenntnisse 
Allgemeingültigkeit behauptet oder bestreitet). Sein Aufbau in der Person ist 
eher als Ergebnis einer kulturellen Anstrengung zu verstehen, die aufgrund von 
Erziehung und Selbsterziehung eine 'intellektuelle Redlichkeit' erzeugt, die zur 
jederzeitigen Korrektur argumentativ nicht haltbarer Auffassungen bereit ist. 
Insofern der Wille zur Wahrheitssuche jedoch ungenügend entwickelt ist, sind 
Argumentationen zum Scheitern verurteilt.[[9] Damit ist auch eine Grenze für 
die praktische Wirksamkeit wissenschaftlicher Argumentation und damit auch für 
eine Arbeit wie diese angezeigt. Es wird also keineswegs von einem naiven 
Glauben an die Wirksamkeit vernünftiger Argumentation ausgegangen.] {-54-}
Was zeichnet nun Vernunftgründe gegenüber sonstigen 
Beweggründen aus? Beide können Individuen zur Bejahung oder Verneinung einer 
Behauptung motivieren. Aber warum ist z. B. Die Drohung, jemand werde seine 
berufliche Stellung verlieren, wenn er nicht einer bestimmten Auffassung 
zustimmt, zwar für das betreffende Individuum vielleicht ein Motiv, der 
Auffassung zuzustimmen, jedoch kein Argument?
Eine Drohung oder eine andere Form der Gewaltanwendung kann 
zwar ein Beweggrund aber kein Vernunftgrund sein, weil die dadurch erzeugt 
Bejahung oder Verneinung einer Behauptung nicht dem eigenen Urteil des 
betreffenden Individuums entspricht, sondern den Konsens mittels irgendeiner 
Form von Gewalt herstellt. Ein Argument muss gewaltfrei intersubjektiv 
nachvollziehbar sein und muss vom andern aus freiem Urteilsvermögen geteilt 
werden können. Oder anders ausgedrückt: ein Vernunftgrund liegt im betreffenden 
Individuum selber und beruht nicht auf der Einwirkung eines fremden Willens.
Das von fremdem Willen unabhängige Urteilsvermögen eines 
Individuums drückt sich darin aus, dass Argumente nur unter der Bedingung 
als Beweggrund wirken wollen, dass sie vom Individuum selbst anerkannt werden. 
Nur wenn das Individuum gegenüber einem Einfluss auf seine Auffassungen 
prinzipiell die Möglichkeit hat, 'nein' zu sagen und dadurch diesen Einfluss 
aufzuheben, handelt es sich um ein Argument. Eine Drohung oder eine manipulative 
Suggestion wirkt jedoch selbst dann als Beweggrund, wenn sie vom Individuum 
nicht selber anerkannt werden. {-55-}
Dies kann noch einmal durch ein Beispiel aus der 
empirischen Methodologie verdeutlicht werden. Zu den "schlagendsten"   Argumenten 
in Auseinandersetzungen um Behauptungen über die Beschaffenheit der Realität 
gehört der Hinweis: "Überzeuge dich doch selbst mit deinen eigenen Augen von der 
Richtigkeit meiner Behauptung!"   Ein solches Argument enthält keinerlei Elemente 
von Gewalt oder Zwang. Trotzdem führt es gewöhnlich zu einem Konsens aller 
Beteiligten in empirischen Fragen, insofern die subjektiven Wahrnehmungen der 
Individuen übereinstimmen. Dabei ist das kritische Urteilsvermögen der 
Individuen nicht ausgeschaltet oder umgangen worden, sondern die Individuen 
haben aufgrund ihres eigenen Sinneseindrucks das Argument akzeptiert. Die 
Entscheidung darüber, ob sie der Behauptung zustimmen oder sie ablehnen, war 
damit nicht vom Willen eines andern Individuums abhängig.
Wo dagegen das kritische Urteilsvermögen eines Individuums 
durch Sanktionen oder Sanktionsdrohungen unterdrückt oder durch suggestive 
Manipulation umgangen wird, wird das Individuum nicht mehr durch Vernunftgründe 
zur Übereinstimmung bewegt. Ein derart erzielter Konsens kann deshalb nicht 
als vernünftiger oder argumentativer Konsens gelten. [[10] Im gleichen Sinne 
wird von KAMBARTEL die Bedingung der Zwanglosigkeit des erstrebten 
Konsens betont. S. KAMBARTEL 1974c, S.66. HABERMAS fordert, "dass kein Zwang 
außer dem des besseren Argumentes ausgeübt wird."   S. HABERMAS 1973, S. 148.]{-56-}
§ 10 Möglichkeiten des Dialogs jenseits der Argumentation
Das Intersubjektivitätsgebot hat die Aufgabe, eine Grenze zu markieren, jenseits 
derer eine Argumentation mit dem Ziel, die gestellten Fragen allgemeingültig zu 
beantworten, sinnlos wird. Wenn eine der Parteien mit andern Mitteln als 
gewaltfrei nachvollziehbaren Gründen die Zustimmung zu ihren eigenen oder die 
Ablehnung fremder Behauptungen zu erreichen sucht, ist auch für die übrigen 
Beteiligten eine Argumentation sinnlos geworden. Das bedeutet jedoch nicht, dass 
damit auch jede andere Form des Dialogs sinnlos geworden ist.
Eine weiterhin mögliche Form des Dialogs ist das 
überredende oder persuasive Gespräch. (S. dazu unten näher §19). Auch 
wenn es dem andern offensichtlich nicht um die intersubjektiv nachvollziehbare 
Begründung von Behauptungen geht, kann man weiterhin versuchen, eine 
Berücksichtigung der eigenen Position zu erreichen, indem man "Gründe"   nennt, 
die man zwar selber nicht unbedingt für gültig hält, von denen man sich aber 
eine geeignete Wirkung auf den andern verspricht. Ein Beispiel dafür wäre es, 
wenn man gegenüber jemandem, der unkritisch einem bestimmten Glauben anhängt, 
mit Zitaten aus dessen eigenen "heiligen Büchern"   und Ansprüchen der von ihm 
anerkannten Autoritäten operiert. [[11]  Zur Kritik der Überredung s. u. §19. 
]{-57-}
Neben dem überredenden Gespräch sind noch eine Reihe 
anderer Formen des Dialogs jenseits der eigentlichen Argumentation möglich. 
Erwähnt seien hier vor allem der pädagogische und der therapeutische Dialog, bei 
dem es darum geht, bei einem Individuum erst die Fähigkeit zu bestimmten 
argumentativen Auseinandersetzungen herzustellen; sei es durch den Abbau von 
Vorurteilen und anderen emotional verankerten und argumentativ unbeeinflussbaren 
Auffassungen, sei es durch die Vermittlung der erforderlichen sprachlichen und 
intellektuellen Mittel für den Nachvollzug einer Argumentation oder sei es durch 
den Abbau von Einstellungen wie Misstrauen, Angst, Aggression usw., die eine 
aufrichtige und sachliche Argumentation stören oder gar verhindern.
In der Praxis können sich verschiedene Formen der 
Kommunikation mischen, aber für die Zwecke einer Methodenlehre der Erkenntnis 
ist es wichtig, die argumentative Auseinandersetzung, bei der es um die 
Gewinnung allgemeingültiger Erkenntnis geht, begrifflich klar von andern Formen 
des Dialogs zu unterscheiden.[[12] Vgl. zu den Unterschieden von Diskursen 
mit dem alleinigen Motiv der Wahrheitssuche zu anderen Dialogformen auch die 
Ausführungen von HABERMAS. "Ein gelingender therapeutischer 'Diskurs' hat erst 
zum Ergebnis, was für den gewöhnlichen Diskurs von Anfang an gefordert werden 
muss; die effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung von Dialogrollen, 
überhaupt der Wahl und Ausübung von Sprechakten, muss zwischen den ungleich 
ausgestatteten Partnern erst hergestellt werden."   HABERMAS 1971, S. 29.]{-58-}
§ 11 Das Intersubjektivitätsgebot und das Hobbessche "Friedensgebot"
Das Intersubjektivitätsgebot hat auch eine gewisse 
Verwandtschaft mit der von HOBBES formulierten 'allgemeinen Regel der Vernunft': "Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht. Kann 
er ihn nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des 
Krieges verschaffen und sie benützen. Der erste Teil dieser Regel enthält das 
erste und grundlegende Gesetz der Natur, nämlich: Suche Frieden und halte ihn 
ein. Der zweite Teil enthält den obersten Grundsatz des natürlichen Rechts: Wir 
sind befugt, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen."   
[[13] HOBBES 1968, S. 190.]
Während HOBBES als oberstes Gebot formuliert: "Suche den 
Frieden!"   kann man das Intersubjektivitätsgebot formulieren als "Suche einen 
argumentativen Konsens!", wobei der argumentative Konsens gerade dadurch 
gekennzeichnet ist, dass er ohne gewaltsame Brechung oder Ausschaltung des 
individuellen Willens zustande kommt, also gewaltfrei ist. Insofern entspricht 
der argumentative Konsens einer "friedlichen"   Einigung, die mehr ist als ein 
bloßes Gleichgewicht der Gewalt. Auch HOBBES versteht unter 'Frieden' bzw. dem 
Gegenbegriff 'Krieg' mehr als die Abwesenheit oder Anwesenheit von offenen 
Gewaltanwendungen: "... so besteht das Wesen des Krieges nicht in tatsächlichen 
Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen 
Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere {-59-} 
Zeit ist F r i e d e n. Deshalb trifft alles, was Kriegszeiten mit sich bringen, 
in denen jeder eines andern Feind ist, auch für die Zeit zu, während der die 
Menschen keine andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen ihre eigene 
Stärke und Erfindungskraft bietet."  [[14] HOBBES 1968, S .186]
HOBBES hat auch bereits gesehen, dass es jenseits eines "friedlichen"   bzw. argumentativen Konsens keinerlei normative Argumente mehr 
geben kann. Wer selber den Boden argumentativer Einigung verlassen hat und das 
Intersubjektivitätsgebot nicht anerkennt, kann auch niemandem mehr Vorwürfe 
machen bzw. ihn kritisieren, weil dies wiederum den Anspruch intersubjektiv 
gültiger Argumente voraussetzt. Wer in den Worten von HOBBES gesprochen den 
Frieden nicht sucht, sondern den Krieg erklärt, hat höchstens Gewaltmittel aber 
keine Argumente mehr dagegen, dass auch der andere sich mit "allen zur Verfügung 
stehenden Mitteln"   verteidigt. HOBBES schreibt: "Eine weitere Folge des Krieges 
eines jeden gegen jeden ist, dass nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von 
Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo 
keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine 
Ungerechtigkeit. .. Sie (Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, E.W.) sind 
Eigenschaften, die sich auf den in der Gesellschaft, nicht in der Einsamkeit 
befindlichen Menschen beziehen."   [[15] HOBBES 1968, S. 168.] {-60-}
Wenn keine Hoffnung auf eine "friedliche"   bzw. 
argumentative Einigung besteht, weil der andere nicht nach einem argumentativen 
Konsens strebt, sondern Streit mit gewaltsamen Mitteln entscheiden will, so 
ist die Ebene der Argumentation verlassen und "wir sind befugt, uns mit allen 
zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen", wie HOBBES schreibt.
Allerdings soll über diesen Parallelen nicht vergessen 
werden, dass HOBBES sein Vernunftgebot nicht aus den Bedingungen 
intersubjektiver Argumentation entwickelt, sondern aus dem Eigeninteresse jedes 
Individuums an der Erhaltung seines Lebens und an den Vorteilen gesicherten 
Eigentums sowie den in der menschlichen Natur liegenden Konfliktursachen wie 
Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht.[[16] Zu den Problemen einer solchen "egoistischen"   Begründung von allgemeingültigen Normen s. u. § 29/1.]
§ 12 Das Intersubjektivitätsgebot und die monologische Auffassung von Gültigkeit
Nun könnte jemand die Position vertreten, dass es ihm zwar 
um die allgemeine Gültigkeit von Normen gehe, dass diese Gültigkeit aber nicht 
von der Anerkennbarkeit durch andere Individuen abhängig sei und dass es 
insofern nicht um eine intersubjektive Gültigkeit gehe, sondern um eine "objektive"   Gültigkeit. Entsprechend dieser Position existiert die Gültigkeit von 
Behauptungen unabhängig davon, ob andere Individuen diese Gültigkeit 
nachvollziehen können oder nicht.{-61-}
Eine solche "objektivistische"   bzw. monologische Auffassung 
von Gültigkeit (bzw. Wahrheit), die sich von der Anerkennbarkeit durch die 
andern Subjekte völlig gelöst hat, erscheint jedoch argumentativ unhaltbar.
Mit einem Vertreter dieser monologischen Auffassung über 
die Gültigkeit von Normen zu diskutieren, ist sinnlos. Ein Anspruch auf die 
Gültigkeit einer Norm, der gegenüber einem Individuum erhoben wird, unabhängig 
davon, ob dies Individuum die Rechtfertigung der Norm argumentativ 
nachvollziehen kann oder nicht, ist ein verbal verschleiertes 
Gewaltverhältnis. 
Natürlich steht es jedermann frei, "Gültigkeit"   (oder 
Wahrheit) ohne Bezug auf die Anerkennbarkeit durch andere Subjekte rein 
monologisch zu definieren, aber mit einer solchen Definition hat der Betreffende 
zugleich jede dialogische Argumentation sinnlos gemacht. Man wird ihn bei seinem 
Selbstgespräch über "Gültigkeit"   sinnvoller Weise allein lassen.
Mit der Feststellung, dass eine bestimmte Position im 
wahrsten Sinne des Wortes "indiskutabel"   ist, ist die Aufgabe der theoretischen 
Kritik jedoch erfüllt. Es reicht, wenn die objektivistische Position als die 
verbale Verschleierung eines aktuellen oder potentiellen Gewaltverhältnisses 
identifiziert ist. Die Bekämpfung von als solchen identifizierten 
Gewaltverhältnissen ist keine Sache der besseren Argumente mehr, sondern bedarf 
anderer Mittel. Argumentieren kann man nur gegen die Rechtfertigung von 
Gewalt, aber nicht gegen Gewalt selber. {-62-}
§ 13 Das Intersubjektivitätsgebot und die Berufung auf den Willen überindividueller Subjekte
In ähnlicher Weise sind auch Positionen problematisch, die 
das einzelne Individuum als Bezugspunkt von Gültigkeit bzw. Wahrheit ablehnen 
und statt dessen nur bestimmten überindividuellen Wesenheiten wie dem Staat, dem 
Volk, der Rasse, der Klasse, der Partei oder der Kirche einen Zugang zur 
Wahrheit zuschreiben. Gegenüber den Entscheidungen dieser 'Supersubjekte' - oder 
genauer: gegenüber den Entscheidungen derjenigen Individuen, die als Interpreten 
dieser Supersubjekte auftreten - wird die Kritik einzelner Individuen zur 
vernachlässigbaren Größe erklärt, wie das etwa in der nationalsozialistischen 
Parole zum Ausdruck kommt: "Du bist nichts, dein Volk ist alles!"   
BARKER macht diese Eliminierung des Individuums als Träger eines selbständigen 
Denkens und Wollens am Beispiel der nationalsozialistischen Rassetheorie 
deutlich: "Nach dieser Lehre wird das Individuum in der Gesamtheit seines Seins 
durch seine Rasse gefärbt. Es ist bestimmt durch dies eine Faktum; in all seinem 
Tun und Denken wird es auf den rassischen Mittelpunkt hingezogen. Es kann keine 
verschiedenen Strömungen des sozialen Denkens geben, die sich in 
unterschiedlichen Programmen und Parteien ausdrücken, die sich im Prozess von 
Diskussion und Kompromiss begegnen: Es kann nur das Eine geben - das Volk, das 
zugleich eine Rasse ist und das ein Volk aufgrund einer Rasse ist. Vor diesem 
zentripetalen Impetus verschwinden alle Unterschiede."   [[17] BARKER 1967, S. 
380.]{-63-}
Man entledigt sich des Gebots zur Suche nach intersubjektiv 
gültigen Normen und siedelt die Kriterien der Gültigkeit auf einer "höheren", 
nicht jedermann im Prinzip zugänglichen Ebene an. Damit wird das Individuum als 
Träger von Kritik eliminiert, es kann nicht mehr eigenständig argumentieren.
Damit ist jedoch das Intersubjektivitätsgebot verletzt und 
eine Argumentation ist sinnlos geworden. Wenn die Gültigkeit von Normen auf 
einer Ebene bestimmt wird, die dem Argumentationspartner unzugänglich ist, dann 
handelt es sich um eine Pseudoargumentation, denn sie hebt die Bedingungen der 
Argumentation selber auf, die u. a. darin bestehen, dass jeder den andern als 
möglichen Träger richtiger Argumente anerkennt und dass sich jeder um die 
gewaltfreie Nachvollziehbarkeit der eigenen Argumente durch den andern bemühen 
muss.
§ 14 Intersubjektivitätsgebot, pauschale Unmündigkeitserklärung und totaler Ideologieverdacht
Gegen das Intersubjektivitätsgebot verstoßen auch 
Positionen, die ein pauschales Unmündigkeitspostulat oder einen pauschalen 
Ideologievorwurf gegenüber bestimmten Individuen enthalten. Wenn etwa einem 
Individuum aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Klasse, 
Geschlecht etc. prinzipiell die Fähigkeit abgesprochen wird, Träger gültiger 
Argumente zu sein, so ist damit die Bedingung der Argumentation aufgehoben. Denn 
jedem kritischen Argument des derart für unmündig Erklärten kann 
entgegengehalten werden, dass die Meinung eines Unmündigen nicht zähle, denn er 
sei zum Erkennen der Wahrheit nicht fähig, er habe ein "falsches Bewusstsein"   
usw. Mit Hilfe einer solchen pauschalen Unmündigkeitsbehauptung kann sich jemand 
gegen jede Form von Kritik {-64-} seitens der Entmündigten immunisieren.
Damit werden jedoch die Bedingungen der Argumentation 
aufgehoben, und da man sich des Anspruchs entledigt hat, die eigene Position 
gegenüber jedermann rechtfertigen zu können, wird der Anspruch auf universale 
Gültigkeit und Allgemeinverbindlichkeit gegenüber den Entmündigten zu einem 
bloßen Gewaltverhältnis, das höchstens durch Pseudoargumente verbal verschleiert 
wird.[[18] Zum Problem der Unmündigkeit von Individuen s. u.10. Kapitel.]
§ 15 Intersubjektivitätsgebot und unzulässige Personalisierung der Auseinandersetzung
Ein Verstoß gegen das Intersubjektivitätsgebot liegt immer 
dann vor, wenn Argumente dadurch abgewehrt werden, dass auf die personelle 
Herkunft der Argumente Bezug genommen wird, indem derjenige, der ein Argument 
vorbringt, etwa als unglaubwürdig, interessegebunden, böswillig, unmündig etc. 
dargestellt wird. Solche Personalisierungen der Argumentation durch die 
Verlagerung der Diskussion von der Kritik der Argumente zu Behauptungen über den 
Argumentationspartner kann höchstens einen Verdacht begründen, dass die 
Argumente in bestimmter Weise fehlerhaft sind, damit kann jedoch keine 
Widerlegung der Argumente und ihre Ablehnung begründet werden. 
Dies ergibt sich 
daraus, dass eine solche personalisierte Argumentation nicht für jedermann 
nachvollziehbar die Argumente widerlegt. Wenn die gleichen {-65-} 
Argumente nämlich von jemand anders vorgebracht werden, so kann u. U. Die 
Personalisierung gegenüber diesem nicht angewandt werden. Personalisierte 
Argumente können durch ihre notwendig beschränkte Anwendbarkeit auf bestimmte 
Individuen keine generelle Ablehnung von Argumenten rechtfertigen.
Ein solcher Schluss von der Herkunft, der Genese 
eines Arguments auf seine Gültigkeit ist auch deshalb prinzipiell 
unmöglich, weil die Gültigkeit eines Arguments allein davon abhängt, ob es 
gegenüber jedermann gerechtfertigt werden kann und Konsensfähig ist. Dies 
lässt sich jedoch unabhängig davon feststellen, von wem dies Argument stammt. 
Andernfalls könnte man z. B. Argumente anonymer Herkunft, z. B. aus Büchern mit 
unbekanntem Verfasser, gar nicht auf ihre Gültigkeit überprüfen, was eine 
geradezu komische Konsequenz für die wissenschaftliche Diskussion hätte.
Personalisierte Argumente kommen dabei nicht nur in 
negativer Form, sondern auch in positiver Form vor. In diesem Fall gilt die 
personelle Herkunft eines Arguments nun als eine Bestätigung dieses Arguments, 
weil die betreffende Person als besonders glaubwürdig, gelehrt, "objektiv"   etc. 
in dieser Frage gilt. Die Feststellung einer besonderen Autorität des 
Urhebers eines Arguments kann jedoch die Richtigkeit eines Arguments ebenfalls 
nicht belegen, sondern aus den oben angegebenen Gründen höchstens die Vermutung 
der Richtigkeit begründen. Auch Zitate von Autoritäten sind keine Beweise. 
Argumente werden weder richtig noch falsch durch die Person desjenigen, der sie 
vorbringt.
Ein in ähnlicher Weise unzulässiger Schluss von der Genese 
{-66-} eines Arguments auf seine Gültigkeit wird dann vorgenommen, wenn von dem
Alter eines Arguments auf seine Gültigkeit geschlossen wird, etwa indem 
man allein mit dem Hinweis auf den Zeitpunkt der Entstehung ein Argument als "veraltet"   und "überholt"   bezeichnet. Das Alter eines Arguments kann weder seine 
Richtigkeit noch seine Falschheit erweisen. In ähnlicher Weise fordert auch 
SCHWEMMER, "dass die Berufung auf irgendwelche Autoritäten oder Traditionen, 
d. h. die Berufung auf die Behauptungen oder Vorschläge bestimmter Personen, die 
nicht mehr kritisch - d. h. hier auf ihre Annehmbarkeit hin - hinterfragt werden 
dürfen, nicht zugelassen werden soll."   [[19] SCHWEMMER 1973, S. 75.]
§ 16 Intersubjektivitätsgebot und Sanktionsverbot
Das Intersubjektivitätsgebot fordert die Suche nach Normen, 
deren Existenz gegenüber jedermann argumentativ gerechtfertigt werden 
kann. Daraus folgt, dass es verboten ist, die Zustimmung zu einer Norm durch 
Sanktionen bzw. Sanktionsdrohungen zu erzwingen. Mit jemandem, der dies 
Sanktionsverbot nicht anerkennt und die Position vertritt, dass eine Einigung 
notfalls durch Zwang herzustellen sei, ist eine Diskussion sinnlos geworden. Er 
hat damit sein Verhältnis zu den andern Individuen als ein Gewaltverhältnis 
bestimmt, denn die Einigung über eine Norm ist für ihn keine Frage der 
intersubjektiv nachvollziehbaren Argumente, sondern des gezielten Zwangs. [[20] 
In ähnlicher Weise fordern HABERMAS und KAMBARTEL einen 'herrschaftsfreien 
Diskurs' bzw. einen 'zwanglosen Dialog'. S. HABERMAS 1973, S.1 u.8 und KAMBARTEL 
1974, S. 66ff. ]{-67-}
Es gilt in diesem Fall dasselbe wie beim 
Intersubjektivitätsgebot selber: man kann zwar einem Individuum nicht zwingend
beweisen, dass die Zustimmung der andern nicht erzwungen werden darf, 
aber diesem Individuum gegenüber ist bereits jeder Beweis und 
Argumentationsversuch sinnlos und überflüssig geworden. Wenn jemand z. B. bei 
einer Meinungsverschiedenheit seiner Auffassung durch die Androhung von Prügel 
für den Andersdenkenden Nachdruck verleiht, so kann man höchstens noch 
feststellen, dass "Prügel keine Argumente sind", aber damit ist klar, dass es 
hier nicht um die besseren Argumente sondern um die stärkeren Fäuste geht.
Mit diesem Kriterium werden auch andere Formen der 
nichtargumentativen Beeinflussung als unzulässig bestimmt, die ebenfalls mit 
einer Ausschaltung oder Umgehung der Kritikfähigkeit des Adressaten 
verbunden sind. Hierzu sind etwa Formen der Suggestion und des Appells an 
unbewusste Motive zu rechnen. Gegenüber einer nicht-argumentativen Beeinflussung 
ist es sinnlos, zu argumentieren. Dies kann man nur gegen andere Argumente. 
Gegen solche Beeinflussungen muss man sich mit andern Mitteln wehren. {-68-}
§ 17 Intersubjektivitätsgebot und Begründungsgebot
Aus dem Intersubjektivitätsgebot lässt sich als weiteres 
Gebot ableiten, dass jeder seine Zustimmung oder Ablehnung einer Norm mit 
Argumenten zu begründen hat, falls diese strittig ist. Dies kann als "Begründungsgebot"   bezeichnet werden. Besteht nämlich Uneinigkeit in der 
Beurteilung der Gültigkeit einer Norm (und dies war ja der Ausgangspunkt der 
gesamten Überlegungen), so steht Willensäußerung gegen Willensäußerung. Da es 
jedoch entsprechend dem Intersubjektivitätsgebot die Aufgabe ist, nach allgemein 
gültigen Normen zu suchen, so muss jede vorgebrachte Norm beanspruchen, 
Gültigkeit zu besitzen. Dieser Anspruch kann jedoch nur dadurch eingelöst 
werden, dass der Versuch einer argumentativen Rechtfertigung dieser Norm gemacht 
wird. [[21] Dies entspricht dem "Gebot der Unvoreingenommenheit"   bei KAMBARTEL. S. KAMBARTEL 1974c, S. 66ff.]
Dabei darf "Begründung"   nicht nur logisch-deduktiv 
verstanden werden, obwohl die Begründung einer Behauptung durch ihre logische 
Ableitung aus anderen Behauptungen sicherlich eine sehr wichtige Rolle spielt, 
denn mit Hilfe logischer Schlüsse lässt sich die Wahrheit bzw. Gültigkeit der 
Prämissen auf die Konklusionen übertragen. Allerdings muss immer die Wahrheit 
der Prämissen vorausgesetzt werden. Wenn man Begründung rein logisch versteht, 
dann muss das von ALBERT analysierte Trilemma auftreten, weil man dann nur die 
Wahl zwischen drei unakzeptablen Alternativen {-69-} hat: dem infiniten Regress 
auf immer neue Prämissen; dem logischen Zirkel oder dem Abbruch des Verfahrens 
an einem willkürlichen Punkt. [[22] S. ALBERT 1969, S. 13f. ALBERT zieht 
daraus den Schluss, dass man das Postulat der Begründung überhaupt aufgeben 
müsse und durch das methodologische Prinzip der kritischen Prüfung ersetzen 
müsse. S. ALBERT 1969, S. 29ff.]
Wenn man jedoch nicht nur logisch-deduktive Formen der 
Begründung akzeptiert, so ist es keineswegs als "Dogmatismus"   aufzufassen, wenn 
der Begründungsstrang an bestimmten Behauptungen endet, über die sich 
außerlogisch ein intersubjektiver Konsens herstellen lässt. So lässt sich bei 
empirischen Fragen gewöhnlich ein unmittelbarer Konsens über beobachtbare 
Sachverhalte herstellen mit dem Hinweis: "Jeder kann sich mit eigenen Augen von 
der Wahrheit meiner Behauptung überzeugen."   Dabei handelt es sich auch 
keineswegs notwendig um eine "Dogmatisierung intuitiver Einsichten und evidenter 
Sinneswahrnehmungen"   [[23] ALBERT 1969, S. 30] denn es bleibt weiterhin 
problematisch, ob eine Sinneswahrnehmung eines bestimmten Individuums 
intersubjektiv nachvollziehbar ist. [[24] Zu den Qualifikationsbedingungen 
der individuellen Wahrnehmung s. u. § 32]
Damit die argumentative Rechtfertigung einer Norm 
intersubjektiv nachvollziehbar und kontrollierbar bleibt, müssen sich die 
Beteiligten an der Argumentation bemühen, diese Begründung möglichst explizit 
zu geben. Darunter ist zu verstehen, "dass wir jede von uns aufgestellte 
Behauptung, Aufforderung oder Norm in so kleinen Schritten aufstellen, dass 
überall dort, wo eine {-70-} - nach eigenem Verständnis - neue geistige Leistung 
(eine Verständnis- oder Erkenntnisleistung) zur Fortführung des jeweiligen 
Gedankenganges benötigt wird, diese Leistung auch in einem eigenen Schritt 
ausdrücklich gemacht und gefordert wird."   [[25] SCHWEMMER 1973, S.75.] 
Das Ziel ist dabei, den Fortgang der Argumentation so intersubjektiv 
kontrollierbar wie möglich zu gestalten, indem jede dabei neu auftauchende 
Behauptung in der Art ihrer Begründung transparent gemacht wird. Dies hat 
dadurch zu geschehen, dass dargelegt wird, auf welche anderen Behauptungen und 
auf welche logischen Schlussformen sich die neu entwickelte Behauptung stützt.
§ 18 Intersubjektivitätsgebot und das Gebot des Bemühens um wechselseitige Verständlichkeit
Die Entscheidung über die Gültigkeit einer Norm bzw. ihrer 
argumentativen Begründung setzt voraus, dass man überhaupt weiß, was mit dieser 
Norm bzw. den Argumenten gemeint ist. Man muss sie also verstehen können. Wenn 
sich Teilnehmer an einer Argumentation über die Allgemeingültigkeit von Normen 
nicht um die Verständlichkeit ihrer Äußerungen bemühen, so verstoßen sie damit 
folglich gegen das Intersubjektivitätsgebot.
Außerdem dürfen normative Theorien keine ungültigen 
logischen Schlussfolgerungen enthalten. Solche Fehlschlüsse lassen sich jedoch 
nur aufdecken, wenn die Theorie klar und verständlich formuliert ist. Eine 
unklare und unverständliche Formulierung der Theorie stellt deshalb eine 
unzulässige Immunisierung der Theorie dar.[[26] Vgl. zum Gebot der 
Verständlichkeit NELSON 1974, S. 60 ff.] {-71-}
Gegen das Gebot der Verständlichkeit wird z. B. verstoßen:
 - wenn die verwendeten Termini nicht hinreichend präzise 
definiert werden oder ohne besondere Kennzeichnung mit wechselnden Bedeutungen 
verwandt werden;
 - wenn definitorische Festlegungen des Sprachgebrauchs 
nicht als solche gekennzeichnet und von empirischen Aussagen und inhaltlichen 
Normen unterscheidbar gemacht werden;
 - wenn problematische Prämissen der Beweisführung 
stillschweigend vorausgesetzt werden;
 - wenn durch sprachliche Eigenheiten des Autors der Inhalt 
des Gemeinten unklar oder unverständlich wird.
Eine "dunkle", schwer verständliche Ausdrucksweise mag für 
ein lyrisches Gedicht sehr sinnvoll sein, in der Wissenschaft ist sie immer 
problematisch. Sie ermöglicht einem Autor, Kritik mit dem Hinweis abzutun, er 
sei falsch oder gar nicht verstanden worden. Andererseits fordert eine unklare 
Ausdrucksweise geradezu dazu heraus, dass andere sich von dem Text ein eigenes 
Zerrbild herstellen, um dann dies zu kritisieren. In beiden Fällen gelangt man 
nicht zu intersubjektiv anerkennbaren Ergebnissen, sondern "redet aneinander 
vorbei."   [[27] Damit ist natürlich nichts gegen Theorien gesagt, deren 
schwierige Verständlichkeit durch die Kompliziertheit des Gegenstandes bedingt 
ist, den sie bearbeiten, und nicht durch die Ausdrucksform des betreffenden 
Autors.]
Das Bemühen um eine klare und verständliche Ausdrucksweise 
ist dabei nur die eine Seite des Verständigungsproblems. Intersubjektive 
Verständigung kann auch {-72-} durch systematisches Nicht-Verstehen-Wollen 
unmöglich gemacht werden, denn man kann bei jedem Wort fragen: "Was meinst du 
damit?"   und bei den Worten der gegebenen Erklärung wiederum fragen usw. bis ins 
Unendliche.[[28] HABERMAS nannte dies einmal die Haltung des "Kannitverstan".] 
Durch eine solche Argumentationsstrategie wird der andere gezwungen, entweder 
endlose und damit ergebnislose Erklärungsversuche zu unternehmen oder aber die 
Sprache des anderen anzunehmen.
Intersubjektiv anerkennbare Argumentation setzt 
demgegenüber das Bemühen um eine gemeinsame Sprache voraus. Mit jemandem, der 
sich nicht um eine gemeinsame Sprache bemüht, ist eine Argumentation sinnlos. Er 
verfolgt notwendigerweise andere Ziele als die Suche nach intersubjektiv 
gültigen Normen. Dieser Aspekt des Bemühens um Verstehen und Verstandenwerden 
wird von SCHWEMMER betont, der fordert, "dass wir an keiner Stelle eines 
Gedankengangs, der uns als Argument für Behauptungen einerseits, für 
Aufforderungen oder Normen andererseits dienen soll, ein Wort gebrauchen, von 
dessen gemeinsamer Verwendung wir uns nicht überzeugt haben."   [[29] SCHWEMMER 
1973, S. 75. Allerdings hat die Konstruktion einer geeigneten ethischen 
Terminologie bei den an LORENZEN anknüpfenden Theoretikern gelegentlich etwas 
unnötig Gekünsteltes an sich. S. z. B. LORENZEN 1970, S.25ff. Auch für HABERMAS 
stellt der Anspruch auf die "Verständlichkeit der Äußerung"   einen Teil des "Hintergrundkonsens"   dar, auf dem funktionierende Sprachspiele beruhen. S. 
HABERMAS/LUHMANN 1971, S.1]
Eine schwer verständliche Ausdrucksweise kann auch zu einer 
unnötigen Exklusivität der Theorie führen, wenn sie ähnlich wie eine esoterische 
Geheimsprache nur den "Eingeweihten"   zugänglich ist. Damit werden {-73-} 
andere Individuen als potentielle Kritiker von vornherein ausgeschlossen und man 
diskutiert "unter sich"   innerhalb einer wissenschaftlichen "Schule". In dem 
Maße, wie dadurch eine Beschränkung der Öffentlichkeit und Zugänglichkeit der 
Diskussion eintritt, wird jedoch ein Anspruch auf allgemeine Gültigkeit 
zweifelhaft. [[30] Zur Funktion der Öffentlichkeit von Argumentation bei der 
Überprüfung der Gültigkeit von Normen s. u. § 2o. Nicht selten führen schwer 
verständliche Theorien auch zu Interpretationsmonopolen einiger theoretischer "Autoritäten", die in kaum kontrollierbarer Weise die "richtige"   Auslegung der 
Theorie geben. Dies ist dann jedoch eher ein Problem der hermeneutischen 
Methodologie.]
Natürlich kann es bei dem Gebot der Verständlichkeit der 
Ausdrucksweise immer nur darum gehen, "die Pfähle in den Sumpf zu treiben", bis 
sie tragen, denn eine Garantie für das Gelingen der Verständigung kann es nicht 
geben. Dass zwei wissenschaftliche Positionen mit Hilfe von zwei unvereinbaren 
Begriffssystemen aneinander vorbei monologisieren und keine Ebene der 
Verständigung finden, ist sicherlich keine Seltenheit.
§ 19 Intersubjektivitätsgebot und Überredungsverbot
Auch bei einer Anwendung der Form nach argumentativer 
Mittel kann jedoch gegen das Intersubjektivitätsgebot verstoßen werden. Dieser 
Fall liegt dann vor, wenn jemand zur Rechtfertigung der von ihm vertretenen Norm 
Argumente verwendet, die er selber nicht für richtig hält, von denen er jedoch 
annimmt, dass sie vom andern akzeptiert werden.[[31] KAMBARTEL nennt eine 
solche unzulässige Argumentation "persuasiv". S. KAMBARTEL 1974c, S. 67. 
]{-74-}
Hierbei wird gegen das Intersubjektivitätsgebot verstoßen, 
denn es werden Argumente zur Bestimmung gültiger Normen verwendet, deren Kritik 
von einem Teilnehmer der Argumentation absichtlich vermieden wird, und zwar 
gegen sein besseres Wissen. Ein solches Argumentationsverhalten kann man auch 
als "manipulative Überredung"   bezeichnen. Sie ist der vom 
Intersubjektivitätsgebot gebotenen Suche nach gültigen Normen abträglich und 
unterliegt deshalb einem methodologischen Verbot. Auch SCHWEMMER fordert, dass "der Redende die Sätze, die anzunehmen er den Angeredeten auffordert, auch 
selber annimmt. Insbesondere gilt dies für jene Sätze, mit denen er den 
Angeredeten zur Annahme weiterer Sätze zu bringen begehrt."   [[32] SCHWEMMER 
1973, S. 83]
Das Überredungsverbot hat auch eine enge Beziehung zu dem 
nach HABERMAS in jedem funktionierenden Sprachspiel als HintergrundKonsens 
bestehenden Anspruch auf "Wahrhaftigkeit des sprechenden Subjekts". "Der 
Anspruch auf Wahrhaftigkeit kann nur in Interaktionen eingelöst werden: in 
Interaktionen muss sich auf die Dauer herausstellen, ob die andere Seite 'in 
Wahrheit' mitmacht oder kommunikatives Handeln bloß vortäuscht und sich 
tatsächlich strategisch verhält."   [[33] HABERMAS 1971, S. 24.]
Ein besonderer Fall manipulativer Überredung liegt dann 
vor, wenn eine Norm gegenüber verschiedenen Adressatengruppen mit in sich
widersprüchlichen Argumentationen gerechtfertigt wird. {-75-} 
Ein Beispiel hierfür wäre etwa, wenn man eine bestimmte 
Agrarpolitik gegenüber den Bauern mit dem Argument verteidigt, dass höhere 
Erzeugerpreise für Lebensmittel die Folge sein werden und damit 
Einkommensverbesserungen für die Bauern stattfinden, während man dieselbe 
Politik gegenüber den Konsumenten mit der Erwartung von Preissenkungen für 
Lebensmittel rechtfertigt. Solchen Manipulationen ist allerdings unter den 
Bedingungen der Öffentlichkeit eine Grenze gesetzt, weil die Argumentationen 
dann nicht gezielt auf bestimmte Adressatengruppen beschränkt werden können. 
Aber jede Einschränkung der Öffentlichkeit ermöglicht es, intern ganz 
andere Rechtfertigungen für eine bestimmte Entscheidung zu geben als in der "Öffentlichkeit."  
  
§ 20 Intersubjektivitätsgebot und Öffentlichkeitsgebot
Um festzustellen, ob eine Norm gegenüber jedermann argumentativ gerechtfertigt werden kann, ist es notwendig, dass auch jedes Individuum im Prinzip die Möglichkeit hat, seine Argumente zur Gültigkeit dieser Norm zu äußern. Wenn man für eine Norm universale Gültigkeit beansprucht, so darf kein Individuum daran gehindert werden, seine Kritik einzubringen und zu begründen. Dies setzt die Öffentlichkeit der Argumentation voraus, insofern niemandem die aktive oder passive Teilnahme daran verwehrt werden darf. Dies "Öffentlichkeitsgebot" lässt sich aus dem Intersubjektivitätsgebot ableiten.{-76-}
Allein die Öffentlichkeit der Argumentation bietet die 
Gewähr, dass möglichst alle für die Beurteilung der Gültigkeit einer Norm 
relevanten Argumente berücksichtigt werden können. Da jeder die Möglichkeit hat, 
Argumente einzubringen, die er für relevant und richtig hält, kann von der 
(vorläufigen) Gültigkeit einer Norm ausgegangen werden, wenn im Verlauf der 
Argumentation alle kritischen Einwände entkräftet werden konnten. Dem 
Öffentlichkeitsgebot entspricht bei HABERMAS die Charakterisierung eines "Diskurses"   dadurch, "dass Teilnehmer, Themen und Beiträge nicht, es sei denn im 
Hinblick auf das Ziel der Prüfung problematisierter Geltungsansprüche, 
beschränkt werden."   [[35] HABERMAS 1973, S. 148.] Das 
Öffentlichkeitsgebot drückt aus, "was für den gewöhnlichen Diskurs von Anbeginn 
gefordert werden muss; die effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung 
der Dialogrollen, überhaupt der Wahl und Ausübung von Sprechakten."   [[36] 
HABERMAS 1971, S. 29].
Die Institution der Öffentlichkeit, in der sich jeder 
jeweils an alle wendet, bewirkt zugleich eine Vereinfachung der kollektiven 
Urteilsbildung, denn es muss sich nicht mehr jeder äußern, sondern nur noch 
derjenige, der meint, dass es noch nicht berücksichtigte, gültigkeitsrelevante 
Argumente gibt. Im Extremfall kann also unter den Bedingungen der Öffentlichkeit 
eine Norm bereits dadurch als vorläufig gültig erwiesen werden, dass ein 
einziges Individuum seine Argumente zur Gültigkeit dieser Norm vorträgt und 
{-77-} dabei bereits alle vorhandenen Gegenargumente entkräftet.
In ähnlicher Weise sieht auch J. St. MILL die unbehinderte 
öffentliche Argumentation als eine Bedingung dafür an, um über die Wahrheit oder 
Gültigkeit einer Theorie zu entscheiden. "Irgendeine Behauptung gewiss zu 
nennen, während es jemanden gibt, der - wenn er dürfte - diese Gewissheit 
verneinen würde, dem es jedoch nicht gestattet ist, beinhaltet den Anspruch, 
dass wir selbst und diejenigen, die mit uns übereinstimmen, die Richter über die 
Gewissheit sind, und zwar Richter, die die andere Seite nicht anhören."   [[37] 
MILL 1969, S. 29.] 
Allerdings wird der Intersubjektivitätsanspruch bei MILL 
nur ansatzweise als konstitutiv für Wahrheit bzw. Gültigkeit angesehen. Dieses 
Argument vermengt sich mit der Begründung der Meinungsfreiheit aus dem 
Eigeninteresse der Individuen: Jeder müsse ein Interesse an unbehinderter 
öffentlicher Argumentation haben, insofern er ein Interesse an der Eliminierung 
von Fehlern in seinen eigenen Anschauungen hat und insofern die bei 
Meinungsfreiheit stattfindende Kritik eine Aufdeckung solcher Fehler ermöglicht. 
An anderer Stelle scheint MILL jedoch zu erkennen, dass das Eigeninteresse als 
Rechtfertigung des Öffentlichkeitsgebots und Motiv der Wahrheitssuche nicht 
ausreicht, denn er schreibt: "Die Menschen sind nicht begieriger nach der 
Wahrheit als sie es oft nach dem Irrtum sind ..."   [[38] MILL 1969, S. 37] 
{-78-}
§ 21 Intersubjektivitätsgebot und die institutionelle Organisation von Argumentationen
Damit eine erkenntnismäßige Streitfrage, sei es nun 
normativer oder anderer Art, überhaupt argumentativ entschieden werden kann, 
müssen sich die Beteiligten über die Fragestellung selber einig sein. Wenn die 
Teilnehmer einer Diskussion völlig unterschiedliche Fragen zu beantworten 
versuchen, so reden sie "aneinander vorbei"   und es besteht die Gefahr, dass 
keine der aufgeworfenen Fragen einer allgemeingültigen Beantwortung näher 
gebracht wird.
Daraus folgt, dass Argumentationen so organisiert sein 
müssen, dass zum einen die Fragestellungen möglichst präzise und eindeutig 
gemacht werden und dass zum andern dafür gesorgt werden muss, dass deutlich 
wird, welche Argumentationen und Diskussionsbeiträge sich auf die Beantwortung 
welcher Frage beziehen. Aus diesem Grund werden vor allem bei mündlichen 
Argumentationen "Tagesordnungen"   mit verschiedenen Unterpunkten festgesetzt, um 
die Argumente entsprechend zusammenzufassen.
Für die konkrete Organisation von Argumentationen wird 
außerdem wichtig, welche Fragen überhaupt thematisiert werden und welche nicht. 
Dies hat einen erheblichen Einfluss auf den kollektiven Erkenntnisprozess, denn 
durch die Nicht-Thematisierung bestimmter Fragen können tradierte Antworten 
hierauf konserviert werden, obwohl sie falsch sind. Hierfür finden sich in der 
Wissenschaftsgeschichte zahlreiche Beispiele. Eines der markantesten ist die 
Ausklammerung sexualwissenschaftlicher Fragestellungen, die bis zum Beginn 
unseres Jahrhunderts zur Beibehaltung {-79-} von z. T. völlig abwegigen 
sexualmoralischen Auffassungen führte. [[39] ] S. Dazu z. B. KINSEY u. a. 
1963, S. 4ff. Zur Bedeutung von "Nicht-Entscheidungen"   durch selektive 
Mechanismen s. a. BACHRACH/BARATZ 1962, S. 379.]
Bei der konkreten Organisation von Argumentationen ist 
außerdem der Umstand zu berücksichtigen, dass zur Kommunikation von Argumenten 
immer Ressourcen erforderlich sind, die ihrerseits nicht unbegrenzt verfügbar 
sind und folglich auf die Teilnehmer der Diskussion aufgeteilt werden müssen. So 
ist gewöhnlich die Zeit, die einer Versammlung oder einem Gremium zur Verfügung 
steht, begrenzt, so dass auch die Redezeit, die allen Beteiligten insgesamt zum 
Vortragen ihrer Argumente zur Verfügung steht, begrenzt ist, da immer nur ein 
Individuum zur Zeit reden kann, wenn die Verständlichkeit der Argumente 
gewährleistet werden soll.
Wenn nun die gesamte Redezeit von bestimmten Individuen in 
Anspruch genommen wird, so dass andere Individuen ihre Argumente gar nicht 
vortragen können, so ist die Erfüllung des Intersubjektivitätsgebots und des 
daraus ableitbaren Öffentlichkeitsgebots gefährdet, denn bestimmte Individuen 
wurden mit ihren Argumenten aufgrund der vorgenommenen Aufteilung der Redezeit 
überhaupt nicht gehört. Auch die bevorzugte Behandlung bestimmter Positionen ist 
mit dem Intersubjektivitätsgebot nicht vereinbar. Aus diesem Grunde sind 
Regelungen der Redezeit und der Reihenfolge sinnvoll, die dafür sorgen, dass 
innerhalb der verfügbaren Zeit möglichst alle für die Beantwortung der 
{-80-} Streitfrage relevanten Argumente eingebracht werden können. [[40] Aus 
der Begrenztheit der verfügbaren Zeit leitet sich auch das meist informelle 
Gebot für den Ablauf von Diskussionen ab, möglichst ohne überflüssige 
Wiederholung von Argumenten vorzugehen.]
Ähnliche Knappheitsprobleme existieren auch in anderen 
Medien der Diskussion und Willensbildung, wie Rundfunk und Fernsehen oder 
Zeitschriften, Büchern usw. Man kann ganz generell sagen, dass die Zeit und der 
Aufwand begrenzt ist, den Menschen für die argumentative Beantwortung von 
Streitfragen zu opfern bereit sind. Immer müssen deshalb Regelungen gefunden 
werden, die die knappen Argumentationsressourcen auf die Beteiligten aufteilen. 
Diese Aufteilung ist nur in dem Maße im Einklang mit dem 
Intersubjektivitätsgebot, wie alle relevanten Argumente von allen Beteiligten 
vorgetragen und aufgenommen werden können.
§ 22 Das Intersubjektivitätsgebot für alle eingebrachten Argumente
Die einzelnen zur Begründung einer Norm angeführten 
Argumente unterliegen dabei dem Intersubjektivitätsgebot ebenso wie die 
behauptete Norm, um die es letztlich geht, da ja auch von den einzelnen 
Argumenten ihre Gültigkeit oder Wahrheit behauptet wird. Wenn man intersubjektiv 
gültige Normen anstrebt, so müssen auch die einzelnen Argumente, die zur 
Begründung vorgebracht werden, intersubjektiv nachvollziehbar sein. Damit weitet 
sich das Intersubjektivitätsgebot auf alle einzelnen Argumente aus, die bei der 
Begründung einer Norm verwendet werden. Dies Intersubjektivitätsgebot für die 
einzelnen Argumente würde lauten: {-81-}
"Verwende intersubjektiv anerkennbare Argumente!" 
Die einzelnen Argumente, die in einem normativen 
Begründungszusammenhang verwendet werden, müssen nicht selber normativer Art 
sein. Es können z. B. empirische Aussagen über die Beschaffenheit der Realität, 
Textinterpretationen, Definitionen, logische Schlüsse, mathematische oder 
statistische Schlüsse usw. auftreten. 
Ob ein Argument jeweils anerkennbar ist, kann nur von der Methodologie der 
jeweiligen Disziplinen entschieden werden, die zusammengenommen mit dem 
traditionellen Terminus "Erkenntnistheorie"   bezeichnet werden können. Die 
normative Methodologie als Teil einer so verstandenen Erkenntnistheorie muss 
also die Ergebnisse anderer Zweige der Erkenntnistheorie heranziehen, wobei von 
Vorteil ist, dass diese Methodologien teilweise bereits sehr detailliert 
entwickelt worden sind. [[41] Dies soll nicht heißen, dass es dort nicht auch 
Streitfragen von z. T. grundsätzlicher Bedeutung gibt. Ein Beispiel ist für die 
empirische Methodologie etwa die Diskussion um das Verifikations- bzw. 
Falsifikationskriterium.] Diese Methodologien brauchen also hier nicht 
selbst entwickelt zu werden, sondern es kann auf die einschlägige Literatur 
verwiesen werden. [[42] ALBERT bezeichnet die Übernahme von Ergebnissen 
anderer Methodologien und Wissenschaften für die normative Methodologie und 
Theorie als Konstruktion von "Brückenprinzipien". S. ALBERT 1969, S. 76ff.]
Damit können normative Theorien, die z. B. falsche oder 
unzulässige empirische Argumente, ungültige logische Schlüsse, mathematische 
Fehler oder Fehlinterpretationen enthalten, für normativ ungültig erklärt 
werden, sofern es sich um Argumente handelt, die {-82-} für die Rechtfertigung 
der Norm notwendig sind. Im Folgenden sollen deshalb an einigen Beispielen die 
wichtigsten im Rahmen von normativen Theorien vorkommenden Argumentationsfehler
nicht normativer Art demonstriert werden.
§ 23 Unzulässige empirische Argumente
Natürlich kommen im Zusammenhang normativer Argumentation 
all die Fehler vor, die auch anderweitig in Bezug auf empirische Fragen gemacht 
werden:
 - Behauptungen entsprechen nicht den beobachtbaren 
Tatsachen oder sind Hypothesen ohne bisherige Bewährung an der 
Realität;
 - zum Beweis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten werden 
nur einzelne Beispiele herangezogen;
 - Zitate von Autoritäten gelten als Ersatz für die 
Beobachtung der Realität;
 - von nicht repräsentativen Stichproben werden Schlüsse 
auf die Gesamtheit gezogen,
 - Entwicklungstrends werden einfach extrapoliert;
 - nachträgliche Erklärungen (ex-post-facto-Erklärungen) 
gelten als Beweise;
 - Hypothesen werden gegen Falsifizierung immunisiert,
 - Definitionen werden als Erkenntnisse über die Realität 
ausgegeben;
 - Analogieschlüsse werden als Beweis genommen;
 - Korrelationen werden zu Kausalgesetzmäßigkeiten erklärt;
 - aus Metaphern werden inhaltliche Schlüsse gezogen usw. 
[[43] Zur Methodologie der Erfahrungswissenschaften s. z. B. OPP 1970 und die 
dort angegebene Literatur.]{- 83- }
Die Einigung über methodologisch zulässige und wahre 
empirische Argumente kann dabei einen großen Teil normativer Streitfragen 
entscheiden helfen, vor allem wenn man nicht nur die direkten Fehler bedenkt, 
sondern auch die Fülle der von den Erfahrungswissenschaften noch ungeklärten 
Fragen, die natürlich auch innerhalb normativer Argumentationen zu Problemen 
führen. [[44] Z. B. hängt die normative Frage über die Legalisierung des 
Schwangerschaftsabbruchs u. a. von empirisch schwer zu beantwortenden Fragen ab 
wie: "Würde sich dadurch die Zahl der gesundheitlichen Schädigungen von Frauen 
oder die Zahl der Kindesmisshandlungen verringern oder nicht?"   Zur Beseitigung 
normativer Meinungsverschiedenheiten durch bessere Faktenkenntnis Vgl. auch 
STEVENSON 1963.]
Ein Typus unzulässiger empirischer Argumentation soll an 
einem Beispiel erläutert werden, weil er traditionell eine wichtige Rolle bei 
normativen Fragen spielt. Gemeint ist die Berufung auf "übernatürliche"   Wesen, 
die jenseits menschlicher Erfahrung liegen. Solche Argumentationen sind 
besonders im individualmoralischen Bereich von Bedeutung, weil hier die 
religiöse Normenbegründung am stärksten verankert ist. [[45] In der 
Vergangenheit hat die Berufung auf übernatürliche Wesen auch bei der 
Rechtfertigung politischer und ökonomischer Normensysteme eine zentrale Rolle 
gespielt. Man denke etwa an den "König von Gottes Gnaden"   oder die "gottgewollte 
Ordnung"   des mittelalterlichen Feudalismus.]
Ein krasser - wenn auch im außerwissenschaftlichen Bereich nicht seltener - 
Typus unzulässiger Argumentation wäre etwa folgender: {-84-} 
Person A: "Du sollst nicht ehebrechen, denn das verstößt 
gegen Gottes Gebot."  
Person B: "Nach meiner Erfahrung der Wirklichkeit gibt es 
keinen Gott. Wie kann ich deine Behauptung überprüfen?"  
Person A: "Deine Forderung nach Überprüfung ist anmaßend 
und unangebracht, denn Gott wäre nicht Gott, wenn seine Existenz durch 
menschliche Erfahrung überprüfbar wäre."  
Gegen solch ein "Argument"   ist B natürlich machtlos, denn 
zur Überprüfung von Existenzbehauptungen steht ihm nur seine "menschliche 
Erfahrung"   zur Verfügung. Durch die Formel: "Es gibt Gott, aber er ist für 
Menschen unerkennbar"   hat sich A gegen jede Kritik immunisiert. Er hat 
seine Behauptung allein dadurch unwiderlegbar gemacht, dass er jedem möglichen 
Kritiker die Argumentationsbasis entzogen hat. [[46] Zur Analyse und Kritik 
empirischer Immunisierungsstrategien s. ALBERT 1969, S. lo6ff ]  
Was wie eine 
Argumentation aussieht, ist nur eine Pseudoargumentation. Dies wird noch 
deutlicher, wenn anstelle der fehlenden intersubjektiv nachprüfbaren Argumente 
mehr oder weniger versteckte Sanktionsdrohungen als Mittel der "Überzeugung"   
angewandt werden, indem etwa hinzugefügt wird: "Unglaube ist Abfall vom Schöpfer 
und sündige Verstocktheit ...[[47] In der drastischeren Form der christlichen 
Inquisition wurde die Immunisierung der religiösen Lehre dadurch bewerkstelligt, 
dass der Atheismus als ein "Werk des Teufels"   bezeichnet wurde. Folglich 
brauchte man sich mit seinen atheistischen Kritikern nicht argumentativ 
auseinanderzusetzen, sondern sah höchstens die Aufgabe, sie durch Folter zum 
Abschwören von ihren Auffassungen zu bringen].{-85-}
Einen anderen Typus unzulässiger Argumentation stellen 
eschatologische Prophezeiungen dar wie: "Das Jüngste Gericht (der 
Messias, die Neue Gesellschaft etc.) wird kommen!"   Solche Voraussagen ohne 
zeitliche Festlegung sind deshalb unzulässig, weil bei Nicht-Eintreffen des 
prophezeiten Ereignisses immer entgegnet werden kann: "Warte nur ab, es wird 
noch kommen."   Damit sind solche Behauptungen unwiderlegbar und gegen jede Kritik 
immunisiert.
Ein weiteres Beispiel sind Existenzaussagen ohne 
raum-zeitliche Bestimmung wie: "Es gibt Engel (Teufel, Geister etc.)"   Falls 
jemand dies mit dem Hinweis bestreitet, dass sie ihm noch nicht begegnet sind, 
so kann immer entgegnet werden: "Vielleicht gibt es sie nicht hier und jetzt, 
aber sicherlich woanders."
§ 24 Unzulässige logische Schlüsse
Die Aufdeckung unzulässiger Schlussfolgerungen geschieht 
durch logische Analyse der betreffenden Theorien. Bei komplizierteren 
sprachlichen Gebilden lassen sich logische Fehler wie Zirkelschlüsse, 
Tautologien oder Widersprüche meist nicht mehr intuitiv erfassen. Dort bedarf es 
einer gewissen Systematisierung und Formalisierung der Texte, um die einzelnen 
Begriffe, Prämissen und Schlüsse deutlich zu machen. Neben der etablierten 
Aussagen- und Prädikatenlogik wurden in den letzten Jahren speziell für 
normative Theorien eigene Kalküle entwickelt, die als "deontische"   oder "normative"   Logik bezeichnet werden.[[48] Vgl. z. B. WRIGHT 1963, KUTSCHERA 
1973 oder LENK 1974. Dort finden sich auch weitere Literaturhinweise.] 
{-86-} 
Diese Kalküle können für die logische Überprüfung 
normativer Argumentationen sehr nützlich sein. Allerdings setzt ihre Anwendung 
sowohl die Kenntnis spezieller Symbolsprachen als auch die Fähigkeit zur 
Formalisierung von oft nur umgangssprachlich formulierten normativen Theorien 
voraus. Hieraus erklärt sich vielleicht, warum solche logischen Analysen 
normativer Theorien heute noch recht selten sind. [[49] Beispiele für solche 
kritische Anwendung logischer Analyse gibt etwa KUTSCHERA 1973, S. 70ff.]
1. Der  
naturalistische Fehlschluss
Auf dem Gebiet der normativen Theoriebildung ist ein 
logischer Fehler von besonderer Bedeutung, der als "naturalistischer 
Fehlschluss"   bezeichnet wird. Darunter soll jeder Versuch verstanden werden, aus 
rein empirischen oder analytischen Prämissen durch logische Deduktion zu 
normativen Schlussfolgerungen zu gelangen. [[50] Der Terminus "naturalistischer Fehlschluss"   wurde von MOORE in die Diskussion gebracht. S. 
MOORE 1970, S. 41 ff. Bei MOORE hat dieser Begriff jedoch eine etwas andere 
Bedeutung. Er verstand darunter alle Versuche, das (normativ) Gute mit 
empirischen Begriffen zu definieren. Zur Problematik des MOOREschen 
Arguments s. FRANKENA 1939 sowie WARNOCK 1966, S. 11 ff.]
Wie in § 3/1 bereits ausgeführt wurde, sind solche 
Deduktionen logisch fehlerhaft, weil man durch Deduktion nur tautologische 
Umformungen vornehmen kann, jedoch keinen völlig neuen Bedeutungsgehalt ableiten 
kann. Da solche Versuche in der normativen Argumentation eine große Rolle 
spielen, sollen besonders typische Beispiele hier einmal kritisch analysiert 
{-87-} werden. Der Übergang von der beschreibenden Sprechweise zur vorschreibenden 
Sprechweise geschieht dabei kaum merklich mit Hilfe von Begriffen, die sowohl 
einen empirischen als auch einen normativen Gehalt haben. Der Fehlschluss kommt 
hier also durch unbemerkte Doppeldeutigkeit von Worten zustande.
2. Der normative Essentialismus und die 'Verwirklichung des 
Wesens'
Die hier als "normativer Essentialismus"   bezeichneten 
Theorien gehen so vor, dass sie erst einmal das Wesen einer Sache 
bestimmen. Es wird gefragt: "Was ist das Wesen der Sexualität (bzw. Des Staates, 
des Rechts, der Wirtschaft, der Familie, der Frau, der Sprache usw.)". Dabei 
besteht der Anspruch, die wirkliche Beschaffenheit der Sache zu erkennen. 
Allerdings muss dabei das Wesen der Sache als etwas Notwendiges und 
Gesetzmäßiges von der "Oberfläche"   als etwas Akzidentellem und Zufälligem 
befreit werden. [[51] Zur Analyse dieser bereits von ARISTOTELES verwendeten 
Methode der Wesenserkenntnis s. POPPER 1969, S. 21ff.]  
Außerdem wird - meist 
stillschweigend - vorausgesetzt, dass man jede Sache ihrem Wesen gemäß gestalten 
und behandeln muss. Schließlich werden dann diejenigen Handlungsweisen normativ 
geboten, die dem so bestimmten "Wesen der Sache"   gemäß sind. So kommt die 
katholische Sexualethik vermittels der Wesensbestimmung zu folgenden normativen 
Positionen: [[52] Vgl. hierzu etwa SCHWENGER 1969, S. 13ff.] {-88-} "Das 
Wesen der Sexualität ist die Fortpflanzung. Deshalb sind alle Formen der 
Sexualität abzulehnen, die nicht der Fortpflanzung dienen, wie der Gebrauch von 
Verhütungsmitteln, die Masturbation, Homosexualität usw."  
Um den Fehlschluss des Essentialismus herauszuarbeiten, 
müssen die einzelnen Argumentationsschritte in Form von Prämissen und 
Schlussfolgerungen explizit formuliert werden. Der Argumentationsgang verläuft 
dabei in folgenden Schritten:
(1) "Das Wesen der Sexualität ist die Fortpflanzung."  
(2) "Der Gebrauch von Verhütungsmitteln entspricht nicht 
der Fortpflanzung."  
Aus (1) und (2) folgt:
(3) "Der Gebrauch von Verhütungsmitteln entspricht nicht 
dem Wesen der Sexualität."  
(4) "Es ist verboten, etwas zu tun, das nicht dem Wesen 
einer Sache entspricht!"  
Aus (4) folgt:
(5) "Es ist verboten, etwas zu tun, das nicht dem Wesen der 
Sexualität entspricht!"  
Aus (3) und (5) folgt:
(6) "Der Gebrauch von Verhütungsmitteln ist verboten!"  
Der normative Essentialist behauptet dabei, allein aus der 
Erkenntnis der Wirklichkeit mit Hilfe logischer Schlussfolgerungen zu normativen 
Inhalten zu gelangen. Er meint durch eine theoretische Untersuchung der 
Sexualität bestimmen zu können, dass ihr Wesen in der Fortpflanzung bestehe (1). 
Dass Verhütungsmittel der Fortpflanzung 
entgegenstehen, lässt sich ebenfalls an der Wirklichkeit erkennen (2). 
Daraus 
folgt logisch, dass Verhütungsmittel dem Wesen der Sexualität {-89-} 
widersprechen (3). 
Weiterhin sei es offensichtlich und liege schon im Begriff 
des "Wesens", dass die Dinge - und folglich auch die Sexualität - ihrem Wesen gemäß 
existieren sollen. (4 und 5). 
Satz (4) ist demnach rein analytisch, er folgt 
aus der Bedeutung des Begriffs "Wesen". Zum Verbot der Verhütungsmittel gelangt 
man schließlich durch einen einfachen logischen Schluss (6).
Der Fehler dieser Argumentation besteht darin, dass der 
Begriff "Wesen"   innerhalb der Argumentation mit zwei verschiedenen Bedeutungen 
gebraucht wird, die unbemerkt gleichgesetzt werden. Wenn der Essentialist 
einerseits darauf besteht, dass das "Wesen"   einer Sache gleichbedeutend mit 
bestimmten empirischen Gesetzmäßigkeiten ist und dass "Wesen"   andererseits 
gleichbedeutend ist mit dem, was an einer Sache zu realisieren ist, so hat er 
damit für das Wort "Wesen"   zwei verschiedene Bedeutungen eingeführt. Es 
gibt dann:
1. das empirische Wesen, d. h. "das an einer Sache 
Notwendige und Gesetzmäßige"   und
2. das normative Wesen, d. h. "das an einer Sache zu 
verwirklichende."  
Damit wird jedoch der Beweisgang hinfällig, denn er beruht 
nur auf dieser Doppeldeutigkeit. Während in (3) das empirische Wesen gemeint 
ist, ist in (5) das normative Wesen gemeint. Damit wird der Schluss auf (6) 
unzulässig. 
Diese empirisch-normative Doppeldeutigkeit des Wesensbegriffs wird 
vor allem beim Adjektiv "wesentlich"   deutlich. Wenn etwa bei einem Mordprozess 
vor Gericht gesagt wird, dass es "wesentlich für die Tat sei, dass der Täter dem 
Opfer das Geld abgenommen habe", so kann "wesentlich"   in {-90-} zweierlei Sinne 
verstanden werden. Der Umstand kann einmal wesentlich für die empirische
Erklärung der Tat durch das Motiv der Bereicherung sein. Zum andern kann der 
Umstand aber auch für die Bewertung der Tat wesentlich sein, z. B. für 
ihre Klassifizierung als Raubmord oder als Totschlag. Mit dem Adjektiv "wesentlich"   können also zwei unterschiedliche Aspekte bezeichnet werden.
Wenn der Essentialist angesichts dieser Lage seine Position 
dadurch zu retten versucht, dass er behauptet, dass empirisches und normatives 
Wesen gerade zusammenfallen, so wäre damit der logische Fehler zwar behoben. 
Aber damit würde die eigentliche normative Diskussion erst beginnen, die vorher 
bereits zugunsten des Essentialisten entschieden zu sein schien. Er hätte 
nämlich dann argumentativ zu rechtfertigen, warum seine Methode der 
Wesensbestimmung immer zugleich das normativ zu realisierende einer Sache 
ergibt. Der essentialistischen Methode fehlt es gegenwärtig sowohl an einer 
methodischen Eindeutigkeit des Verfahrens wie auch an einer Begründung für die 
normative Akzeptierbarkeit der Ergebnisse. [[53] Anstelle des Begriffs "Wesen"   
werden häufig auch die Begriffe "Natur", "Funktion", "Aufgabe", "Zweck", "Sinn"   
oder "Begriff"   einer Sache verwendet und durch ihre empirisch-normative 
Doppeldeutigkeit zur Konstruktion von naturalistischen Fehlschlüssen verwandt. 
Zur Kritik der essentialistischen bzw. teleologischen neo-thomistischen 
Moralphilosophie s. a. GEISMANN 1974, S. 23ff. KUTSCHERA hat weitere Beispiele 
des naturalistischen Fehlschlusses analysiert. So hat er nachgewiesen, dass aus 
der Tatsache eines Versprechens allein noch nicht die Pflicht zu dessen 
Einhaltung gefolgert werden kann, wie SEARLE meinte. Vgl. KUTSCHERA 1973, S. 
70ff. und SEARLE 1964.]{-91-}
3. Der normative Historizismus und die "historische 
Notwendigkeit"
Eine andere Art von naturalistischem Fehlschluss, die als "normativer Historizismus"   bezeichnet werden kann, spielt in den 
geschichtsphilosophisch bestimmten Spielarten der hegelianischen Tradition eine 
Rolle. Der normative Historizismus versucht, Verhaltensnormen und politische 
Ziele allein aus der Erkenntnis der historischen Entwicklung und ihrer 
Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. So schreibt KAUTSKY: "Erst die materialistische 
Geschichtsauffassung hat das sittliche Ideal als richtungsgebenden Faktor der 
sozialen Entwicklung völlig depossediert und hat uns gelehrt, unsere 
gesellschaftlichen Ziele ausschließlich (!) aus der Erkenntnis der gegebenen 
materiellen Grundlagen abzuleiten."  [[54] KAUTSKY 1906, S. 258.]
Der Argumentationsgang verläuft dabei so, dass in einem 
ersten Schritt bestimmte tatsächliche Gesetzmäßigkeiten der 
geschichtlichen Entwicklung postuliert werden. [[55] Die 
wissenschaftstheoretische Problematik solcher Entwicklungsgesetze soll hier 
nicht weiter diskutiert werden. Vgl. z. B. POPPER 1969 und HEUER 1974] So 
wird z. B. festgestellt, dass es "unvermeidlich ist, dass die Lohnarbeiter nach 
kürzeren Arbeitszeiten und höheren Löhnen trachten, dass sie sich organisieren, 
dass sie die Kapitalistenklasse und deren Staatsgewalt bekriegen ..., dass sie 
nach der politischen Gewalt und dem Umsturz der Kapitalistenherrschaft trachten. 
Der Sozialismus ist unvermeidlich, weil der Klassenkampf, weil der Sieg des 
Proletariats {-92-} unvermeidlich (!) ist". [[56] KAUTSKY 1903 S. fehlt]
Aus dieser Einsicht in die Notwendigkeit der historischen 
Entwicklung werden dann die Ziele für den Kampf der Arbeiter "abgeleitet". So wird gefordert, dass sich die Arbeiter in Gewerkschaften und 
einer Partei organisieren sollen, dass sie für ihre Interessen nicht nur 
ökonomisch, sondern auch politisch gegen den kapitalistischen Staat kämpfen
sollen, dass sie nicht nur Reformen, sondern die soziale Revolution 
anstreben sollen usw.. 
In diesem Zusammenhang wird auch von der "historischen 
Mission"   der Arbeiterklasse gesprochen, wodurch der normative 
Aufforderungscharakter der Theorie noch deutlicher wird. Arbeiter oder 
Theoretiker, die sich nicht entsprechend verhalten, werden normativ kritisiert 
und als "reformistisch", "unsolidarisch"   oder gar als "Arbeiterverräter"   
verurteilt. Daran wird deutlich, dass es sich um recht massive Normen handeln 
muss, gegen die die Betreffenden verstoßen haben.
Zusammengefasst kann man die Schritte der Argumentation 
folgendermaßen wiedergeben:
(1) "Der organisierte Kampf der Arbeiterklasse gegen den 
Kapitalismus und der schließliche Sieg des Sozialismus sind 
historisch notwendig."  
(2) "Das historisch Notwendige soll man durch sein Handeln 
verwirklichen."  
(3) "Die Arbeiterklasse soll den Kampf gegen den 
Kapitalismus organisieren und für den Sieg des Sozialismus kämpfen!"  
Satz (1) ergibt sich aus der Erforschung der tatsächlichen 
historischen Entwicklung und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Satz (2) wird meist 
stillschweigend vorausgesetzt. {-93-} Er stellt nur fest, was bereits im Begriff 
des "historisch Notwendigen"   liegt, nämlich dass man sich diesem nicht entgegen 
stellen darf, sondern es im Gegenteil zu verwirklichen habe. Aus (1) und (2) 
folgt dann logisch die Norm (3), die Forderung nach klassenkämpferischer Aktion.
Der logische Fehler des normativen Historizismus liegt - 
ähnlich wie beim Essentialismus - in der normativ-empirischen Doppeldeutigkeit 
des Begriffs "historische Notwendigkeit."   Im Satz (1) wird "historisch 
notwendig"   im Sinne von "kausalgesetzmäßig unvermeidlich"   verwendet. Im Satz (2) 
dagegen ist das "historisch Notwendige"   dasjenige, was buchstäblich "die Not 
wendet"   als das "historisch Erforderliche".[[57] Wenn in (2) das "kausalgesetzmäßig Unvermeidliche"   gemeint wäre, wie in (1), so ergäbe sich die 
völlig überflüssige Forderung, die Menschen sollten das tun, was sie sowieso 
gezwungen sind zu tun.] Wenn sich jedoch hinter dem einen Begriff "notwendig"   zwei verschiedene Bedeutungen verbergen, so ist der Schluss von (1) 
und (2) auf den Satz (3) unzulässig.  
Der normative Historizist könnte diesem 
Problem dadurch entgehen, dass er nachweist, dass das kausalgesetzmäßig 
Notwendige und das normativ Notwendige im historischen Fortschritt gerade 
miteinander identisch sind. Allerdings würde damit die Diskussion über eine 
solche optimistische Geschichtsphilosophie erst anzufangen haben, während 
sie vorher bereits entschieden schien. [[58] Anstelle des Begriffs der "Notwendigkeit"   wird auch der Begriff der "Gesetzmäßigkeit"   und des "Fortschritts"   in seiner empirisch-normativen Doppeldeutigkeit benutzt, um einen 
naturalistischen Fehlschluss vom Sein aufs Sollen zu konstruieren. Der normative 
Historizismus ist vor allem geeignet, die Politik einer bestimmten Führung mit 
der Weihe der "historischen Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit"   zu versehen und 
damit unkritisierbar zu machen. Vgl. z. B. Die Stalinismuskritik in NEGT 1969. 
Zum Ersatz von normativ zu begründenden politischen Zielvorstellungen durch die 
Erkenntnis der vermeintlichen historischen Notwendigkeit s. a. NELSON 1974, S. 
189ff.] {-94-}
4. Kapitel
 
Weitere Gesichtspunkte 
für die Auswahl von Normen
Ähnlich wie es in der empirischen Methodologie nicht allein um die Wahrheit 
einer Theorie geht, sondern z. B. auch die Relevanz, die Erklärungskraft oder 
die Präzision der Theorie eine Rolle spielt, gibt es auch in der normativen 
Methodologie neben dem Kriterium der Gültigkeit von Normen weitere 
Gesichtspunkte für die Brauchbarkeit von Normen. Normen geben angesichts 
konflikthafter Willensinhalte eine Antwort darauf, wie sich die Individuen 
verhalten sollen. Diese Aufgabe können Normen jedoch nur in dem Maße erfüllen, 
wie die durch sie gegebene Antwort einerseits für den betreffenden Konflikt 
relevant ist und andererseits in ihrem Inhalt möglichst eindeutig und präzise 
ist. Hieraus ergeben sich weitere Gesichtspunkte für die Auswahl geeigneter 
Normen zur Lösung bestehender Konflikte.
§ 25 Die Unzulässigkeit widersprüchlicher Normen
Keine Konfliktlösung ist durch widersprüchliche Normen 
möglich. Zwei widersprüchliche Normen N1 und N2 sind nicht dazu geeignet, 
Antworten auf normative Fragen zu geben und bestehende Konflikte zu regeln. Wenn 
Individuum A die Norm N1 und Individuum B die Norm N2 vertritt und beide Normen 
existieren gleichzeitig, so wird der Konflikt zwischen den Individuen genauso 
bestehen, als wenn es überhaupt {-95-} keine normative Regelung gäbe, denn A 
verhält sich gemäß N1 und B gemäß N2. Insofern sind widersprüchliche Normen 
überflüssig.[[1] Zur Widersprüchlichkeit von Normen vgl. BERKEMANN 1974 u. 
KUTSCHERA 1973, S. 29f.]
Man kann die Unzulässigkeit logisch widersprüchlicher 
Normen auch noch allgemeiner verdeutlichen. Ziel der normativen Methodologie und 
Wissenschaft ist ja die Beantwortung von Fragen, ob bestimmte Normen existieren 
sollen oder nicht. Wenn nun logisch widersprüchliche Antworten darauf gegeben 
werden wie: "Die Norm N1 soll existieren und sie soll zugleich nicht 
existieren", so ist die gestellte Frage überhaupt nicht beantwortet. Logisch 
widersprüchliche Normen können also keine normative Fragen beantworten und damit 
keine normative Erkenntnis darstellen. [[2] In analoger Weise können 
widersprüchliche Aussagen keine Informationen über die Realität vermitteln und 
sind zur Beantwortung faktischer Fragen deshalb ungeeignet. S. Dazu OPP 1970, S. 
174f.]
Wenn widersprüchliche Normen existieren, indem die Norm N1 
eine Handlung gebietet und die Norm N2 dieselbe Handlung verbietet, so ist der 
Normadressat gezwungen, eine der beiden Normen zu verletzen. Es ist für ihn 
unmöglich, beide Normen zu erfüllen. Die Anwendung widersprüchlicher Normen kann 
nicht dazu dienen, ein bestimmtes gewünschtes Verhalten herbeizuführen. Dann 
kann jedoch auch niemand diese Norm mit dem Wunsch nach diesem Verhalten 
begründen. {-96-}
§ 26 Die Notwendigkeit präziser und eindeutiger Normen
Normative Erkenntnis dient dazu, Fragen in Bezug auf das, was sein soll, zu 
beantworten. Damit diese Antworten möglichst eindeutig und präzise ausfallen, 
müssen auch die Begriffe, in denen die Norm formuliert ist, möglichst eindeutig 
und präzise sein. Da die Normen abgesehen von rein normativen Begriffen wie "gut", "sollen", "Gebot", "Verbot", "Erlaubnis", "Pflicht", "Recht"   etc. oder 
abgeleiteten normativen Begriffen wie "Eigentum", "Diebstahl", "Mord"   etc. 
Dieselben Begriffe enthalten wie empirische Aussagen, sind die Probleme der 
präzisen Begriffsbildung über weite Strecken analog zu denen der empirischen 
Methodologie. [[3] S. Dazu z. B. OPP 1970, S. 135ff.]
Da man bei der Verwendung von Begriffen, die mehrdeutig 
oder unscharf sind, nicht genau weiß, was gemeint ist, können Normen, die mit 
Hilfe solcher Begriffe formuliert sind, auch keine klare Antwort auf die 
gestellten normativen Fragen geben. Zum Beispiel kann man darüber streiten, ob 
durch die Norm: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit"   
der Schwangerschaftsabbruch verboten wird oder nicht. [[4] Grundgesetz der 
BRD, Art. 2, Abs. 2, Satz 1. Das Bundesverfassungsgericht fasste z. B. 
auch den Embryo als unter den Begriff "jeder"   fallend auf, während der 
französische Verfassungsrat den Embryo juristisch nicht als Mensch einstufte. S. "Frankfurter Rundschau"   vom 17.01.1975.] {-97-} 
Während widersprüchliche Normen keine Antwort auf die Frage 
nach dem richtigen Handeln geben können, weil sie alle Handlungen ausschließen, 
können umgekehrt normative Leerformeln oder Tautologien keine normative Frage 
beantworten, weil sie überhaupt keine Handlung ausschließen, sondern alle 
Handlungen zulassen. Solche Leerformeln sind etwa Normen wie: "Man soll nichts 
übertreiben!", "Die Regierung hat dem Gemeinwohl zu dienen!", "Man muss immer 
das richtige tun!", "Zu hohe Lohnforderungen sind unzulässig!"   oder "Wir fordern 
eine gerechte Lösung des Konflikts!". 
Solche Normen sind immer richtig und deshalb auch ein beliebtes Mittel 
weltanschaulicher und politischer Rhetorik. Sie können nicht falsch sein, da sie 
gewissermaßen nur die Implikationen der normativen Begriffe ausdrücken. Dass "gerechte"   Lösungen zu fordern sind, liegt bereits in der Definition des 
Begriffs "Gerechtigkeit". Normativ gehaltvoll wird eine Position erst, wenn sie 
angibt, wie nach ihrer Meinung eine gerechte Lösung anzusehen hätte. Das 
problematische ist also nicht die Verwendung solcher Begriffe wie "Gerechtigkeit"   oder "Gemeinwohl". Diese Begriffe oder ähnliche sind für die 
normative Theoriebildung sogar unverzichtbar, ähnlich wie der Begriff "Wahrheit"   
für die Logik und die empirische Wissenschaft unverzichtbar ist. Problematisch 
ist vielmehr, dass diesen Begriffen kein identifizierbarer Gehalt gegeben wird, 
so dass sie leere Hülsen bleiben, die nahezu beliebig füllbar bleiben. [[5] 
In analoger Weise besitzen leerformelhafte empirische Aussagen von der Form "Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt 
wie es ist"   keinerlei Informationsgehalt. S.OPP 1970, S. 174f. Zu normativen 
Leerformeln vgl. auch TOPITSCH 1960.] {-98-}
§ 27 Die Notwendigkeit gehaltvoller Normen
Normative Erkenntnis zielt auf die Beantwortung von Fragen nach dem, was sein 
soll. Unabhängig davon, ob durch eine bestimmte Norm die gestellte Frage richtig 
beantwortet wird, kann man Normen danach einstufen, ob durch sie viele oder 
wenige Fragen beantwortet werden. Der Erkenntnisgehalt von Normen ist dabei umso 
größer, je mehr normative Fragen durch sie beantwortet werden können.
Eine singuläre Norm, die nur für einen einzigen Fall gilt, 
wie: "A soll jetzt schweigen!"   beantwortet nur für eine Person zu einem 
einmaligen Zeitpunkt die Frage, wie sie handeln soll. Ihr normativer 
Erkenntnisgehalt ist also sehr klein.
Der Erkenntnisgehalt einer Norm kann nun dadurch vergrößert 
werden, dass man beide Dimensionen, den "Normadressat"   und die "Anwendungsbedingungen"   
allgemeiner fasst. Anstatt die Norm nur an eine einzige Person zu richten, kann 
man sie zugleich an mehrere Individuen richten ("  A, B und C sollen schweigen!"  ), 
an alle Individuen mit bestimmten Eigenschaften richten ("  Alle Kinder sollen 
schweigen!"  ) oder im Grenzfall sogar an alle Individuen ("  Alle sollen 
schweigen!"  ). Beispiele für solche Normen, die sich ausnahmslos an alle Menschen 
richten, sind z. B. die mosaischen 10 Gebote, die als an jedermann gerichtete 
Imperative formuliert sind, wie z. B. das Gebot: "Du sollst nicht töten!"   {-99-}
Wenn der Kreis der Normadressaten durch bestimmte 
Eigenschaften charakterisiert wird, so können durch eine solche Norm die Fragen 
nach dem richtigen Handeln für sehr viele Individuen gleichzeitig beantwortet 
werden. Je größer die Zahl der Eigenschaften jedoch wird, die auf die 
Normadressaten zutreffen müssen, umso kleiner wird der Kreis derer, die 
sämtliche Eigenschaften besitzen, und umso geringer ist dann auch der Gehalt der 
Norm. Im Extremfall kann man die Bedingungen so spezifizieren, dass nur ein 
einziges Individuum diese Bedingungen erfüllt, so dass der Gehalt einer solchen 
Norm nicht größer ist als bei der Nennung des Eigennamens der betreffenden 
Person.
Man kann den Gehalt einer Norm auch dadurch vergrößern, 
dass man die Anwendungsbedingungen der Norm allgemeiner fasst. So kann man eine 
Norm nicht nur auf einen einmaligen Zeitpunkt beziehen, sondern auf mehrere 
Zeitpunkte oder sogar völlig unabhängig von zeitlichen Bestimmungen. Normen wie "Man soll niemals lügen!"   bzw. "Man soll immer die Wahrheit sagen!"   regeln das 
Handeln zu jedem Zeitpunkt in Bezug auf die fragliche Entscheidung und sind 
insofern zeitunabhängig und dadurch gehaltvoller.
Man kann den Gehalt von Normen auch ohne jede zeitliche 
Bestimmung erweitern, indem man Situationsbedingungen beschreibt, unter denen 
die Norm anzuwenden ist. Ein Beispiel hierfür wäre die Norm: "Zum Schutz des 
eigenen Lebens darf man den Angreifer töten". Durch eine solche Norm wird die 
Tötung eines Menschen unter den Bedingungen der Notwehr erlaubt.[[6] Zur 
logischen Struktur bedingter Normen s. KUTSCHERA 1973, S. 24ff.] {-100-}
Auch hier gilt wieder: je einschränkender und spezifischer 
die Anwendungsbedingungen einer Norm formuliert sind, desto geringer wird auch 
ihr normierender Gehalt. Man kann die Anwendungsbedingungen einer Norm derart 
spezifizieren, dass sie nur noch in ganz wenigen Fällen die Frage danach 
beantwortet, wie Individuen handeln sollen.
Ähnlich wie in den empirischen Wissenschaften wird man auch 
in den normativen Wissenschaften die Aufstellung von allgemeinen Sätzen 
versuchen, mit deren Hilfe eine möglichst große Anzahl von Fragen richtig 
beantwortet werden kann. Eine besondere Bedeutung kommt in der praktischen Anwendung 
von Normen bestimmten Vervollständigungsregeln  zu, denn für alle Konflikte muss 
es eine verbindliche normative Regelung geben, weil sonst die Kontrahenten 
versuchen könnten, ihre Interessen "auf eigene Faust"   durchzusetzen. 
Vervollständigungsregeln geben an, wie solche normativen 
Fragen zu beantworten sind, auf die ein bestimmtes existierendes Normensystem 
keine ausdrückliche Antwort gibt. KUTSCHERA nennt zwei Prinzipien, nach denen 
ein Normensystem N vervollständigt werden kann. "So sagt man z. B., dass 
Handlungen, die in einem System N nicht ausdrücklich oder explizit bewertet 
werden, implizit zu bewerten seien nach dem konzessionalen Prinzip:
I.)         Alles was (in N) nicht (ausdrücklich) verboten 
ist, ist als erlaubt anzusehen.
Oder nach dem interdiktionalen Prinzip:
II.)        Alles, was (in N) nicht (ausdrücklich) erlaubt 
ist, ist als verboten anzusehen.
In der Jurisprudenz wird das konzessionale Prinzip z. B. in dem Grundsatz des 
römischen Rechts 'nullum {-101-} crimen sine lege' (d. h. 'Kein Verbrechen ohne 
Gesetz') formuliert. Spielregeln sind dagegen oft interdiktional gemeint: nur 
die ausdrücklich erlaubten Spielzüge sind erlaubt, alle anderen verboten.[[7] 
KUTSCHERA 1973, S. 31f.] Mit Hilfe solcher Vervollständigungsprinzipien 
werden gewissermaßen 'auf einen Schlag' sämtliche normativen Fragen beantwortet, 
die ein Normensystem offen gelassen hat. Dadurch wird insofern Rechtssicherheit 
für die Individuen hergestellt, als sie bei jeder Handlung im Voraus wissen, ob 
sie gegen geltende Normen verstößt.
Andererseits werfen solche pauschalen Regelungen 
notwendigerweise Gültigkeitsprobleme auf, denn bei den 
Vervollständigungsprinzipien kommt es vor allem darauf an, dass eine irgendwie 
geartete verbindliche Entscheidung existiert, dementsprechend auftretende 
Konflikte geregelt werden können, wobei auftretende Gültigkeitsprobleme notfalls 
im Nachhinein durch die Hinzufügung neuer Normen angegangen werden. 
Vervollständigungsregeln erlauben eine Entscheidung darüber, ob eine Handlung 
gegen geltende Normen verstößt. Über deren Gültigkeit ist damit noch nicht 
entschieden. [[8] Zur Unterscheidung zwischen relativer Geltung und absoluter 
Gültigkeit einer Norm s. § 6/2]
§ 28 "Sollen" setzt "Können" voraus
Es war ausgeführt worden, dass relevante Normen voraussetzen, dass 
möglicherweise jemand gegen diese Norm verstößt. Hieraus wird auch verständlich, 
warum es überflüssig ist, eine Handlung zu verbieten, deren Ausführung sowieso 
niemandem möglich ist, denn gegen ein solches Verbot könnte niemand {-102-} verstoßen, selbst wenn er dies wollte. So wäre es z. B. 
sinnlos, für Radfahrer eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 200 km/h 
einzuführen. Insofern setzt ein "Nicht-Sollen"   ein "Können"   voraus. 
Entsprechendes würde für die Erlaubnis unmöglicher 
Handlungen gelten. Die Erlaubnis, dass Radfahrer über 200 km/h fahren dürfen, 
ist sinnlos, denn ein "Dürfen"   setzt ebenfalls ein "Können"   voraus.
Ebenfalls sind Gebote unsinnig, 
die eine unmögliche Handlung gebieten, z. B. das Gebot an Radfahrer, schneller 
als 200 km/h zu fahren. Auch "Sollen"   setzt "Können"   voraus.[[9] Vgl. zur 
Problematik des logischen Zusammenhangs zwischen "Sollen"   und "Können"   WRIGHT 
1963, S.108ff.] Der Befürworter einer solchen unerfüllbaren Norm muss 
wissen, dass durch keine Sanktionierung dieses Gebotes die gebotene Handlung 
herbeigeführt werden kann. Folglich kann er auch das Gebot nicht damit 
begründen, dass er die gebotene Handlung herbeizuführen wünscht. [[10] 
Allerdings kann eine unerfüllbare Norm aus andern Gründen gewollt werden. Z. B. 
können solche Normen jemandem dazu dienen, bei den fälligen Bestrafungen für die 
Nichterfüllung des Gebots sadistische Hassgefühle zu befriedigen. Oder sie 
werden aufgestellt, um bei den Normadressaten Schuldgefühle und Strafängste zu 
mobilisieren, die sie gefügiger gegenüber anderen Normen machen.]{-103-}
5. Kapitel
Zur Kritik von Eigeninteresse und Verallgemeinerbarkeit als Kriterien der Gültigkeit von Normen
Das Intersubjektivitätsgebot der normativen Erkenntnis 
fordert die Suche nach Normen, deren Existenz gegenüber jedermann argumentativ 
gerechtfertigt werden kann. Hieraus lässt sich eine Reihe von Regeln ableiten, 
die die notwendigen Bedingungen eines derartigen argumentativen Konsens 
darstellen. Allerdings sind diese Argumentationsregeln noch nicht hinreichend, 
um in jedem Fall einen normativen Konsens herzustellen. 
Es kann also ohne weiteres sein, dass von zwei 
Argumentationspartnern zwei miteinander unvereinbare Normen behauptet werden, 
ohne dass einer von beiden die grundlegenden Regeln der Argumentation verletzt. 
Aus der methodologischen Regel: "Suche nach einem argumentativen Konsens in 
Bezug auf die Norm, die existieren soll!"   lässt sich also direkt noch kein 
hinreichendes Kriterium dafür gewinnen, welche Norm argumentativ Konsensfähig 
ist und welche nicht. 
In der empirischen Methodologie ist die Möglichkeit eines 
argumentativen Konsens in Bezug auf Behauptungen über die Beschaffenheit der 
Realität dadurch gegeben, dass intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmungen der 
Realität gemacht werden können. Die Frage ist, ob sich in Bezug auf normative 
Behauptungen ein ähnliches Kriterium bestimmen lässt wie das 
Wahrnehmungskriterium bei empirischen Behauptungen. 
Im Folgenden sollen nun zwei traditionsreiche Versuche 
analysiert werden, den argumentativen Konsens über Normen herzustellen und ein 
Kriterium dafür zu gewinnen, wann eine Norm "von jedermann gewollt werden 
kann".{-104-}
Das eine Mal wird versucht, die Konsensfähigkeit von 
Normen über das Eigeninteresse der Individuen herzustellen, das andere Mal wird 
als Kriterium die Verallgemeinerbarkeit des individuellen Willens genommen.
§ 29   Konsensfähigkeit von Normen und 
Übereinstimmung der Eigeninteressen
 Entgegen der obigen Position, dass sich keine Norm denken 
lässt, die für alle Individuen vom Gesichtspunkt ihres Eigeninteresses her die 
bestmögliche ist, hat es verschiedene Versuche gegeben, die letztliche 
Übereinstimmung von Eigeninteresse und normativer Verpflichtung nachzuweisen. 
Ohne eine solche Übereinstimmung erschien vielen Theoretikern jede normative 
Ordnung als nutzlos. So schreibt z. B. HUME: "... Welche Theorie der Moral kann 
jemals irgendeinen nützlichen Zweck erfüllen, wenn sie nicht zeigen kann, ... 
dass alle Pflichten, die sie empfiehlt, letztlich auch im wahren Interesse jedes 
Individuums sind?"   [[3] HUME 1970, S. 280. Dies ist auch ungefähr der 
Argumentationsgang von HOBBES im "Leviathan"   Kap. XIII.] Man könnte z. B. argumentieren, dass es im Eigeninteresse 
jedes Individuums sei, irgendein Normensystem zu akzeptieren. Denn wenn es 
überhaupt keine normative Regelung gäbe, so müsste jeder ständig in Angst leben, 
dass ein anderer - oder eine Gruppe von Individuen - ihm das nehmen, was er zu 
seinem Leben benötigt, seien es Lebensmittel, Arbeitsmittel, Land, Freiheit, 
Gesundheit und sogar das eigene Leben oder das seiner Angehörigen. Ohne Normen 
wäre es ja niemandem verboten, sich zu nehmen, was er begehrt, gleichgültig ob 
es {-107-} sich gerade in der Verfügung eines andern befindet. 
Alles sei nur eine Frage der Überlegenheit im Kampf und keiner könnte sicher 
sein, dass nicht irgendein anderer bzw. eine Vereinigung von anderen stärker ist 
als er. Da einen solchen Zustand des "Faustrechts"   niemand wollen kann, so wird 
argumentiert, liegt es in jedermanns Eigeninteresse, einem Normensystem und 
seiner Sanktionierung durch eine Zentralgewalt zuzustimmen. Ein anderer traditionsreicher Versuch, zu Konsensfähigen 
Normen zu kommen, die zugleich dem Eigeninteresse der Individuen entsprechen, 
ist die Bestimmung von Normen durch Verträge zwischen den Individuen. Als 
Verträge gelten bestimmte Abmachungen {-109-} und Vereinbarungen zwischen allein 
von ihrem Eigeninteresse bestimmten Individuen, durch die sich die beteiligten 
Vertragsparteien an die Befolgung von gemeinsam akzeptierten Normen binden. 
Verträge beinhalten eine Verpflichtung der Individuen zu einem gemeinsam 
festgelegten Handeln.  Neben dem Problem der universalen Gültigkeit von Verträgen 
liegt ein weiteres Problem in den Bedingungen der Zustimmung zu einem Vertrag. 
Die Zustimmung zu gültigen Normen muss rein argumentativ herstellbar sein. Sie 
darf nicht durch fremde Einflüsse erzeugt werden, die gegen den Willen des 
Individuums wirken. [[11] S. o. § 9.] Wenn der Vertrag ein Verfahren zur 
Bestimmung gültiger Normen sein soll, so muss also untersucht werden, unter 
welchen Bedingungen die Zustimmung zum Vertrag zustande kommt und ob sich der 
vertragliche Konsens vom argumentativen Konsens unterscheidet. § 30  Konsensfähigkeit und Verallgemeinerbarkeit von 
Normen Wie oben ausgeführt wurde, führt der Appell an das 
Eigeninteresse der Individuen höchstens in Ausnahmefällen zu gültigen Normen, 
deren Existenz gegenüber jedermann argumentativ gerechtfertigt werden kann. Ein 
wichtiger Ansatz, um jenseits individueller Eigeninteressen zu gültigen Normen 
zu gelangen, bezieht sich auf die "Verallgemeinerbarkeit"   von Normen.[[17] 
Anstatt von "Verallgemeinerbarkeit"   von Normen wird häufig auch von ihrer "Universalisierbarkeit"   gesprochen, vor allem im Anschluss an HARE 1954/55. 
 Bei bestimmten Normen ist bereits das Kriterium der 
generellen Anwendbarkeit hinreichend, um solche Normen als unzulässig 
auszuschalten, so dass es gar nicht mehr des Kriteriums der universalen 
Anerkennbarkeit bedarf. Denn eine Norm, die nicht allgemein anwendbar ist, kann 
bereits von einem einzelnen Individuum nicht sinnvoll gewollt bzw. anerkannt 
werden. Eine solche, bei allgemeiner Befolgung sich selbst aufhebende Norm wäre 
z. B. die Norm: "Es ist erlaubt, geschlossene Verträge nicht einzuhalten."   Ein anderer Versuch, die Verallgemeinerbarkeit von Normen 
zum Gültigkeitskriterium zu machen, ist die {-122-} "Goldene Regel". Sie ist z. 
B. in der sprichwörtlichen Formulierung ausgedrückt: "Was du nicht willst, das 
man dir tu', das füg' auch keinem andern zu!"    6. Kapitel   
§ 31 Das Solidaritätsprinzip
 In den vorangegangenen Abschnitten wurde dargelegt, dass 
weder durch den Appell an das Eigeninteresse der Individuen noch durch das 
formale Kriterium der Verallgemeinerbarkeit von Normen ein Kriterium für die 
Allgemeingültigkeit von Normen gegeben ist. Das Problem ist, wie trotzdem ein 
gewaltfreier Konsens über Normen möglich ist, wie er vom 
Intersubjektivitätsgebot gefordert wird. § 32 Erläuterungen zum Solidaritätsprinzip Wenn man die Interessen eines andern Individuums "so 
berücksichtigt, als wären es die eigenen", so bedeutet das einmal, dass man die 
Interessen des andern positiv berücksichtigt, so wie man auch seine eigenen 
Interessen positiv berücksichtigt.  
§ 33 Das Solidaritätsprinzip ist kein unmittelbares Kriterium für richtiges 
Handeln Das Solidaritätsprinzip gibt an, wie ein gewaltfreier, "vernünftiger"   Konsens über Normen hergestellt werden kann. Es darf jedoch 
nicht missverstanden werden als ein Kriterium, das unmittelbar für das Handeln 
der Individuen verbindlich wäre. § 34 Das Solidaritätsgebot und das Gebot der Personunabhängigkeit Das Solidaritätsgebot verlangt, dass bei der Setzung von 
Normen jeder das Interesse jedes andern genauso berücksichtigen muss, als wäre 
es sein eigenes. Er muss sich das Interesse des andern "zu eigen"   machen. Dazu 
muss er sich "in die Lage des andern hineinversetzen"   und die zur Entscheidung 
stehenden Normen auch "aus seiner Sicht"   beurteilen. § 35 Solidaritätsgebot, Gebot der Personunabhängigkeit und 
HAREs Prinzip der "Universalisierbarkeit"     Die vorangegangenen Überlegungen haben zu ähnlichen 
Ergebnissen geführt, wie sie HARE in seinem Buch "Freedom and Reason"   vorlegt. 
[[12] s. HARE 1965, Abschnitt 6.] 
Das von HARE vertretene Prinzip der "Universalisierbarkeit"   ist weitgehend 
parallel zum Gebot der Personunabhängigkeit und sogar zum Solidaritätsgebot. 
Allerdings sind die Begründungen unterschiedlich. 7. Kapitel Die solidarische Zusammenfassung der individuellen 
Interessen zu einem Gesamtinteresse   Das Problem der Bestimmung gültiger Normen lässt sich 
verstehen als Möglichkeit einer gewaltfreien, rein argumentativ erzeugten 
Übereinstimmung der individuellen Willen bzw. Interessen. Gemäß dem oben 
entwickelten Solidaritätsprinzip ist ein solcher Konsens dann möglich, wenn 
jedes Individuum die Interessen jedes anderen Individuum bei der Bestimmung der 
zu wählenden Norm genauso berücksichtigt, als wären es seine eigenen. Aus einer 
derartigen solidarischen Berücksichtigung aller individuellen Interessen ergibt 
sich dann das Gesamtinteresse.  § 36 Allgemeines zur Nutzenbestimmung 
1. Erläuterung der Nutzenterminologie Wie oben ausgeführt wurde, verlangt das Solidaritätsprinzip 
zur Erzielung eines normativen Konsens von jedem Individuum, dass es alle 
Interessen solidarisch so berücksichtigt, als wären es die eigenen. Damit ist 
die Frage nach einer näheren Bestimmung der individuellen Interessen aufgeworfen 
sowie das Problem ihrer solidarischen Gewichtung und Zusammenfassung zu einem 
Gesamtinteresse. In ökonomischer Terminologie ausgedrückt heißt dies, dass ein intersubjektiver Nutzenvergleich notwendig ist: Bei der Bestimmung der gültigen Norm muss 
der "Nutzen"   der verschiedenen Alternativen für jedes Individuum 
intersubjektiv vergleichbar bestimmt werden, um diejenige Alternative zu finden, 
die den größten "Gesamtnutzen"   besitzt. Die Bestimmung eines Nutzenmaßstabs für die solidarische 
Zusammenfassung der individuellen Interessen zu einem Gesamtinteresse wirft zwei 
verschiedene Arten von Problemen auf, die in der Diskussion leicht 
durcheinandergebracht werden können, deren klare Unterscheidung jedoch notwendig 
ist. An den Nutzenmaßstab sind zwei Anforderungen zu stellen: § 37 Kritik einer Beschränkung auf eine nur ordinale 
Nutzenmessung Das Solidaritätsprinzip erfordert zur Bestimmung des 
Gesamtinteresses die gleichgewichtige solidarische Zusammenfassung der 
individuellen Eigeninteressen. Anders ausgedrückt: Das, was gesellschaftlich sein 
soll, muss ermittelt werden aufgrund dessen, was die Individuen wollen. 
Damit stellt sich das Problem, wie sich die Einzelinteressen, wie sich das, was 
die Individuen wollen, bestimmen lässt. Diese Bestimmung muss dabei in einer 
Form erfolgen, die die Zusammenfassung der individuellen Nutzen zu einem 
Gesamtnutzen ermöglicht, anhand dessen dann zwischen alternativen Normen die 
gültige Norm ermittelt werden kann. Im vorangegangenen Abschnitt sind die Probleme einer 
Bestimmung der individuellen Interessen durch Wahlhandlungen erörtert worden. 
Selbst wenn man einmal {-148-} voraussetzt, dass die Wahlhandlungen der Individuen ein 
qualifizierter und aufrichtiger Ausdruck ihrer Interessen sind, so kann man 
aufgrund von Wahlhandlungen nur eine Rangordnung der Alternativen 
gemäß den Interessen des jeweiligen Individuums aufstellen. Man erhält also nur 
eine ordinale Bestimmung des individuellen Nutzens, wenn man von den 
Wahlhandlungen bzw. Präferenzen der Individuen ausgeht. [[16] Der Übergang vom quantitativen Nutzenbegriff zu einem nur ordinalen Präferenzbegriff vollzog sich in der ökonomischen Theorie demgemäß 
auch in enger Verbindung mit der Ausgrenzung normativer Fragestellungen und der 
Entwicklung einer Konzeption der Ökonomie als positiver Verhaltenswissenschaft. "Die einzige Bedeutung, die den Nutzenkonzepten zukommen kann, ist die 
Kennzeichnung des tatsächlichen Verhaltens, und es ist gründlich demonstriert 
worden, dass ein Handlungsverlauf, der durch eine gegebene Nutzenfunktion 
erklärt werden kann, ebenso gut durch irgendeine andere Nutzenfunktion erklärt 
werden kann, die eine streng ansteigende (strictly increasing) Funktion der 
ersteren ist."   ARROW 1963, S. 9. Zur Einführung in die Probleme der Nutzenmessung s. z. B. ALCHIAN 1953.] Ein weiterer Grund für eine genauere als nur ordinale 
Erfassung der individuellen Interessen ergibt sich aus dem negativen Resultat 
der Untersuchungen ARROWs zur Problematik kollektiver Entscheidungen auf der 
Grundlage ordinal bestimmter individueller Nutzen. [[21] S. ARROW 1963 und 
1967.] ARROW hat darin 
nachgewiesen, dass es keine kollektive Entscheidungsregel geben kann, die in 
allen Fällen die individuellen Rangordnungen der Alternativen zu kollektiven 
Rangordnungen aggregiert, sofern man für die kollektive Entscheidungsregel die 
Erfüllung einiger, nach ARROWs Meinung sehr milder und vernünftiger Bedingungen 
fordert. A B C Bier Wein Saft Wein Saft Bier Saft Bier Wein  Abb.: 7.1 Eine solche Interessenkonstellation wäre jedoch schon nicht 
mehr "eingipflig"   und würde nach dem Mehrheitsprinzip zu einer intransitiven, 
zyklischen kollektiven Präferenz führen, da keines der Getränke gegenüber den 
beiden andern mehrheitlich vorgezogen wird. (Siehe dazu auch unten § 111.) § 38 Formale Aspekte der kardinalen Nutzenmessung    Wenn man den Nutzen verschiedener Alternativen einer 
Entscheidungssituation für ein bestimmtes Individuum A graphisch 
veranschaulichen will, so kann man dies wie in Abb. 7.2 mittels einer Achse tun, 
auf der von links nach rechts die Höhe [[37] ARROW 1967, S. 135.] {-166-} des Nutzenniveaus für A abgetragen wird. Wenn man dasjenige 
Nutzenniveau, welches das Individuum A im Status quo hat, durch einen beliebigen 
Punkt auf der Achse ausdrückt, so wird der individuelle Nutzen jeder anderen 
Alternative im Verhältnis zum Status quo durch ihren Abstand zum 
Status-quo-Punkt ausgedrückt, wobei Verschlechterungen gegenüber dem Status quo 
nach links abzutragen sind, während Verbesserungen nach rechts abzutragen sind. 
Es wird auf der Achse also für jede Alternative das Nutzenniveau eingetragen, 
das durch diese Alternative für das betreffende Individuum erreicht wird.    z               
sq  
x          
w    
y     Abb.: 7.2
 In diesem Beispiel hätten die Alternativen 
w, x, y und z also für das 
Individuum A folgenden Nutzen (bzw. das Nutzenniveau des Individuums A würde im 
Verhältnis zum Status quo um die folgende Anzahl von Nutzeneinheiten verändert): Kardinale Nutzenwerte des Individuums A Alternative Nutzen w +5 x +1 y +7 z -6 sq 0 Abb.: 7.3 Intervall-Skala   
a1                   a2                 a3   Durch die oben genannte Bedingung wird gewährleistet, dass 
sich der Abstand zwischen den Punkten a1 und a3 als Summe der beiden 
Abstände zwischen a1 bis a2 und a2 bis a3 ergibt. Auf dem Messniveau einer 
Intervall-Skala ermittelte Werte können also im Gegensatz zu den Werten einer Ordinal-Skala addiert bzw. subtrahiert werden. 
3. Die Bestimmung der Nutzeneinheit 
4. Die Konstruktion des Gesamtnutzens als Summe der 
individuellen Nutzen § 39 Der interpersonale Nutzenvergleich 8. Kapitel Konkrete Verfahren einer interpersonal vergleichbaren 
Nutzenmessung und ihre Kritik   Das oben entwickelte Konzept eines solidarischen 
Nutzenvergleichs kann nicht den Anspruch erheben, bereits ein präzises 
Messverfahren darzustellen, sondern kann gewissermaßen nur Schätzwerte liefern. 
Es erhebt jedoch den Anspruch, den Begriff des "Nutzens"   im normativen Sinne zu 
bestimmen. Sofern also Nutzenbestimmungen mit der normativen Implikation 
vorgenommen werden, dass die Alternative mit dem größten Nutzen zu 
realisieren sind, sind sie an dem Konzept des solidarischen Nutzenvergleichs auf 
ihre normative Validität zu prüfen. [[1]Zum Problem der Validität des Nutzenmaßstabs §36/2]
 § 40  Präferenzschwellen als interpersonal vergleichbare 
Nutzeneinheiten Der Vorschlag, Wahrnehmungsschwellen in Bezug auf 
Nutzenveränderungen als kardinale Nutzeneinheiten zu wählen, wurde in die 
wohlfahrtsökonomische Diskussion von ARMSTRONG eingebracht. [[3]ARMSTRONG 
1951] Bei dieser 
Konzeption wird davon ausgegangen, dass Individuen nur ein begrenztes 
Unterscheidungsvermögen hinsichtlich von Verbesserungen ihrer Lage bzw. 
Erhöhungen ihres Nutzenniveaus haben. Jedes mal, wenn für ein Individuum eine 
wahrnehmbare Nutzenerhöhung stattgefunden hat - wenn also eine Präferenzschwelle 
überschritten wurde - , erhöht sich das Nutzenniveau des betreffenden 
Individuums um eine Einheit. [[4] Ähnliche Versuche zur Quantifizierung nur 
introspektiv zugänglicher Phänomene wie z. B. Schmerz wurden bereits im letzten 
Jahrhundert in der Psychologie gemacht. S. FECHNER 1889] § 41 Der  
spieltheoretische Nutzenbegriff Andere Versuche der intersubjektiv vergleichbaren 
Nutzenmessung nehmen ihren Ausgang vom Nutzenbegriff, wie er seit v. NEUMANN und 
MORGENSTERN in der Spieltheorie gebräuchlich ist. [[9] Zum 
spieltheoretischen Nutzenbegriff vgl. z. B. v. NEUMANN/MORGENSTERN 1947 oder MARSCHAK 1954 und LUCE/RAIFFA 1957, S. 23ff. Zum 
folgenden s. a. Die Diskussion bei ARROW 1963 .S. 9f. und SEN 1970, S. 94f.]
 § 42  Die Wahl der Alternative mit dem höchsten Gesamtnutzen 
bei nur teilweiser Vergleichbarkeit der Nutzenmaße Um dem Problem unterschiedlicher Normalisierungen und 
unterschiedlicher Gewichtungen der individuellen Nutzen die Schärfe zu nehmen, 
schlägt SEN ein Verfahren vor, das er "teilweise Vergleichbarkeit"   (partial 
comparability) nennt. Dies Verfahren nimmt gewissermaßen eine Zwischenstellung 
ein zwischen den zwei Polen einer vollständigen Vergleichbarkeit der 
individuellen Nutzen, wo eine Nutzeneinheit beim einen Individuum genau das 
gleiche Gewicht besitzt wie eine Nutzeneinheit beim andern Individuum, und einer 
völligen Unvergleichbarkeit, wie sie bei bloß subjektiven Rangordnungen der 
Alternativen vorliegt. [[16] S. SEN 1970, S.99ff.] SEN schlägt vor, eine Anzahl verschiedener 
Verfahren der interpersonalen Normalisierung zu benutzen und zu sehen, ob sich 
für die Alternativen unabhängig vom benutzten Verfahren dennoch die gleiche 
Rangordnung ergibt. § 43  Bestimmung des Gesamtnutzens und Auslosung der 
sozialen Positionen:  
HARSANYIs Konstruktion "ethischer Präferenzen"    § 44  Nutzenmessung durch  
geopferte Gütermengen Andere Versuche kardinaler interpersonal vergleichbarer 
Nutzenmessung gehen dahin, den individuellen Nutzen einer Alternative durch die 
Menge an Gütern zu bestimmen, die das Individuum für deren Realisierung zu 
opfern bereit ist. Zur Bestimmung des individuellen Nutzens einer Alternative 
fragt man jedes Individuum: "Wieviele Einheiten des Gutes G bist du bereit zu 
opfern, damit diese Alternative realisiert wird?"   [[24] Wenn die Alternative für das Individuum einen negativen 
Nutzen besitzt, so muss die entsprechende Frage lauten: "Wieviel Einheiten des 
Gutes G muss man dir dazugeben, damit du mit der Realisierung dieser Alternative 
einverstanden bist?"]  § 45 Nutzenmessung durch  
geopferte Geldmengen Wenn man naturale Güter als Nutzenmaßstab verwendet, so 
tritt das Problem auf, dass die Bedürfnisse der Individuen in Bezug auf das 
gewählte Gut unterschiedlich sind, sodass die Vergleichbarkeit der individuellen 
Nutzen pro Gütereinheit nicht gegeben ist. Da Geld selber kein konsumierbares 
Naturalgut darstellt sondern nur ein bestimmtes Quantum Tauschwert bzw. 
Kaufkraft repräsentiert, treten dabei solche Unterschiede in den individuellen 
Bedürfnissen nicht störend auf. [[32] Zum Geld als Tauschmedium s. u. § 88.] Wenn man z. B. 
den negativen Nutzen 
einer anstrengenden Arbeit für die Individuen dadurch messen wollte, für wie viele 
Flaschen Bier die Individuen bereit wären, diese Arbeit zu machen, so würde das 
Ergebnis je nach der unterschiedlichen Vorliebe der Individuen für Bier auch 
entsprechend unterschiedlich ausfallen. [[33] Es sei denn, jemand benutzt das 
Bier als Tauschmittel anstatt es selber zu verbrauchen.] Wird der negative Nutzen der 
Arbeit jedoch in Kaufkrafteinheiten gemessen, so wirken sich diese individuellen 
Geschmacksunterschiede {-222-} nicht aus. § 46 Geopferte Zeit als Nutzenmaßstab Ein Medium, mit dem die Individuen 
relativ gleichmäßig ausgestattet sind, ist die Lebenszeit. [[39] Insofern die Lebensdauer der Individuen faktisch 
unterschiedlich ist, ist die obige Aussage eigentlich unkorrekt. Genauer müsste 
man sagen, dass die Lebenserwartung der Individuen ungefähr gleich ist. 
Insofern ihre tatsächliche Lebensdauer den Individuen jedoch unbekannt ist, 
spielt für die Bewertung der Lebenszeit durch die Individuen nur ihre 
Lebenserwartung eine Rolle.] Es liegt deshalb nahe, den 
individuellen Nutzen der zur Entscheidung stehenden Alternativen interpersonal 
vergleichbar danach zu bemessen, wieviel Zeit ein Individuum bereit ist, für die 
Realisierung einer Alternative zu opfern. [[40] s. dazu ZINN 1970b, S.113ff. u. 
ZINN 1970a, S.73ff.] Eines der auch im Alltag angewendeten Verfahren, um die 
individuellen Nutzen verschiedener Alternativen zu vergleichen, besteht darin, 
knappe Güter danach auf die Individuen zu verteilen, welche Dauer an Wartezeit sie bereit sind, dafür in Kauf zu nehmen. 
[[41] Oft hat sich das Prinzip der Verteilung nach der 
Wartezeit auch nur naturwüchsig durchgesetzt, z. B. wenn durch 
Preisfestsetzungen eine Verteilung nach der Zahlungsbereitschaft ausgeschaltet 
war, wie während der Nachkriegszeit.] Die Individuen können dann für sich kalkulieren {-229-}, wieviel Wartezeit ihnen das Gut wert ist, und 
sich zu einem entsprechend frühen Zeitpunkt vor Beginn der Verteilung anstellen. 
Die sich bildenden Warteschlangen werden dann der Reihe nach abgefertigt, "solange der Vorrat reicht".
 Man kann auch versuchen, den Nutzen der zur Entscheidung 
anstehenden Alternativen durch die Bereitschaft der Individuen zu messen, für 
deren Realisierung eine bestimmte Zeitdauer zu arbeiten. So schlägt {-233-} ZINN z. B. vor, zur Ermittlung derjenigen Alternative der 
Einkommensverteilung, die den größten Gesamtnutzen erbringt, individuelle 
Nutzenfunktionen zu bestimmen, indem man ermittelt, "wie viele Arbeitsstunden 
jedes Individuum bereit ist, für alternative Einkommen aufzuwenden. ... Eine 
Nutzenmessung mit Hilfe dieses Nutzenmaßes führt dann zu interpersonellen 
Nutzenvergleichen folgender Art: Wenn A für 400 DM 35 Wochenstunden arbeiten 
würde, B hingegen für 400 DM nur 30 Stunden, so haben die 400 DM für A 
offensichtlich einen höheren Nutzen. A ist bereit, mehr von seiner Lebenszeit bzw. Freizeit für die 400 DM 
zuwenden."   [[45] ZINN 1970b, S.113f.]  Nach ZINN spricht für die Zeit als Nutzenmaßstab gegenüber 
anderen Gütern oder Geld, dass die Ausstattung mit dem Gut "Lebenszeit"   bzw. "Lebenserwartung"   für alle Individuen annähernd gleich ist, wenn man einmal von 
unheilbar Kranken und ähnlichen Ausnahmen absieht. "Die Nutzenmessung soll 
sinnvollerweise von einer Kategorie ausgehen, die für alle Menschen von Geburt 
an gleich ist. Dies trifft für die Lebenszeit zu. Der gesunde Mensch eines 
Jahrgangs hat eine statistisch festgestellte Lebenserwartung."   [[48] ZINN 1970a, S.76f.] 9. Kapitel Einwände und Ergänzungen zum Prinzip des maximalen 
Gesamtnutzens   § 47 Zum 
logischen Status von Nutzenbestimmungen § 48 Die Abhängigkeit der 
individuellen Interessen von 
sozialen Bedingungen Das Solidaritätsprinzip enthält insofern ein "individualistisches"   Element, als für die Bestimmung gültiger Normen die 
Interessen der Individuen maßgebend sind. Das Gesamtinteresse ergibt 
sich aus einer solidarischen Zusammenfassung der individuellen {-242-}Interessen. Gegen diesen Ausgangspunkt bei den 
individuellen Interessen könnte eingewandt werden, dass die individuellen 
Interessen ja wiederum durch andere Faktoren - vor allem sozialer Art - geformt 
werden, sodass man besser gleich bei der Analyse der gesellschaftlichen 
Verhältnisse ansetzen sollte, um allgemeingültige Normen zu 
bestimmen. § 49 Gibt es 
unzulässige individuelle Interessen? Wenn das Solidaritätsprinzip verlangt, die Interessen aller 
Individuen zu berücksichtigen, so erscheint eine solche Forderung dann 
unangebracht, wenn etwa "bösartige"   Interessen der Individuen vorhanden sind, z. 
B. das Interesse, andere Menschen zu quälen oder gar zu töten. Muss man nicht 
stattdessen von vornherein zwischen "guten"   und "bösen"   Interessen 
unterscheiden, anstatt unterschiedslos alle Interessen zu berücksichtigen, so 
wie sie bei den Individuen tatsächlich vorhanden sind? Widerspricht das 
Solidaritätsprinzip insofern nicht zumindest dem intuitiven moralischen 
Empfinden?  § 50 Die Harmonisierung der individuellen Interessen Insofern die Art der individuellen Interessen von Faktoren 
wie den sozialen Verhältnissen und der Erziehung im weitesten Sinne beeinflusst 
wird, kann bei der Bestimmung der dem Gesamtinteresse entsprechenden Norm nicht 
von den aktuellen Interessen ausgegangen {-249} werden, sondern es müssen den Überlegungen solche 
Interessen zugrunde gelegt werden, wie sie sich unter den geänderten Bedingungen 
voraussichtlich einstellen werden. Damit ist zugleich die Möglichkeit gegeben, 
Einfluss auf die Beschaffenheit der individuellen Interessen zu nehmen, um 
anstelle wechselseitig unvereinbarer individueller Interessen zukünftig zu einer 
Harmonisierung der Interessen zu kommen. § 51 Maximierung des Gesamtnutzens und das Prinzip der 
 
austeilenden Gerechtigkeit Das Solidaritätsprinzip und seine Konkretisierung in einem 
Kalkül des Gesamtnutzens fordert einen Einwand heraus, der zwar eigentlich gegen 
den klassischen Utilitarismus formuliert wurde, der aber im Prinzip gegen jede 
normative Methode gerichtet ist, die eine Maximierung des Gesamtnutzens bzw. ein 
Gemeinwohl {-252-} zum Kriterium der Gültigkeit von Normen macht. Der Einwand 
richtet sich dabei dagegen, dass die Größe des Gesamtnutzens noch nichts über 
die Verteilung des Nutzens auf die Individuen aussagt. So kann eine 
Erhöhung des Gesamtnutzens u. U. auf Kosten bestimmter Individuen erreicht 
werden, was dem Prinzip der austeilenden oder distributiven Gerechtigkeit 
widersprechen könnte. "Die Sache ist, dass eine bestimmte Regel zwar die Summe 
des Guten in der Welt maximal vergrößern mag, aber trotzdem ungerecht sein kann 
in der Art, wie sie diese Summe verteilt, sodass eine weniger ergiebige Regel, 
die gerechter vorgeht, vorzuziehen ist. ... Danach wäre also das Kriterium für 
die Aufstellung moralischer Regeln nicht bloß ihre Nützlichkeit sondern auch 
ihre Gerechtigkeit."   [[17] FRANKENA 1972, S.59.]  10. Kapitel Die Anwendung 
individualistischer Entscheidungs-Systeme und 
die Qualifikationsbedingungen der  individuellen Interessenartikulation § 53 Sanktionsfreiheit als Qualifikationsbedingung der 
Interessenäußerung Wenn die Interessenäußerungen eines Individuums 
sanktioniert werden, können sie nicht mehr als Ausdruck seines wirklichen 
Willens genommen werden. Denn wenn die Wahl der Alternativen mit Belohnungen 
oder Bestrafungen bzw. Versprechungen oder Drohungen verbunden wird, so stehen 
für das Individuum nicht mehr die ursprünglichen Alternativen zur Wahl, sondern 
- durch positive oder negative Sanktionen - modifizierte Alternativen. § 54 Informiertheit als Qualifikationsbedingung der 
individuellen Interessenäußerung Weiterhin drückt die Interessenäußerung eines Individuums 
dann nicht seinen wirklichen Willen aus, wenn das Individuum über 
entscheidungsrelevante Fakten und Zusammenhänge falsch informiert 
war. Wenn z. B. im obigen Getränkebeispiel der Mann den Wein irrtümlich 
für Traubensaft gehalten hat, so sagt seine Entscheidung für Bier nichts darüber 
aus, ob der Genuss von Bier mehr seinem individuellen Interesse entsprochen hätte 
als der Genuss von Wein. {-271-}  § 55 Fiktion und Wirklichkeit des individuellen Willens in 
 
psychologischen Theorien Mit den Bedingungen der Sanktionsfreiheit und der 
Informiertheit ist jedoch das Problem einer qualifizierten individuellen 
Interessenäußerung noch keineswegs gelöst. Es hat zwar den Anschein, als brauche 
das Individuum angesichts der bekannten Alternativen nur noch "frei heraus"   zu 
sagen, was es will. Das Problem ist jedoch, dass ein Individuum gar nicht 
unbedingt "weiß, was es will".  In der psychoanalytisch orientierten Psychologie wurde ein 
radikaler Bruch mit der traditionellen Vorstellung vom integrierten, rationalen, 
bewusst entscheidenden Subjekt vollzogen. Die Persönlichkeit wird dort 
verstanden als aufgebaut aus mehreren relativ selbständigen Instanzen, dem "Es", 
dem "Ich"   und dem "Über-Ich".[[12] Vgl. zum Folgenden z. 
B. FREUD 1969, S.496ff.]  Auch in den mehr lerntheoretisch und neurophysiologisch 
orientierten Richtungen der Psychologie kann von einem einheitlichen, 
integrierten Willen der Person nicht ohne weiteres die Rede sein. So ist nach 
den Ergebnissen der Neurophysiologie das Zentral-Nerven-System des Menschen ein 
kompliziertes, "etagenmäßig"   aufgebautes Steuerungs-System mit teilweise {-278-}relativ selbständigen automatischen und unwillkürlichen 
Reflexen, die z. B. direkt über das Rückenmark geschaltet werden. Andererseits 
werden diese Reflexe von höheren Nervenzentren des Stammhirns, Kleinhirns und 
Großhirns überlagert und können von dorther gehemmt oder gefördert werden.  § 56  Psychischer Konflikt und qualifizierte 
Interessenartikulation 1. Hemmung Das Problem der qualifizierten individuellen 
Interessenartikulation kann am Mechanismus der unwillkürlichen Hemmung 
veranschaulicht werden. Folgendes Alltagsbeispiel mag dies verdeutlichen.  Im Falle der Verführung hat sich das Individuum 
vorgenommen, etwas Bestimmtes nicht zu tun, aber in der konkreten Situation 
erliegt es dann übermächtigen Reizen. Jemand hat sich z. B. fest 
vorgenommen, sich nicht mehr zu betrinken. Er hat, wie man so sagt, den "ehrlichen Willen", vom Alkohol zu lassen. Nun wird er überraschend von Freunden 
eingeladen und dort ist eine angeregte, gelockerte Stimmung. Er hält an seinem 
Entschluss fest, aber um ihn herum sind alle Leute ausgelassen und trinken 
Alkohol. Er sieht die vollen Gläser vor sich auf dem Tisch stehen und bekommt 
ein wachsendes Verlangen nach einem "guten Schluck". Als ihm dann schließlich 
ein Glas angeboten wird, kann er nicht mehr länger widerstehen und trinkt 
es.{-283-} § 57 Der qualifizierte Wille des Individuums als Kriterium 
des individuellen Interesses § 58 Sanktionsverbot, Manipulationsverbot und 
qualifizierte 
Interessenartikulation in individualistischen Entscheidungs-Systemen § 59 Unterscheidung zwischen 
Korrektur und Änderung des 
Willens § 60  Unaufrichtigkeit bei der individuellen 
Interessenäußerung Die Schwierigkeit einer Überprüfung von 
Interessenäußerungen auf ihre Aufrichtigkeit liegt darin, dass Interessen, 
Bedürfnisse, Präferenzen usw. nicht unmittelbar der Beobachtung zugänglich sind, sondern direkt nur durch Introspektion, 
also die Innenschau des betreffenden Individuums selber erfassbar sind. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, um Individuen die Unaufrichtigkeit von 
Interessen- oder Wahrnehmungsäußerungen nachzuweisen. § 61 Prinzipielles 
 
Fehlen eines qualifizierten Willens Individualistische Entscheidungs-Systeme sind nicht 
anwendbar, wenn Individuen prinzipiell die Fähigkeit zu qualifizierter 
Interessenäußerung fehlt. Dieser Fall liegt z. B. vor bei Geisteskranken, deren 
Persönlichkeit in verschiedene Bereiche zerfallen ist, oder bei 
Kleinkindern, bei denen die Fähigkeit zu einem 
einheitlichen Willen noch nicht ausgebildet ist. Wollte man in diesen Fällen die 
Feststellung des individuellen Interesses an die Äußerungen der betreffenden 
Individuen selber binden, so müsste man erst den Heilungs- bzw. Reifungsprozess 
abwarten, um überhaupt einen qualifizierten Willen vorzufinden. Im Vorangegangenen wurde herausgearbeitet, unter welchen 
Bedingungen ein Individuum nicht in der Lage ist, sein wirkliches Interesse zu 
artikulieren, und Entscheidungen trifft, die es letztlich selber nicht wollen 
kann. Damit stellt sich das Problem, wie das individuelle Interesse in einem 
solchen Fall bestimmt werden soll. Welche Möglichkeiten der stellvertretenden Rekonstruktion des individuellen Interesses bestehen, wenn keine 
qualifizierten Willensäußerungen des betreffenden Individuums verfügbar sind? 
 Schwieriger wird eine Interessenrekonstruktion dann, wenn 
zwar Informationen über die äußeren Lebensumstände des Individuums vorliegen, 
die allgemeine Interessenstruktur jedoch nicht bekannt ist. Dann müssen {-299-} allgemeine Annahmen über menschliche Bedürfnisse bzw. 
über die Bedürfnisse bestimmter Gruppen gemacht werden, von denen aus sich dann 
unter Einbeziehung der äußeren Lebensumstände rekonstruieren lässt, wie die 
Interessen dieses Individuums in Bezug auf die zur Entscheidung anstehenden 
Alternativen beschaffen sind.  Über relativ grobe Annahmen hinsichtlich der Reichweite 
menschlicher Interessen hinaus existieren jedoch noch genauere Kenntnisse der 
menschlichen Bedürfnisstruktur, die vor allem aufgrund medizinischer und 
psychologischer Forschungen ermittelt wurden. Viele Bedürfnisse sind etwa 
bestimmten Gruppen von Individuen gemeinsam oder treffen gar auf alle Menschen 
zu, sodass man sie berücksichtigen kann, ohne dass sie von den betreffenden 
Individuen artikuliert werden müssen. So sagt schon die Alltagserfahrung, dass 
Menschen: 4. Das Problem der Gewichtung verschiedener Bedürfnisse Allgemeine Aussagen über die menschliche Bedürfnisstruktur 
sind meist nicht genügend präzise, um aus ihnen konkrete Entscheidungsprobleme 
und ihre Lösung ableiten zu können. Aussagen wie: "Menschen haben das Bedürfnis, 
Schmerzen zu vermeiden"   enthalten unausgesprochen immer eine 
Ceteris-Paribus-Klausel und müssten vollständig lauten: "Menschen haben das 
Bedürfnis, Schmerzen zu vermeiden, sofern alle übrigen Bedingungen gleich sind."   
Für den Fall, dass sich die zur Entscheidung anstehenden Alternativen nur im 
Aspekt der Schmerzhaftigkeit unterscheiden, reicht eine solche Feststellung aus, 
um diejenige Alternative zu bestimmen, die im Interesse des betreffenden 
Individuums ist, nämlich die weniger schmerzhafte. Auch ohne einen intraindividuellen Vergleich von 
Bedürfnisintensitäten kann man zur Bestimmung des individuellen Interesses 
gelangen, wenn man annimmt, dass die Bedürfnisse hierarchisch strukturiert sind 
und in ihrer Dringlichkeit einer lexikographischen Ordnung folgen. [[29] S. GAFGEN 1968, S.153ff. u. GEORGESCU-ROEGEN 1954.] 
 Im Rahmen einer normativen Methodologie kommt der 
Bedürfnistheorie die Aufgabe zu, bei Fehlen qualifizierter Interessenäußerungen 
der Individuen die Interessen theoretisch zu rekonstruieren. Damit stellt sich die Frage 
nach dem wissenschaftstheoretischen Status {-307-} einer normativ anwendbaren Bedürfnistheorie, d. h. es ist zu 
fragen, welcher Art die von der Bedürfnistheorie gemachten Aussagen sind, welche 
Methoden ihrer Überprüfung angebracht sind und was genau der "Sinn"   von 
Feststellungen über menschliche Bedürfnisse ist. 11. Kapitel Verfahren zur Vereinfachung der Interessenermittlung   § 63 Die 
 
Notwendigkeit vereinfachter Interessenermittlung Aus den Ausführungen zum Solidaritätsprinzip hat sich 
ergeben, dass zur Bestimmung allgemeingültiger Normen die Interessen jedes 
Individuums solidarisch berücksichtigt werden müssen. Dies setzt voraus, dass zu 
jeder Entscheidung die Interessen aller Individuen in Bezug auf die anstehenden 
Alternativen ermittelt und zu einem Gesamtinteresse zusammengefasst werden 
müssen. Der hierzu nötige Aufwand ist - vor allem bei 
größeren Kollektiven - natürlich erheblich und bedeutet eine 
ständige Minderung des eigentlich erreichbaren Gesamtnutzens. § 64 Die Abgrenzung 
 
dezentralisierter Entscheidungsbereiche Eine wichtige und häufig verwendete Methode zur 
Vereinfachung von kollektiven Entscheidungsprozessen ist die 
Abgrenzung 
dezentralisierter Verfügungsbereiche, für die nicht mehr die Gesamtheit aller 
Individuen zuständig ist, sondern nur ein Teil der Individuen. Für 
Entscheidungen, die sich im Rahmen des festgelegten Verfügungsbereichs halten, 
brauchen dann nur die Interessen der Mitglieder des jeweils zuständigen 
Teilkollektivs ermittelt werden. § 65 Die Beschränkung auf den 
 
Kreis der Betroffenen Das Problem bei der Abgrenzung dezentraler 
Verfügungsbereiche liegt dabei in der Zuordnung bestimmter {-317-} Individuen zu bestimmten Entscheidungsbereichen. Wer 
ist von einer Entscheidung betroffen und wer nicht? Wessen Interessen müssen 
erfasst werden und wessen nicht? § 66 Die Einschaltung von  
Beratern Ein weiteres Mittel zur Senkung der Informationskosten der 
Entscheidung ist die Einschaltung von Beratern, die Fachleute auf dem 
jeweiligen Entscheidungsbereich sind. Die Individuen brauchen dann nicht mehr 
alle zur Bestimmung ihrer individuellen Interessen notwendigen Informationen 
selber zu beschaffen, denn mehrere Individuen können sich durch denselben 
Experten beraten lassen, vor allem wenn ihre Situation ähnlich ist und sie von 
denselben Konsequenzen einer möglichen Entscheidung betroffen sind. § 67 Die Ernennung von Interessenvertretern Eine noch weitergehende Entlastung der Individuen von den 
Entscheidungskosten kann erreicht werden, wenn sich das Individuum nicht nur 
durch einen Fachmann beraten lässt, sondern wenn es die gesamte 
Entscheidung an 
einen Interessenvertreter oder Repräsentanten delegiert. In 
diesem Fall braucht das Individuum selber nicht mehr an den einzelnen 
Entscheidungen teilzunehmen, sondern es lässt seine Interessen durch seinen 
Vertreter wahrnehmen. § 68 Die Aufstellung  
genereller Normen Eine wesentliche Vereinfachung des gesamten kollektiven 
Entscheidungsprozesses kann dadurch erreicht werden, dass anstelle einer 
Vielzahl ständiger Einzelentscheidungen generelle Normen gesetzt 
werden, die das Handeln der Individuen für eine ganze Klasse ähnlicher 
Entscheidungsprobleme festlegen. Anstatt durch eine singuläre Norm 
vorzuschreiben, wie ein bestimmtes Individuum in einer bestimmten Situation zu 
handeln hat, kann durch die Setzung einer einzigen generellen Norm das Handeln 
einer Vielzahl von Individuen in einer Vielzahl von Situationen geregelt werden, 
wodurch der Entscheidungsaufwand erheblich {-323-} gesenkt wird.  (Ende von Teil I) 
zurück zu "Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - 
Gesamtinteresse" *** 
Siehe auch 
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt: zum Anfang 
Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, 
auch Freunde, Kollegen und Bekannte auf die "Ethik-Werkstatt"   hinzuweisen.   
Gültigkeit besitzen solche Normen, deren Existenz gegenüber jedermann 
argumentativ gerechtfertigt werden kann. Kann diese Rechtfertigung nun dadurch 
erreicht werden, dass man an das Eigeninteresse der Individuen appelliert? Unter 
dem "Eigeninteresse"   soll dabei die Gesamtheit der Willensregungen bzw. 
Präferenzen verstanden werden, denen gemäß sich ein Individuum entscheiden 
würde, wenn es keinerlei Sanktionen durch andere Individuen befürchten müsste. 
Zu dem so definierten Eigeninteresse können dann auch 'altruistische' Motive 
gehören, sofern sie das Individuum "verinnerlicht"   hat. [[1] Zur Problematik 
des Begriffs "Eigeninteresse"   s. a. RUSSELL 1910.]
Um die Gültigkeit einer Norm nachzuweisen, müsste dann 
gezeigt werden, dass diese Norm in jedermanns Eigeninteresse ist, d. h. Dass 
jedes aufgeklärte Individuum sie als die für sich selber beste Regelung wählen 
würde. Für den Fall, dass dies möglich ist, kann man davon sprechen, dass diese 
Norm im "gemeinsamen Interesse"   der Individuen ist. Eine Norm, die im 
gemeinsamen Interesse ist, besitzt natürlich Gültigkeit in dem Sinne, dass ihre 
Existenz problemlos gegenüber jedermann gerechtfertigt werden kann.{-105-}
Die Schwierigkeit dabei ist jedoch, dass ein solches "gemeinsames Interesse"   so gut wie gar nicht vorkommt, es sei denn, die 
Individuen hätten bereits jeweils die Eigeninteressen der andern auch zu ihren 
eigenen gemacht. Es lässt sich normalerweise zu jeder beliebigen Norm eine 
andere Norm denken, die irgendein Individuum von seinem Eigeninteresse her 
besser stellt. Auch bei den gewöhnlich als "gerecht"   angesehenen Normen lassen 
sich leicht Veränderungen finden, die den Wünschen irgendeines Individuums mehr 
entsprechen, und sei es letztlich die diktatorische Norm: "Jeder soll das tun, 
was ich befehle!", die eine maximale Befriedigung des Eigeninteresses des 
Diktators implizieren würde, da alles nach seinen Wünschen verläuft.
Entscheidend ist nun, was man aus diesem Sachverhalt für 
Konsequenzen zieht. Ist mit der Feststellung, dass sich praktisch keine Norm 
denken lässt, die im Eigeninteresse von jedermann ist, die Suche nach gültigen 
Normen als aussichtslos erwiesen und deshalb aufzugeben? Diese Konsequenz wurde 
von vielen positivistisch-subjektivistisch orientierten Theoretikern gezogen. 
Genau genommen ist damit jedoch nur erwiesen, dass allein durch den Appell an 
das Eigeninteresse der Individuen kein Konsens über die Existenz von Normen 
erzielt werden kann. 
Wer an diesem Punkt die vom Intersubjektivitätsgebot 
gebotene Suche nach einem normativen Konsens abbricht, kann dies natürlich 
tun, aber er muss sich über die Konsequenz im Klaren sein. Da er nicht mehr nach 
einem argumentativem Konsens über Normen strebt, bedeutet das, dass er die 
Frage, welche Normen existieren sollen, allein {-106-} durch Gewalt entscheiden 
lassen will. 
Jeder der die vom Intersubjektivitätsgebot gebotene Suche 
nach gültigen Normen aufgibt und trotzdem irgendwelche Normen als 
allgemeinverbindlich vertritt, ist der Vertreter einer tatsächlichen oder 
potentiellen Gewaltordnung. Dies ist die logische Folge seiner methodologischen 
Position. Wer dies nicht will, muss deshalb die Suche nach Konsensfähigen 
Normen fortsetzen.
1. Die These vom Eigeninteresse aller an einer 
normativen Regelung
Die eine Schwierigkeit bei dieser Argumentation liegt in 
der Annahme, dass niemand stark genug ist, um seine Interessen auch ohne Schutz 
durch ein sanktioniertes Normensystem zu verfolgen. Denn je mächtiger und 
unangreifbarer jemand ist, desto geringer wird sein Eigeninteresse an einer 
normativen Regelung. So hat z. B. ein hochgerüsteter Raubritter oder Freibeuter 
des Mittelalters, der durch Überfall von Warentransporten reiche Beute macht, 
kaum ein Eigeninteresse an der Aufstellung und Sanktionierung irgendwelcher 
auch für ihn geltender allgemeiner Gesetze.
Selbst wenn man dies einmal annehmen würde, so wäre damit 
nur festgestellt, dass für jedes Individuum irgendwelche Gesetze besser sind als gar keine 
Gesetze. Damit kann aber kein bestimmtes Normensystem als im Eigeninteresse 
jedes Individuums liegend {-108-} gerechtfertigt werden. Es entspricht höchstens 
relativ, nämlich im Vergleich zum normlosen Zustand (dem HOBBESschen "Kriegszustand"  ) dem Eigeninteresse jedes Individuums.
So mag das System der Leibeigenschaft für einen Bauern 
vielleicht noch relativ besser sein als ein normloser Zustand mit plündernd und 
mordend umherziehenden Räuberbanden, aber man kann deshalb nicht sagen, dass die 
Einführung der Leibeigenschaft immer dem Eigeninteresse der Bauern entspricht. 
[[5] Ähnlich auch RAWLS 1967, S. 324f.]
Der Streit um normative Fragen geht ja praktisch nie darum, 
ob überhaupt irgendeine soziale Ordnung existieren soll, sondern welches 
Normensystem existieren soll. Es ist ein Streit zwischen alternativen 
Konzeptionen. Insofern geht es um die Konsensfähigkeit bestimmter Normen. 
Dieser Konsens kann jedoch über das Eigeninteresse an der Vermeidung eines 
völlig normlosen Zustands nicht hergestellt werden. [[6] Dieser Zusammenhang 
wird rhetorisch oft verwischt, indem man die Gegner einer bestimmten sozialen 
Ordnung als Gegner jeder Art von Ordnung hinstellt. Mit dem Hinweis auf die 
Schrecken eines normlosen Zustandes kann - mit der obigen Einschränkung - 
höchstens irgendeine Ordnung, aber nicht  jede Ordnung gerechtfertigt werden.]
2.  Vertragstheorie und Übereinstimmung der Eigeninteressen
Inwiefern können nun durch Vertrag gültige Normen 
begründet werden? [[7] Zur Klarstellung: Es geht im Folgenden also allein um 
die methodologische Grundfrage, ob man mittels Vertrag zu Normen gelangen kann, 
deren Existenz gegenüber jedermann gerechtfertigt werden kann. Selbst wenn dies 
verneint wird, schließt das natürlich nicht aus, dass Verträge in einem 
abgeleiteten Sinne ein brauchbares Verfahren zur Bildung von Normen darstellen 
können. S. dazu unten Kap. 13ff.]
Die Existenz gültiger Normen muss gegenüber jedermann 
argumentativ gerechtfertigt werden können. Wenn dies gegenüber bestimmten 
Individuen nicht möglich ist, so stellt eine solche Norm ein Gewaltverhältnis 
gegenüber solchen Individuen dar. Wenn der Vertrag ein solches Verfahren zur 
Begründung universal gültiger Normen sein soll, so muss ein solcher Vertrag 
gewissermaßen von allen Individuen "unterschrieben"   werden können, es müsste ein 
Vertrag aller mit allen sein. Als ein Vertrag, den jedes Gesellschaftsmitglied 
mit jedem anderen eingeht, wäre es ein so genannter "Gesellschaftsvertrag", ein 
Vertrag, der eine gesellschaftliche Ordnung "konstituiert", ihr eine "Verfassung"   gibt. 
Diese Denkfigur des Gesellschaftsvertrages hat in der 
Geschichte der normativen Methodologie eine große Rolle gespielt - und spielt 
sie noch heute.[[8] Zur Geschichte der Vertragstheorie s. MÜCKENBERGER 1974.]{-110-}
Selbst wenn ein solcher Gesellschaftsvertrag nun zu einem 
bestimmten Zeitpunkt möglich wäre, so würde sich trotzdem die Frage stellen, 
wieso Individuen späterer Generationen durch einen solchen Vertrag gebunden sein 
sollen, denn sie gehörten ja gar nicht zu den vertragschließenden Parteien. 
Außerdem wird die Einigung über einen solchen Vertrag zwischen allen Individuen 
einer Gesellschaft aus praktischen Gründen nicht möglich sein - ausgenommen 
vielleicht bei der Neugründung von Miniaturgesellschaften. [[9] Auch "verfassunggebende Versammlungen"   schließen natürlich keinen 
Gesellschaftsvertrag. Sie werden bereits nach bestimmten Normen gewählt, geben 
sich nach bestimmten Regeln Geschäftsordnungen und verabschieden den 
Verfassungsentwurf nicht mit Einstimmigkeit.].
Damit wird jedoch der Anspruch auf die universale 
Gültigkeit irgendeines Gesellschaftsvertrages hinfällig. Auch Versuche, eine 
indirekte Zustimmung der Individuen zur bestehenden Ordnung zu konstruieren, 
können dies Dilemma nicht lösen. Denn die Tatsache, dass ein Individuum z. B. 
nicht auswandert oder die Vorteile der bestehenden Ordnung in Anspruch nimmt, 
als eine Zustimmung zu dieser Ordnung zu interpretieren, stellt eine 
ungerechtfertigte Ausdehnung des Begriffs "Zustimmung"   bzw. "Konsens"   dar. 
[[10] S. hierzu die Kritik von PLAMENATZ 1968, S.6ff.]
Aus diesem Grunde wurde der Gesellschaftsvertrag meist 
nicht - oder nur metaphorisch - als ein historisch stattgefundenes Ereignis 
interpretiert, sondern als eine hypothetische Konstruktion, eine Denkfigur, mit 
deren Hilfe die Gültigkeit bzw. Die Konsensfähigkeit sozialer Ordnungen und 
ihre Verbindlichkeit für das Handeln der Individuen kritisch {-111-} erörtern 
werden sollte. Damit wird durch die Idee eines Gesellschaftsvertrages die Frage 
einer Begründung gültiger und verbindlicher Normen nur gestellt, aber nicht 
beantwortet. Denn wenn nicht auf die Zustimmung der Individuen zu einem 
bestimmten Gesellschaftsvertrag verwiesen werden kann, bleibt die Frage völlig 
offen, welche Normen den Inhalt eines Gesellschaftsvertrages darstellen können. 
Die Fragen normativer Wissenschaft fangen ja dort an, wo man wissen will, welche 
Normen allgemein Konsensfähig sind.
3. Vertraglicher Konsens, argumentativer Konsens und Sanktionsverbot
Dieser Punkt wird deutlicher, wenn man sich einmal 
überlegt, wieso es überhaupt zum Abschluss von Verträgen kommen kann, wo sich 
doch zu jedem Vertragsinhalt ein anderer Inhalt denken lässt, der mindesten 
{-112-} dem Eigeninteresse eines der vertragschließenden Individuen besser 
entsprechen würde. Damit ist dieser Vertrag streng genommen nicht im 
Eigeninteresse dieses Individuums - nennen wir es A. Wenn A trotzdem zugestimmt 
hat, so bedeutet dies, dass ein besserer Abschluss nicht erreichbar war, denn 
sonst hätte es im eigenen Interesse weiterverhandelt. Die Antwort kann nur 
lauten, dass A's Zustimmung zum Vertrag nur sein relatives Eigeninteresse im 
Verhältnis zu anderen Alternativen zum Ausdruck brachte.
Der Vertrag kann für A einmal besser gewesen sein im 
Verhältnis zu einer Reihe anderer möglicher Vertragsabschlüsse, die mit noch 
größeren Abstrichen an seinem Eigeninteresse verbunden gewesen wären. Aber dass 
ein Vertrag relativ besser ist als andere mögliche Verträge, kann noch nicht 
die Gültigkeit des abgeschlossenen Vertrages begründen. Weshalb hat A nicht 
überhaupt den Abschluss eines Vertrages abgelehnt, der nicht für das eigene 
Interesse der beste ist?
Die Alternative zum Abschluss irgendeines Vertrages wäre 
der Nicht-Abschluss und die Beibehaltung des Status quo. Insofern stellen die 
Bedingungen des Status quo den Bezugspunkt für die Zustimmung oder Ablehnung 
eines Vertrages durch ein Individuum dar. Wenn man die Qualität der Zustimmung 
eines Individuums zu einem Vertrag untersuchen will, so muss man folglich die 
Beschaffenheit des Status quo untersuchen. [[12] Der Status quo muss dabei 
kein unveränderlicher statischer Zustand sein. Er umfasst immer auch alle 
Entwicklungstendenzen und vorhersehbaren Ereignisse in der Zukunft, die ohne 
Vertragsabschluss eintreten würden. S.dazu §§ 72 u. 89.]{-113-}
Für das Problem der Gültigkeit von Normen ist es von 
Bedeutung, dass der Status quo nicht unabhängig von den Handlungen der 
potentiellen Vertragsparteien ist. Je nachdem, wie eine Partei handelt, kann 
sich der Status quo für die andere Partei verbessern oder verschlechtern. 
Dadurch ist es möglich, dass ein Mächtiger einem Schwächeren mit dem Abbruch der 
Vertragsverhandlungen drohen kann, wenn dieser nicht zu bestimmten 
Zugeständnissen bereit ist. 
Die Drohung mit dem Abbruch der Verhandlungen ist eine 
Drohung mit dem Status quo. Der Stärkere kann den Status quo dann so gestalten, 
dass es im Eigeninteresse des Schwächeren liegt, seine Zustimmung zu dem Vertrag 
zu geben. Der Vertrag bildet dann nicht ein Gleichgewicht der wechselseitigen 
Vorteile sondern ein Gleichgewicht der Macht.
Ein extremes aber anschauliches Beispiel dafür, wie der 
vertragliche Konsens durch das Macht- und Abhängigkeitsverhältnis im Status 
quo beeinflusst wird, bilden Verträge zur Beendigung von Kriegen. Der Status quo 
ist hier die Fortsetzung des Krieges. Je stärker eine Partei im Status quo ist, 
desto mehr verändern sich die ausgehandelten Bedingungen des Waffenstillstands 
zu ihren Gunsten. Wenn sich die Position einer Partei im Status quo langfristig 
zu verschlechtern droht, "weil die Zeit gegen sie arbeitet", so wird sie deshalb 
versuchen, so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstandsvertrag zu kommen.
Dies kann so aussehen, dass versucht wird, die andere Seite "an den Verhandlungstisch zu bomben". Selbst im Falle der bedingungslosen 
Kapitulation einer Seite wird dies noch in einem zweiseitigen Vertrag 
festgehalten, dem auch die besiegte Seite zustimmt. Sie drückt mit dieser 
Zustimmung ihr relatives {-114} Eigeninteresse an einer Beendigung der 
bewaffneten Auseinandersetzungen aus, weil bei einer Fortsetzung des 
aussichtslosen Krieges weitere "sinnlose"   Verluste der eigenen Seite zu erwarten 
wären.[[13] Polemisch werden solche Verträge dann als 'Diktat' bezeichnet.]
Eine solche Form vertraglicher Zustimmung kann man jedoch 
nicht als oberstes Kriterium für die Setzung gültiger Normen ansehen. Selbst 
wenn die eigentliche Zustimmung ohne unmittelbare Sanktionen erfolgt ist, wenn 
also niemand direkt zur Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde gezwungen 
wurde, so stellt doch der Status quo selber eine Sanktion dar, eine Drohung, die 
für die Vertragsparteien unterschiedlich stark ist. Damit erfüllt der 
vertragliche Konsens nicht die Bedingung der Sanktionsfreiheit, die für den 
argumentativen Konsens Bedingung ist.[[14] Vgl. oben § 16.]  Ein 
vertraglicher Konsens kann folglich nicht ausreichen, um die Gültigkeit von 
Normen zu begründen, selbst wenn seine Universalität gegeben wäre.[[15] Zum 
Vertrag als nachgeordnetes Verfahren der Normenfindung s. Kap. 13.]
Es könnte eingewandt werden, dass der Status quo ja nicht 
ein normloser Kriegszustand sein muss, sondern auch in der Weiterexistenz 
früherer Verträge bestehen kann. Durch solche existierenden Normen würde dann 
dem Mächtigeren teilweise die Möglichkeit genommen, seine Überlegenheit 
auszuspielen. Dies mag richtig sein, doch damit verlagert sich das Problem der 
Gültigkeit nur auf diese bereits vorausgesetzten Normen. Es sollte hier ja nicht 
bestritten werden, dass der Vertrag {-115-} unter bestimmten, bereits normierten 
Bedingungen ein sinnvolles Verfahren der Normsetzung sein kann. Hier sollte nur 
nachgewiesen werden, dass der Vertrag keine oberste Legimitation von Normen 
leisten kann.[[16] Vgl. zur Vertragstheorie auch ILTING 1972 sowie die Kritik 
bei HABERMAS 1973, S. 141ff.]
1. KANTs 'Kategorischer Imperativ'
Dieser Terminus wird hier nicht verwendet, weil der Terminus "Universalität"   für 
den Konsensaspekt von Normen reserviert bleiben soll, der besagt, dass gültige 
Normen gegenüber jedermann gerechtfertigt werden können müssen. "Verallgemeinerbarkeit"   bezieht sich dagegen auf die allgemeine Geltung von 
Normen unabhängig von der Person. Auch SINGER 1966 spricht von "generalization"   
und nicht von "universalization".]
Zu solchen Versuchen ist etwa KANTs "Kategorischer 
Imperativ"   zu zählen oder die so genannte "Goldene Regel"  : "Was du nicht willst, 
dass man dir tu, das füg' auch keinem andern zu!"   {-116-} die man auch als "Reziprozitätsgebot"   
bezeichnen kann. Auch eine normative Argumentation nach dem Muster: "Was wäre, 
wenn jeder so handeln würde!"   gehört in diesen Zusammenhang.[[18] S. dazu 
kritisch KUTSCHERA 1973, S. 70f.]
Da KANT den "Kategorischen Imperativ"   in verschiedenen 
logisch nicht gleichbedeutenden Formulierungen vorträgt, geht es hier nur um 
eine mögliche Interpretation. Vorweg müssen jedoch noch einige Klärungen 
vorgenommen werden, um den Zusammenhang zwischen dem Kategorischen Imperativ und 
dem in dieser Arbeit verwendeten Kriterium der Gültigkeit von Normen deutlich zu 
machen.
Zum einen gibt der Kategorische Imperativ unmittelbar 
Anweisungen für das Handeln des Individuums. Demgegenüber impliziert die 
Feststellung der Gültigkeit einer Norm noch nicht ihre Verbindlichkeit für das 
Handeln, da als zusätzliche Bedingung die effektive Existenz der Norm gegeben 
sein muss.[[19] Vgl. oben § 6/2.] KANT macht diese Unterscheidung 
zwischen der Gültigkeit und der Verbindlichkeit einer Norm nicht. Er scheint 
jedoch davon auszugehen, dass die Maximen, die dem Kategorischen Imperativ 
entsprechen, "für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind."  [[20] 
KANT 1967, S. 57.] Das bedeutet, dass der Kategorische Imperativ auch als 
ein Kriterium der Gültigkeit von Normen anzusehen ist. {-117-} 
Außerdem scheint KANT beim Problem der Gültigkeit von 
Normen von ihrer Durchsetzbarkeit abzusehen. Zur Prüfung einer Maxime soll sich 
das Individuum fragen, ob es wollen kann, dass tatsächlich jeder gemäß dieser 
Maxime handelt. Dies wird besonders an folgender Formulierung des Kategorischen 
Imperativs deutlich: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen 
Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte!"   [[21] KANT 1967, S. 68] 
Diese Frage kann jedoch für die Gültigkeit einer Norm, die sich auf die 
Einführung bzw. Abschaffung einer Norm bezieht, insofern kein hinreichendes 
Kriterium sein, als dabei die vollständige Befolgung der Norm vorausgesetzt 
wird. Damit wird die Problematik des Kontroll- und Sanktionsaufwands und der 
weiterhin auftretenden Normübertretungen außer acht gelassen. Aus diesem Grunde 
wurde das Problem der Gültigkeit in dieser Arbeit so definiert, dass jeder die 
Existenz gültiger Normen wollen können muss. Dies ist etwas anderes, als wenn 
jeder die ausnahmslose Befolgung einer Norm wollen können muss.
Nach diesen Vorklärungen kann nun der Kategorische 
Imperativ in seiner Eignung als Gültigkeitskriterium diskutiert werden. In der 
Formulierung der 'Kritik der praktischen Vernunft' lautet er: {-118-} "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit 
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte!"   [[22] 
KANT 1966, S. 5.] Handlungsmaximen bzw. Normen, die nicht in dieser Weise 
verallgemeinerbar sind, wären danach nicht zulässig und ungültig.
Die Problematik eines solchen "Grundgesetzes der reinen 
praktischen Vernunft"   liegt nun darin, dass die Maximen des eigenen Handelns, 
die jedes einzelne Individuum als allgemeines Gesetz wollen kann, nicht 
notwendig identisch oder miteinander vereinbar sein müssen. So kann ein 
Sklavenhalter nach der Maxime handeln: "Ein Sklave soll den Befehlen seines 
Herrn gehorchen!"   und zugleich wollen, dass diese Maxime allgemeines Gesetz 
werde. Allerdings kann deshalb eine solche Norm noch nicht von jedem gewollt 
werden. Ein Gegner der Sklaverei, etwa der Sklave selber, wird eine solche Norm 
nicht wollen können. 
Insofern gibt der Kategorische Imperativ kein hinreichendes 
Kriterium für die Bestimmung gültiger Normen. Der Grund liegt in seinem Bezug 
auf ein einzelnes Individuum: es wird nur nach Maximen gesucht, deren Erhebung 
zum allgemeinen Gesetz ein Einzelner wollen kann. Stattdessen ist das Problem 
der Gültigkeit von Normen wesentlich ein Problem des intersubjektiven Konsens 
aller Individuen. Der Kategorische Imperativ müsste deshalb analog zum 
Intersubjektivitätsgebot lauten: "Handle so, dass die Maxime deines Willens 
jederzeit zugleich Maxime des Willens jedes anderen Individuums werden könnte!"   
{-119-}
Entscheidend dafür, ob eine subjektive Maxime zu einer 
gültigen Norm werden kann, ist nicht, ob das einzelne Subjekt widerspruchsfrei 
wollen kann, dass sich jedermann nach dieser Maxime verhält, sondern ob diese 
Maxime von jedermann gewollt werden kann. Wenn auf die geforderte "Allgemeinheit"   einer Norm Bezug genommen wird, muss also der Aspekt der 
generellen Anwendbarkeit von dem Aspekt der universalen Anerkennbarkeit 
sorgfältig unterschieden werden.
2. Fehlende Anwendbarkeit sich selbst aufhebender Normen
Eine solche Norm wäre selbstaufhebend, weil sie einerseits 
die Institution des Vertrages als eine Form der wechselseitigen 
Selbstverpflichtung von Individuen voraussetzt, andererseits aber die Grundlagen 
für die Anwendung dieser Institution untergraben würde. Eine Vereinbarung, die 
nicht eingehalten zu werden braucht, ist kein Vertrag mehr, sondern höchstens 
eine unverbindliche wechselseitige Absichtserklärung.
Insofern man einen Vertrag schließt, um ein anderes 
Individuum zu bestimmten {-120-} Gegenleistungen zu bewegen, so gelingt dies 
nur, wenn der andere an die Einhaltung des Vertrages durch einen selbst glaubt. 
Entfällt dies Vertrauen jedoch, weil der Vertrag keine Verbindlichkeit besitzt, 
so entfällt für den andern jede motivierende Kraft zur Erbringung der von mir 
gewünschten Leistung. Er wird dem von mir gegebenen Versprechen nicht glauben, 
und damit kommt überhaupt kein Vertrag zustande. Eine Norm, die die 
Nichteinhaltung von Verträgen erlaubt, würde also die Institution des Vertrages 
selber aufheben, sie wäre selbstzerstörerisch. [[23] Es kann jedoch 
unzulässige Verträge geben, die dann von vornherein nichtig sind und nicht 
eingehalten zu werden brauchen.]
In diesem Fall reicht also die Frage, ob eine bestimmte 
Norm allgemein anwendbar wäre, bereits hin, um die Norm als nicht anwendbar und 
damit zugleich als nicht anerkennbar auszuscheiden. Allerdings sind nicht alle 
ungültigen Normen in dieser Weise selbstaufhebend. So wirft die Norm "Alle Juden 
sind auszurotten!"   keinerlei Probleme einer allgemeinen Anwendbarkeit auf, ist 
jedoch sicherlich nicht universal anerkennbar.
Die Wirksamkeit des KANTschen Kategorischen Imperativs 
zeigt sich vor allem an solchen selbstaufhebenden Normen, wie das von KANT 
selbst genannte Beispiel zeigt: "... Die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass 
jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, 
mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den {-123-} 
Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben 
würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als 
eitles Vorgehen lachen würde."   [[24] KANT 1967, S.70.]
Ähnlich selbstaufhebend wären Normen wie: "Man braucht 
Gesetze nicht zu befolgen", "Man braucht sich an Mehrheitsbeschlüsse nicht zu 
halten", "Man braucht bei eidlichen Aussagen nicht die Wahrheit zu sagen", "Man 
braucht Schulden nicht zurückzahlen", "Man braucht geliehene Sachen nicht 
zurückzugeben"   usw.. In jedem Fall müssen die normativen Institutionen, auf die 
die Normen Bezug nehmen, wie Gesetze, Mehrheitsbeschlüsse, Eide, Schuldverträge 
oder Leihverträge ein bestimmtes Verhalten der Individuen als verbindlich 
voraussetzen, um den beteiligten Individuen überhaupt ein Motiv für ihr 
Zustandekommen zu geben. Normen, die diese Verbindlichkeit nun aufheben, heben 
damit auch die ihnen zugrunde liegenden Institutionen selber auf und damit die 
Bedingungen ihrer eigenen Anwendbarkeit. 
Eine nicht anwendbare Norm kann jedoch schon das einzelne 
Individuum nicht wollen, so dass es sich erübrigt, überhaupt noch die Frage nach 
der allgemeinen Konsensfähigkeit dieser Normen zu stellen.[[25] Übrigens 
sind solche sich selbst aufhebenden Normen nicht direkt logisch widersprüchlich. 
Zur Frage, wie KANTS Formel eines "sich selbst widersprechenden Gesetzes"   zu 
verstehen ist, s. KÖRNER 1967, S.114ff. Nähere Ausführungen zur Problematik sich 
selbst aufhebender Normen macht BAIER 195f., S. 292ff.]
Wenn man sie über Verbotsnormen hinaus erweitert, so könnte 
man sie folgendermaßen als Gebot formulieren: "Befolge die Normen, deren Befolgung du auch 
von andern verlangst!"  
Für die Goldene Regel gelten jedoch ähnliche 
Schwierigkeiten wie für den Kategorischen Imperativ. Ein Sklavenhalter handelt 
ohne weiteres gemäß einer Norm, deren Befolgung er auch von andern verlangt, 
wenn er beliebig über seinen Sklaven verfügt, denn die Norm lautet: "Jeder 
Sklave soll den Befehlen seines Herrn gehorchen!"   Dass eine Norm allgemein, d. h. 
für alle Personen in gleicher Weise gilt, impliziert noch nicht ihre Gültigkeit.
In dem Augenblick, wo die Norm selber eine Differenzierung 
verschiedener sozialer Positionen - wie z. B. "Herr"   und "Sklave"   - enthält, ist 
jede Art von Ungleichheit der Individuen mit der Verallgemeinerbarkeit der Norm 
vereinbar. 
Auch die Norm: "Der Sklave soll den Befehlen seines Herrn 
gehorchen!"   ist in diesem Sinne "gleiches Recht für alle". Das Verhalten des 
Herrn wird durch die gleiche Norm geregelt wie das Verhalten des Sklaven. Mit 
der Goldenen Regel können verschiedene miteinander unvereinbare Normen 
übereinstimmen, so dass sie für das Problem, welche Norm existieren soll, kein 
hinreichendes Kriterium darstellen kann. [[26] Außerdem nimmt die Goldene 
Regel auf die möglicherweise unterschiedlichen Bedürfnisstrukturen der 
Individuen keine Rücksicht. Zur Kritik der 'Goldenen Regel' s. a. KANT 1967, S. 
80f.] {-123-}
Das Solidaritätsprinzip
Das Besondere an einem rein normativen Dissens, der also 
nicht auf empirischen Irrtümern, auf dem Missverstehen von Bedeutungen oder auf 
logischen Fehlern beruht, besteht darin, dass es sich um einen Konflikt zwischen 
den Willen bzw. Interessen der Individuen handelt, die als solche miteinander 
unvereinbar sind: es kann nicht zugleich der Wille aller Individuen verwirklicht 
werden. 
Um nun zu einem Konsens in Form eines Gesamtwillens bzw. 
eines Gesamtinteresses zu kommen, müssen sich die Individuen von ihrer rein 
subjektiven Interessenlage gedanklich distanzieren und die Interessen der andern 
Individuen mit einbeziehen. Dies lässt sich in dem folgenden Prinzip ausdrücken: "Ein gewaltfreier Konsens über Normen ist nur dann möglich, wenn jedes 
Individuum die Interessen jedes anderen Individuums genauso berücksichtigt, als 
wären es seine eigenen."   
Dies Prinzip soll als Solidaritätsprinzip bezeichnet 
werden, da es von jedem Individuum bei der Diskussion um Normen eine 
solidarische {-124-} Berücksichtigung der Interessen des andern verlangt. 
Dies Solidaritätsprinzip hat eine enge Verwandtschaft mit 
andern Prinzipien der Ethik oder der Politischen Philosophie. 
So formulieren z. B. BENN und PETERS ein Prinzip der "Gleichberücksichtigung der individuellen Interessen". 
[[1] S. BENN/PETERS 1959, S. 56].
Auch die Moral der Bergpredigt mit dem zentralen Gebot: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!"   hat eine enge Verwandtschaft mit dem 
formulierten Solidaritätsprinzip. Allerdings ist das Solidaritätsprinzip ein 
methodologisches Kriterium für die Diskussion von Normen und keine unmittelbar 
für das Handeln verbindliche Norm. 
Wichtig ist dabei, dass hier eine universale Solidarität 
mit jedem Individuum gemeint ist, während im alltäglichen Sprachgebrauch unter 
Solidarität oft nur die partikulare Solidarität mit seinesgleichen gemeint ist. 
Die Begründung des Solidaritätsgebots ist dabei letztlich die, dass es die 
einzige Möglichkeit bietet, um zu einem gewaltfreien Konsens über die Existenz 
von Normen zu gelangen, wie er vom Intersubjektivitätsgebot geboten wird. 
Jemand, der das Solidaritätsgebot nicht akzeptiert, muss deshalb entweder einen 
akzeptableren Weg zeigen, um zu einem argumentativen Konsens über Normen zu 
gelangen, oder aber er verstößt gegen das Intersubjektivitätsgebot. 
Letzteres kann er natürlich machen, jedoch schließt er sich damit selber von der 
weiteren Diskussion aus, und die von ihm vertretenen Normen können nur den 
Charakter von nicht universal zu rechtfertigenden Gewaltordnungen haben. {-125-}
Außerdem ist in der Formulierung enthalten, dass 
gleichartige Interessen verschiedener Individuen auch gleich zu berücksichtigen 
sind. Diese Gleichheit ergibt sich aus dem gemeinsamen Bezugspunkt für die 
Berücksichtigung aller Interessen in Form der jeweils eigenen Interessen.
Es wird also vom Solidaritätsprinzip keine Aufgabe der 
eigenen Interessen verlangt, sondern es wird nur gefordert, dass bei der 
Bestimmung allgemeingültiger Normen die Interessen der andern Individuen so 
berücksichtigt werden und das gleiche Gewicht erhalten müssen wie die eigenen 
Interessen. Jedes Individuum kann also seine eigenen Interessen beibehalten und 
bringt diese als solche auch in die Überlegungen ein. Auch wenn die aus einer 
solidarischen Interessenberücksichtigung resultierende Norm dem eigenen 
Interesse nicht entspricht, kann es als solches erhalten bleiben, sofern es nicht in 
Handeln umgesetzt wird. Es ist also für einen normativen Konsens nicht 
erforderlich, dass die Interessen bzw. "Begehrungen"   der Individuen als solche 
verändert werden, wie z. B. SCHWEMMER meint. [[2] s. SCHWEMMER 1971, S 109.] 
{-126-} 
Die Funktion des Solidaritätsprinzips im Rahmen einer 
normativen Methodologie kann durch einen Vergleich mit der empirischen 
Methodologie verdeutlicht werden. Diese stellt sich ja die Frage nach der 
Möglichkeit allgemeingültiger Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit. 
Das Intersubjektivitätsgebot der empirischen Methodologie würde lauten: "Suche 
nach wahren Aussagen!", wobei die Wahrheit einer Aussage auch hier bedeutet, 
dass über die behauptete Aussage ein gewaltfreier, also argumentativer Konsens 
möglich ist. [[3] Zum Intersubjektivitätsgebot s.o. § 7.] 
Das charakteristische an einem rein empirischen Dissens, 
der also nicht auf Missverstehen oder logischen und methodologischen Fehlern 
beruht, ist der Konflikt bzw. die Nicht-Übereinstimmung der individuellen 
Wahrnehmungen. Diese ergibt sich u. a. daraus, dass die Individuen je nach ihrer 
zeit-räumlichen Position und Perspektive unterschiedliche Ereignisse wahrnehmen 
bzw. dieselben Gegenstände unterschiedlich wahrnehmen, denn es gibt ebensoviel 
verschiedene Wahrnehmungen desselben Gegenstandes, wie es Positionen gibt, die 
ein beobachtendes Individuum einnehmen kann. 
Wenn sich z. B. zwei Individuen A und B im Gebirge an 
verschiedenen Orten aufhalten, von denen aus beide aber dieselben zwei Berge X 
und Y sehen können, so ist in der Wahrnehmung von A vielleicht {-127-} der Berg 
X der höhere, während in der Wahrnehmung von B der Berg Y der höhere ist. Auch 
in den empirischen Wissenschaften muss das "wahre Bild"   eines Gegenstandes also 
erst durch die Zusammenfassung unterschiedlicher Wahrnehmungen gebildet werden. 
Das dahinter stehende methodologische Prinzip der Erfahrungswissenschaften 
könnte man analog zum Solidaritätsprinzip der normativen Methodologie 
folgendermaßen formulieren: "Ein gewaltfreier Konsens über empirische Aussagen 
ist nur möglich, wenn jedes Individuum die Wahrnehmungen jedes andern 
Individuums zugleich zu seinen eigenen macht."   
Vor dieser Aufgabe, sich aufgrund 
unterschiedlicher Wahrnehmungen verschiedener Individuen ein Bild der 
Wirklichkeit zu machen, steht z. B. der Richter bei der Rekonstruktion des 
Hergangs einer Tat aufgrund von Zeugenberichten oder der Historiker, der die 
Berichte von Augenzeugen für seine Forschungen heranzieht. 
Auf der empirischen und der normativen Ebene der Erkenntnis 
bestehen also ähnliche Problemlagen. Allerdings ist es in Bezug auf die 
Wahrnehmungen eines andern Individuums sehr viel leichter als in Bezug auf seine 
Interessen, dessen Position einzunehmen und sich seinen "Standpunkt"   zu eigen zu 
machen, denn dazu ist im Prinzip nur erforderlich, dass man zeitlich und 
räumlich die gleiche Position einnimmt wie der andere und seine Aufmerksamkeit 
auf den betreffenden Gegenstand bzw. die vom Andern wahrgenommenen Ereignisse 
richtet. [[4] Dies ist allerdings bei empirischen Fragen dann nicht möglich, 
wenn es sich um Aussagen und Wahrnehmungen über einmalige, bereits vergangene 
Ereignisse handelt.] {-128-}
Dagegen ist es sehr viel schwieriger, sich die Interessen 
eines andern Individuums zu eigen zu machen und sich dazu in die Position des 
anderen "hineinzuversetzen". Die fremde Position kann nur in Ausnahmefällen 
tatsächlich eingenommen werden, z. B. wenn ein Autofahrer zugleich Fußgänger ist 
und dadurch die Dinge auch "aus der Sicht"   der Fußgängerinteressen beurteilen 
kann. Meist ist die Position der andern Individuen an überhaupt nicht bzw. nur 
schwer veränderliche Eigenschaften ihrer sozialen Lage und Persönlichkeit 
gebunden. 
So kann man sich z. B. als Weißer nicht faktisch sondern höchstens 
vorstellungsmäßig in die Lage eines Schwarzen versetzen, um sich dessen 
Interesse an der Aufhebung bestimmter Formen der Rassentrennung zu 
vergegenwärtigen und zu eigen zu machen. [[5] Zur näheren Analyse dieser 
Problematik s. u. § 39.]
Zu dieser größeren Schwierigkeit auf der normativen Ebene 
trägt außerdem bei, dass die Interessen, die Individuen in Bezug auf eine 
bestimmte Entscheidung entwickeln, in viel stärkerem Maße von 
persönlichkeitsspezifischen Unterschieden der Individuen abhängen als die 
Wahrnehmungen, die Individuen vom selben Gegenstand haben. [[6] Allerdings 
finden sich auch bei Wahrnehmungen kulturelle und sozialisationsbedingte 
Unterschiede zwischen den Individuen sowie Unterschiede, die auf physiologische 
Unterschiede der Sinnesorgane zurückgehen.]
Eine weitere Parallele zwischen den Problemen normativer 
und empirischer Erkenntnis besteht darin, dass weder die Wahrnehmungen der 
Individuen noch ihre {-129-} Interessen, so wie sie von den Individuen geäußert 
werden, ohne weiteres zur Grundlage des allgemeinen Wissens genommen werden 
können, da sowohl Wahrnehmungen als auch Interessen fehlerhaft sein können. 
Sowohl Wahrnehmungen als auch Interessen müssen 
intersubjektiv nachvollziehbar sein, um Grundlage allgemeingültiger Erkenntnis 
zu werden. So wie es in der normativen Methodologie einer Qualifikation der 
individuellen Interessen bedarf, so bedarf es in der empirischen Methodologie 
einer Qualifikation der individuellen Wahrnehmungen. Die zufällige Wahrnehmung 
ist mit einer Reihe möglicher Fehlerquellen behaftet, die das Individuum selber 
bei einer Nachprüfung seiner Wahrnehmung - z. B. über Fotografien - entdecken 
kann. 
Deshalb wurden Qualifikationsbedingungen einer 
wissenschaftlichen Beobachtung entwickelt, die diese Fehlerquellen (optische 
Täuschung, selektive Wahrnehmung, Projektionen, Unaufmerksamkeit, 
Gedächtnislücken etc.) möglichst ausschalten z. B. in Form wiederholter, 
standardisierter Beobachtung mit Hilfsmitteln wie Mikroskop, Fotografie usw.. 
Auch in den empirischen Wissenschaften haben zufällige Wahrnehmungen eines 
Individuums nur eine geringere allgemeine Anerkennung und jeder Wissenschaftler 
hat gegenüber dem andern das Recht zu fragen, unter welchen Bedingungen er seine 
Wahrnehmungen gemacht hat, um sie selber für sich zu wiederholen. Liegen 
problematische Bedingungen vor, so ändert auch die feste individuelle 
Überzeugung des Wahrnehmenden nichts daran, dass seine Wahrnehmung nicht 
Grundlage allgemeingültigen Wissens sein kann. 
Solche Qualifikationen der individuellen Wahrnehmung 
spielen vor allem bei Zeugenaussagen vor Gericht eine große Rolle. Wenn ein 
Augenzeuge übermüdet war, seine Aufmerksamkeit auf andere {-130-} Objekte 
konzentriert war, die Sichtbedingungen schlecht waren, das Ereignis bereits 
lange zurückliegt usw., so können seine Wahrnehmungen nur sehr beschränkt zur 
Wahrheitsfindung herangezogen werden. 
Analog gibt es auch Bedingungen, unter denen die 
Interessenartikulation von Individuen unqualifiziert wird, so dass auch die 
individuellen Interessen ebenso wie die Wahrnehmungen einer kritischen Prüfung 
unterzogen werden müssen.
Als ein solches Kriterium des richtigen Handelns wäre es 
sicherlich nicht akzeptabel. Die Regel: "Handle jederzeit so, dass du die 
Interessen jedes andern Individuums genauso berücksichtigst, als wären es deine 
eigenen!"   würde bedeuten, dass man niemals seinem eigenen Vergnügen nachgehen 
könnte, indem man spielt oder spazieren geht, denn es wird sicherlich in jedem 
einzelnen Fall andere Individuen geben, deren Interesse nach Hilfe gewichtiger 
ist als mein Interesse nach Unterhaltung und Entspannung, z. B. wenn jemand 
unter Termindruck eine für ihn wichtige Arbeit erledigen muss und 
Schwierigkeiten hat, sie allein rechtzeitig fertig zu stellen. [[7] Zu den 
Qualifikationsbedingungen der individuellen Interessen s. o. Kap. 13.] 
{-131-}
In ähnlicher Weise wird man wahrscheinlich kaum dazu 
kommen, für sich eine gewünschte Sache zu benutzen, da es sicherlich immer 
andere Individuen gibt, die diese Sache für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse 
dringlicher brauchen.
Eine solche Handlungsnorm würde also bedeuten, dass man 
sich in keinem Bereich des Lebens von seinem Eigeninteresse leiten lassen 
dürfte, sondern bei allen Handlungen das Wohl aller im Auge haben müsste. Dies 
wäre eine Norm, die vielleicht auf Heilige anwendbar wäre, aber nicht auf 
normale Menschen.
Ohne im einzelnen auf die wahrscheinlich kaum lösbaren 
Probleme der Durchsetzung, Kontrolle und Sanktionierung eines solchen schwer 
vorstellbaren normativen Systems einzugehen, stellt sich hier die Frage, ob 
damit im Endergebnis dem Gesamtinteresse besser gedient ist, als wenn man in 
bestimmten Bereichen die Individuen bzw. die Teilkollektive für sich selber 
sorgen lässt, ihnen also Bereiche zuteilt, in denen sie weitgehend ihren eigenen 
Interessen nachgehen können. [[8] Es wäre also wiederum zu fragen, ob ein 
solches Normensystem mit dem Solidaritätsgebot vereinbar ist.] 
Im Einzelfall hängt die Entscheidung über die Ausgrenzung 
solcher Eigenbereiche, in denen keine Verpflichtung gegenüber anderen besteht, 
nicht zuletzt von der tatsächlichen Beschaffenheit und Veränderbarkeit der 
menschlichen Motivationsstruktur ab, also davon, inwiefern Menschen ohne den 
Antrieb ihres Eigeninteresses {-132-} handlungs- und leistungsfähig sind. 
Jemand, der die Norm vertritt, dass man bei allen Handlungen fremde Interessen 
so berücksichtigen soll, als seien es die eigenen, muss diese Problematik 
entweder für nicht existent oder für gelöst halten und dürfte keine solchen 
Eigenbereiche zulassen.
Wenn jemand nun entsprechend dem Solidaritätsgebot 
verfährt, so muss die zu wählende Norm folglich unabhängig davon bestimmt 
werden, welche Position er selber dabei einnimmt. Oder allgemeiner ausgedrückt: 
Ob eine Norm existieren soll, muss unabhängig davon bestimmt werden, welche 
Personen welche Positionen einnehmen. Denn wenn die Interessen jeder Person in 
gleicher Weise berücksichtigt werden sollen, so spielt die Identität der 
Personen keine Rolle. 
Deshalb kann der Hinweis, dass es sich im einen Fall um die 
Person A handelt und im andern Fall um die Person B, allein noch keinen 
Unterschied in der anzuwendenden Norm rechtfertigen. Insofern sind Normen auch "ohne Ansehen der Person"   anzuwenden. Es darf keine Rolle spielen, um wen es 
sich handelt. {-133-}
Allerdings können andere Unterschiede zwischen den Fällen 
und ihren Umständen, wie z. B. unterschiedliche Interessen, Fähigkeiten oder 
Funktionen der Personen, die Anwendung unterschiedlicher Normen rechtfertigen. 
Diese Unterschiede lassen sich jedoch unabhängig von der Identität der Personen, 
also ohne Gebrauch von "Namen", beschreiben als unterschiedliche Eigenschaften 
der Personen oder Umstände. [[9] Ähnlich auch SCHWEMMER 1973, S. S3.]
Das paradoxe Sprichwort: "Wenn zwei dasselbe tun, dann ist 
es nicht dasselbe"   ist nur dann richtig, wenn es so verstanden wird, dass es 
andere normativ relevante Unterschiede zwischen den Personen gibt als nur ihre 
Identität. Das gleiche gilt für, das Sprichwort "Quod licet Iovi, non licet bovi". 
[[10] "Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt". 
Insofern dieser Spruch auf Menschen angewandt wird, so verrät allerdings schon 
die darin enthaltene Einteilung der Beteiligten in Götter und Rindviecher eine 
Haltung, die schwerlich mit dem Solidaritätsgebot übereinstimmen wird.]
Mit dem Hinweis, dass die Identität der Personen kein 
normativ relevanter Umstand sein darf, um die Anwendung unterschiedlicher Normen 
zu rechtfertigen, ist allerdings noch nichts darüber gesagt, welche sonstigen 
Unterschiede zwischen zwei Fällen die Anwendung unterschiedlicher Normen 
rechtfertigen können. Diese Frage kann mit dem Gebot der Personunabhängigkeit 
allein nicht beantwortet werden, denn damit kann keine Auswahl zwischen 
verschiedenen personunabhängig formulierten Anwendungsbedingungen {-134-} für 
Normen getroffen werden. Hierzu ist eine Analyse der konkreten Interessenlage 
aller Beteiligten gemäß dem Solidaritätsgebot notwendig.
Das Gebot der Personunabhängigkeit ist also zwar ein 
notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Gültigkeit von Normen. Es 
scheidet Normen als ungültig aus, die in ihrer Formulierung oder in ihrer 
praktizierten Anwendung Unterschiede zwischen Personen allein aufgrund ihrer 
Identität machen. Über die Gültigkeit von Normen, die dies nicht machen, kann 
das Gebot nichts aussagen. [[11] Vgl. oben § 30 zum Kriterium der 
Verallgemeinerbarkeit]
HARE will das Prinzip der Universalisierbarkeit als 
Kriterium für die Gültigkeit moralischer Argumente aus der umgangssprachlichen Bedeutung der moralischen Begriffe wie "sollen"   und "gut"   ableiten. Er 
meint, dass es die Logik der moralischen Begriffe und die Regeln ihrer 
Verwendung erfordern,{-135-} dass man auf gleiche - bzw. in relevanten Aspekten gleiche - 
Situationen die gleichen Normen und Bewertungen anwendet. "Wenn eine Person 
sagt: 'Ich soll in einer bestimmten Weise handeln, aber niemand sonst soll in 
dieser Weise handeln in Umständen, die in relevanter Weise ähnlich sind', dann 
missbraucht er meiner These nach das Wort 'sollen' .'' [[13] Hare 1965, S.32] 
Dabei weitet er den 
Begriff der "gleichen Situation"   dahingehend aus, dass alle Situationen als 
gleich anzusehen sind, die sich nur dadurch unterscheiden, dass die 
verschiedenen Positionen von verschiedenen Personen eingenommen werden. Dies 
entspricht dem Gebot der Personunabhängigkeit, denn die Identität der Personen 
darf für die Anwendung von Normen keine Rolle spielen, da durch sie die 
Situation nicht verändert wird.[[14] Vgl. hierzu auch HARE 1954/55 und GELLNER 1954/55.]
HARE gibt dem Prinzip der Universalisierbarkeit jedoch noch 
eine darüber hinausgehende Bedeutung, die es praktisch bedeutungsgleich mit dem 
Solidaritätsprinzip werden lässt. HARE verdeutlicht seine Auffassung anhand 
eines Beispiels, wo Individuum A dem Individuum B Geld schuldet und B vor der 
Frage steht, ob es moralisch richtig ist, dass er A dafür ins Gefängnis bringt, 
was möglich wäre. Das Element der Universalisierbarkeit in Sollensnormen 
erfordert in diesem Fall nach HARE, "dass B die Tatsache, dass er diese 
bestimmte Rolle in der Situation spielt, nicht berücksichtigen soll, ohne jedoch 
die Interessen unberücksichtigt zu lassen, die Menschen in Situationen {-136-} dieser Art haben. Mit andern Worten, er muss bereit sein, 
den Neigungen und Interessen von A ein solches Gewicht zu geben, als wären es 
seine eigenen. Dies ist es, was egoistische Klugheitsgründe in moralische 
Argumentation verwandelt."  [[15]  S. HARE 1965, S. 94.]
Diese Formulierung ist nahezu identisch mit dem 
Solidaritätsgebot. Die Begründung, die HARE für das Prinzip der 
Universalisierbarkeit gibt, erscheint jedoch aus verschiedenen Gründen nicht 
akzeptabel:
1. HARE will aus den Regeln des moralischen 
Sprachgebrauchs, aus der umgangssprachlichen Bedeutung moralischer Begriffe 
Kriterien für die Gültigkeit moralischer Argumente und Normen ableiten. Wenn 
jemand in der Rechtfertigung von Handlungen gegen das Prinzip der 
Universalisierbarkeit im obigen Sinne verstößt, so hält HARE ihm entgegen, dass 
er die Bedeutung des Wortes "sollen"   nicht verstanden habe. Damit erhebt sich 
jedoch die Frage, was der richtige Gebrauch und die richtige Bedeutung des 
Wortes "sollen"   ist. Wenn es auch einen falschen Gebrauch des Wortes gibt, wie 
HARE meint, so kann ja der faktische Gebrauch kein Maßstab sein. [[16] "Es mag sein, dass es einen verfälschten Gebrauch 
des Wortes 'sollen' gibt, in dem es gleichbedeutend mit einem einfachen 
Imperativ ist."   HARE 1965, S.37.]
Wenn jedoch 
ein nicht der Universalisierbarkeit entsprechender Gebrauch von Worten wie "sollen"   damit abgetan wird, dass dies als ein Gebrauch des Wortes im 
nicht-moralischen Sinne bezeichnet wird, der für die moralische Problematik 
irrelevant ist, so wird das Prinzip der Universalisierbarkeit zur Definition 
dessen, was Moral ist, bereits herangezogen, um hinterher aus dem {-137-} Begriff des Moralischen wieder abgeleitet zu werden, so 
dass ein Zirkelschluss vorliegt. Dann würde in die Bedeutung der moralischen 
Begriffe hineingelegt werden, was erst das Ergebnis von Überlegungen zum Problem 
der Gültigkeit von Normen ist. [[17] Ähnlich argumentiert MacINTYRE: "Zu behaupten, dass 
Universalisierbarkeit das Wesen moralischer Wertung ist, bedeutet keine 
Information darüber, was 'Moral'   bedeutet oder wie moralische Begriffe 
gebraucht werden. Damit wird eine Bedeutung für 'Moral'   und andere moralische 
Worte vorgeschrieben und implizit wird eine Moral vorgeschrieben." MacINTYRE 1957, S. 37.] 
Außerdem muss immer die Möglichkeit 
einkalkuliert werden, dass einzelne Regeln und Begriffe der Umgangssprache zur 
Lösung bestimmter Erkenntnisprobleme ungeeignet sind, so dass eine konstruktive 
Veränderung und Weiterentwicklung des sprachlichen Instrumentariums notwendig 
wird.
2. Wenn HARE das Prinzip der Universalisierbarkeit als eine 
logische Notwendigkeit annimmt, die aus der Bedeutung moralischer Begriffe 
folgt, so verstößt er damit gegen das HUMEsche Gesetz, das den logischen 
Schluss von Fakten auf Normen verbietet. Das Prinzip der Universalisierbarkeit 
besagt ja, dass zwei faktisch gleichen Zuständen die gleiche normative Bewertung 
zukommen muss. SEN stellt dazu fest: "Wenn dies als eine logische Notwendigkeit 
verstanden wird, so scheint die faktische Gleichheit zweier Zustände (eine 
Tatsache) zu implizieren, dass die Zustände gleich gut sind (ein Werturteil)." [[18] 
S. SEN 1970, S. 133.]{-138-}
3. Der dritte Einwand richtet sich gegen die problematische Ausweitung des Begriffs der "Ähnlichkeit"   
von Umständen. Nach HARE spielt für die Ähnlichkeit einer Situation keine Rolle, 
welche Person welche Position einnimmt. Aber man begeht sicherlich keinen logischen Fehler, wenn man der Ansicht ist, dass sich durch die Vertauschung 
der Positionen die Situation geändert habe. Allerdings verstößt man gegen das 
Gebot der Personunabhängigkeit, wenn man diesen Unterschied zur Anwendung 
unterschiedlicher Normen heranzieht. Das Gebot der Personunabhängigkeit ist 
jedoch keine Regel der Logik, sondern der normativen Methodologie. [[19] Ähnlich argumentiert MacINTYRE: "... Die Forderung, dass 
jedermann nach dem gleichen Maßstab beurteilt werden soll ..., ist so 
grundlegend für die liberale Moral, dass sie aus einer Forderung der Moral in 
eine Forderung der Logik umgewandelt wird."   MacINTYRE 1957, S. 36.]{-139-}
Diejenige Norm, die diesem 
Gesamtinteresse am besten entspricht, wäre dann allein Konsensfähig und könnte 
für sich Gültigkeit beanspruchen. [[1] Statt des hier gewählten Begriffs "Gesamtinteresse"   sind in der normativen Theoriebildung auch die Begriffe "allgemeines Interesse", "öffentliches Interesse", "Gemeinwohl", "allgemeiner 
Wille"   gebräuchlich. Immer handelt es sich dabei um ein oberstes Kriterium, von 
dem her bestimmte Normen und Entscheidungen gerechtfertigt werden.]
Um zu gültigen Normen zu gelangen, ist es also notwendig, 
die individuellen Interessen zu bestimmen und diese solidarisch zu einem 
Gesamtinteresse zusammenzufassen. Die Möglichkeiten  zur genauen und 
vergleichbaren Bestimmung individueller Interessen stehen im Mittelpunkt dieses 
Kapitels. Dabei wird Gebrauch gemacht von der in der Ökonomie gebräuchlichen 
Nutzen- und Präferenz-Terminologie, die für Quantifizierungen besser geeignet ist 
als die Interessen- und Willensterminologie, die bisher verwendet wurde. {-140-}
Die Nutzenterminologie wird hier nur deshalb verwandt, weil 
sie sich in der Diskussion eingebürgert hat. Statt zu sagen "Der Nutzen einer 
Alternative für ein Individuum"   könnte man auch verschiedene andere 
Formulierungen verwenden wie: "Der (Nutz- bzw. Gebrauchs-) Wert einer Alternative 
für ein Individuum"  ; "Die Präferenzintensität eines Individuums in Bezug auf 
eine Alternative"  ; "Das Maß an (Interessen-, Bedürfnis-, Wunsch-) Befriedigung 
eines Individuums durch eine Alternative"  ; "Der Vorteil (bzw. Nachteil) eines 
Individuums durch eine Alternative"  ; "Die Veränderung der Wohlfahrt (des Glücks, 
des Wohls, der Lebensqualität etc.) {-141-} eines Individuums durch eine Alternative"  ; "Die Vorliebe oder Abneigung eines 
Individuums für eine Alternative". 
Diese Formulierungen werden im folgenden 
weitgehend synonym gebraucht. Allein entscheidend ist auf der gegenwärtigen 
Ebene der Analyse der Bezug dieser Formulierungen zu der für Normen konstitutiven Ebene des WillensverhäItnisses zur Welt . [[2]
Es ist mit dem Nutzenbegriff also keineswegs die 
hedonistische Auffassung verbunden, dass Menschen nur etwas wollen können, das 
für sie mit der Gewinnung von Lust bzw. der Vermeidung von Unlust verbunden ist, 
wie z. B. BENTHAM voraussetzte. S. BENTHAM 1789, S.33. S. dazu a. u. § 47. Der Begriff "Wert"   wurde anstelle von "Nutzen"   nicht verwandt, da die Gefahr einer 
Verwechslung mit "Tauschwert"   sehr groß wäre.]
Dabei müssen zwei Aspekte des Nutzenbegriffs 
unterschieden werden. Zum einen kann man sich auf das Nutzenniveau 
der verschiedenen Individuen beziehen. Einen Vergleich der Nutzenniveaus 
verschiedener Individuen nimmt man z. B. dann vor, wenn man sagt, dass es dem 
einen Individuum "besser geht"   als dem andern bzw. dass das eine Individuum sich "in einer besseren Lage befindet"   als das andere. Auch die Begriffe "Lebensqualität"   oder "Wohlfahrt"   werden meist in Bezug auf das Nutzenniveau der 
Individuen verwendet, z. B. wenn man sagt, dass durch eine Maßnahme "die 
Wohlfahrt eines Individuums gesteigert wird."  
Zum andern kann man jedoch auch direkt vom "Nutzen 
einer Alternative"   sprechen. Diese Ausdrucksweise ist nicht unproblematisch, 
denn sie tut so, als ob der Nutzen in gleicher Weise eine zum Gegenstand {-142-} gehörige empirische Eigenschaft ist wie z. B. 
die 
Länge eines Gegenstandes. [3] Die Problemlage ist die gleiche wie bei der 
Wert-Terminologie. S. o. § 4.]
Diese Gleichstellung mit faktischen Eigenschaften ist 
jedoch in zweierlei Hinsicht unrichtig. Zum einen beziehen sich Aussagen über 
den Nutzen bestimmter Dinge immer auf bestimmte Subjekte und sind damit relativ 
zu diesen, denn ein und dasselbe Ereignis kann für das eine Individuum einen 
großen Nutzen haben, während es für das andere Individuum nutzlos oder gar 
schädlich ist. Es muss also beim Gebrauch der Nutzenterminologie immer deutlich 
gemacht werden, für wen dieser Nutzen behauptet wird.[[4] Dieser Bezug 
zu bestimmten Subjekten wird deutlicher, wenn man statt von "Nutzen"   von "Vorteil"   spricht. Wenn jemand z. B. sagt: "Dies Ereignis ist vorteilhaft", so 
bleibt ein solcher Satz unvollständig, wenn man nicht weiß, für wen das 
Ereignis vorteilhaft sein soll.] 
Dabei müssen die 
Subjekte, auf die Bezug genommen wird, nicht unbedingt einzelne Individuen sein. 
Es können auch bestimmte Gruppen von Individuen der Bezugspunkt sein, weshalb 
man einer Sache auch einen "kollektiven Nutzen"   bzw. einen "Nutzen für die 
Organisation"   zusprechen kann. Letztlich kann auch der Nutzen für die Gesamtheit aller Individuen gemeint sein, der hier als "Gesamtnutzen"   
bezeichnet werden soll. [[5] Die analogen Begriffe zu "Gesamtnutzen"   wären "Gesamtinteresse", "Gemeinwohl"   oder "Allgemeinwille".]  
Sofern jemand kein bestimmtes Subjekt als Bezugspunkt 
des Nutzens nennt, ist in der Regel "Nutzen"   in diesem universalistischen Sinne 
gemeint, also der "Nutzen für die Allgemeinheit"   bzw. "Gesamtnutzen".{-143-}
Der andere Aspekt, der den "Nutzen einer Sache"   von den 
faktischen Eigenschaften einer Sache unterscheidet, besteht darin, dass sich die 
Bestimmung des Nutzens einer Sache sinnvoll nur relativ zu andern Alternativen vornehmen lässt. In der Regel wird dieser Bezugspunkt in 
Form einer andern Alternative nicht ausdrücklich genannt. Dann wird 
stillschweigend als Bezugspunkt für den Nutzen eines Ereignisses das 
Nicht-Eintreten dieses Ereignisses, d. h. die Fortdauer des Status quo 
vorausgesetzt. Gewöhnlich ist also der Status quo diejenige Alternative, auf die 
bei einer Nutzenbestimmung Bezug genommen wird. 
Wenn man z. B. in Bezug auf 
einen Kranken sagt: "Ein Kuraufenthalt wäre für ihn von großem Nutzen", so 
bildet dabei der Status quo in Form von beruflichen Anstrengungen und 
städtischer Umweltbelastung den stillschweigenden Bezugspunkt. [[6] Im Prinzip kann man jedoch auch andere Alternativen 
anstelle des Status quo zum Bezugspunkt für die Bestimmung des Nutzens einer 
Sache nehmen. Die Nutzendimension ist nur ein formaler, quantitativer Ausdruck 
für den Wert verschiedener Alternativen einer Entscheidungssituation für ein 
bestimmtes Subjekt. Dabei kann es sich auch nur um fiktive 
Entscheidungssituationen handeln, wenn man sagt: "Wenn ich nicht an der U-Bahn 
wohnen würde, wäre ein Auto für mich von großem Nutzen."] 
Der logische Zusammenhang zur Ebene des Nutzenniveaus ist 
nun derart, dass "der Nutzen einer Sache"   diejenige Veränderung des 
Nutzenniveaus eines bestimmten Subjektes angibt, die durch diese Sache 
hervorgerufen wird. Wenn man also abgekürzt vom {-144-} "Nutzen einer Alternative"   spricht, ohne einen weiteren 
Bezugspunkt anzugeben, so meint man damit die Differenz der Nutzenniveaus 
zwischen dem Nichteintreten der Alternative, also dem Status quo, und dem 
Eintreten dieser Alternative.
Gewöhnlich wird einem Ereignis nur dann "Nutzen"   
zugesprochen, wenn es zu einer Erhöhung des Nutzenniveaus führt. Wird das 
Nutzenniveau gesenkt, so spricht man meist von "Schaden"   bzw. "Kosten"   oder aber auch von "negativem Nutzen"   
[[7] Analog zum Begriffspaar "Nutzen-Kosten"   sind noch 
eine Reihe weiterer Formulierungen gebräuchlich, die sich ebenfalls auf die 
positive und die negative Richtung der Bewertungsdimension beziehen und die 
meist dem Wirtschaftsleben entstammen, wie "Gewinn - Verlust", "Ertrag - 
Aufwand", "Vorteil - Nachteil"   usw. Dabei wird manchmal ihre Messung in 
Geldeinheiten vorausgesetzt. Diese Voraussetzung wird bei diesen Überlegungen 
jedoch nicht gemacht. Die Begriffe "Nutzen"   und "Kosten"   implizieren also 
keineswegs ihre Messung in Geldeinheiten. S. Dazu unten § 45.]
Aus dem oben Gesagten ist deutlich geworden, dass "Nutzen"   
hier nicht nur als Zweckmäßigkeit von Mitteln aufgefasst wird, obwohl einer 
Sache natürlich ein individueller Nutzen zukommen kann, weil sie andern Zielen 
eines Individuums dienlich ist. Eine Sache kann jedoch auch als solche 
einen Nutzen besitzen, was man als den "intrinsischen Nutzen"   bzw. als "intrinsischen Wert"   der Sache bezeichnen kann . [[8] 
Zum intrinsischen Wert s. SEN 1970, S. 59f., der 
in diesem Zusammenhang auch von Basiswerten ('basic values') spricht.] {-144a-} 
Das Nutzenkonzept ist hier also nicht eingeengt auf "Nützlichkeit für andere 
Zwecke"   zu verstehen. [[9] In diesem engen Sinne wird der Nutzenbegriff z. B. 
von KLAUS aufgefasst. S. KLAUS 1968, S. 119ff.]
2. Anwendbarkeit und Akzeptierbarkeit des Nutzenmaßstabs
1. Er soll zu Messergebnissen führen, die hinreichend 
zuverlässig und präzise sind.
2. Er soll normativ akzeptabel sein, was entsprechend den 
vorangegangenen Überlegungen bedeuten würde, dass er dem Solidaritätsprinzip 
entspricht.
Bei Punkt 1 handelt es sich um die in der empirischen 
Forschung vertraute Problematik der Zuverlässigkeit von Messverfahren. [[10] Vgl. hierzu etwa MAYNTZ u. a. 1969, S. 22ff. oder 
FRIEDRICH 1970, S. 246ff.] "Ein Instrument ist zuverlässig in dem Maße, in dem seine wiederholte 
Anwendung - auch von verschiedenen Forschern - unter den gleichen Bedingungen 
die gleichen Ergebnisse bringt."   [[11] Mayntz u. a. 1969, S. 23] Um die Zuverlässigkeit von 
Messverfahren zu gewährleisten, bedarf es einmal der Genauigkeit der 
Messungen und zum andern der 0bjektivität der Messungen. Ohne ein 
bestimmtes Maß an Zuverlässigkeit des Nutzenmaßstabes ist er überhaupt 
unbrauchbar, weil nicht anwendbar. Man spricht dann auch davon, {-144b-} dass der Nutzenbegriff nicht "operational"   ist. Für die 
Zuverlässigkeit von Messverfahren wurden statistische Maßzahlen und Verfahren 
entwickelt, durch die verschiedene Verfahren miteinander vergleichbar gemacht 
werden können.
Bei Punkt 2, der normativen Akzeptierbarkeit des 
Nutzenmaßstabs, handelt es sich um ein Problem, das in der empirischen 
Methodologie mit dem Problem der Validität von Begriffen vergleichbar ist. [[12]
Vgl. hierzu z. B. MAYNTZ u. a. 1969, S. 64f.] Bei der Validität von Begriffen bzw. 
der Validität ihrer Operationalisierung durch bestimmte Indikatoren geht es um 
das Problem, ob das verwendete Messverfahren wirklich dasjenige misst, was man 
theoretisch meint. Zur Überprüfung der Validität von Begriffen wurden in der 
empirischen Sozialforschung verschiedene Prüfverfahren entwickelt. Allerdings 
geht es bei der "validen"   Bestimmung eines normativen Nutzenmaßstabs nicht um 
dessen prognostische Brauchbarkeit im Rahmen einer empirischen erklärenden 
Theorie, sondern um seine normative Akzeptierbarkeit in Bezug auf das 
Solidaritätsprinzip bei der Bestimmung des Gesamtinteresses. [[13] Zur prognostischen Validität eines empirischen 
Nutzenkonzepts s. ALCHIAN 1953, S. 143ff.]
Der Unterschied zwischen dem Problem der Zuverlässigkeit 
und der Validität des Nutzenmaßstabs soll an einem imaginären Beispiel 
verdeutlicht werden. {-144c-}
Man könnte zum Beispiel folgenden Vorschlag machen, um den 
Gesamtnutzen verschiedener alternativer Normen für eine bestimmte Menge von 
Individuen festzustellen: Man versammelt die Individuen in einem Saal und 
fordert sie auf, zu jeder vorgestellten Alternative so laut Beifall zu 
klatschen, wie es dem individuellen Nutzen jeder Alternative für sie entspricht. 
Dann ermittelt man über einen Lautstärkemesser diejenige Alternative, die die 
größte Lautstärke und damit den größten Gesamtnutzen erhält.
Ein solches Verfahren der Nutzermessung ließe sicherlich an 
Zuverlässigkeit, Präzision und Objektivität der Messung kaum etwas zu wünschen 
über, da die Messverfahren der Akustik recht gut entwickelt sind. Allerdings 
wäre die normative Validität einer solchen Nutzenbestimmung über den Indikator "Lautstärke des Händeklatschens"   sicherlich problematisch. Denn der Einfluss 
eines Individuums auf das Gesamtergebnis wäre dabei proportional zu seiner 
Fähigkeit, lautstark zu klatschen. Da diese Fähigkeit von Individuum zu 
Individuum jedoch recht unterschiedlich sein kann - man denke nur an Alte und 
Gebrechliche - gehen die Interessen der Individuen nicht gleichgewichtig in das 
Gesamtinteresse ein und damit wäre eine solche Operationalisierung des Nutzens 
nicht mit dem Solidaritätsprinzip vereinbar. [[14] Trotzdem ist das Beifallklatschen des Publikums 
nach einer Darbietung ein sehr gebräuchliches Mittel, um das Maß der kollektiven 
Wertschätzung zu bestimmen, wobei allerdings zusätzlich zur Lautstärke noch die 
Dauer des Beifalls eine Rolle spielt.] {-145-}
1. Die Bestimmung der individuellen Nutzen durch 
Wahlhandlungen
Eine erste Antwort auf die Frage nach der Bestimmung der 
individuellen Interessen besteht darin, dass man die Interessenstruktur eines 
Individuums aufgrund seines eigenen Verhaltens ermitteln kann. Vor allem Situationen, in denen das Individuum zwischen 
verschiedenen Alternativen wählen kann, geben Hinweise darüber, was ein 
Individuum will. In solchen Entscheidungssituationen ist feststellbar, 
welche Alternativen das Individuum durch seine Wahlhandlungen vorzieht. Ein 
Beispiel hierfür wäre etwa, dass jemand auf einem Tablett verschiedene Getränke: 
Bier, Wein und Saft angeboten bekommt. Wenn er ein Glas Bier wählt, so ist das 
ein Ausdruck dafür, dass er in dieser Situation "lieber Bier wollte"   bzw. 
dass 
Bier für {146-} ihn einen größeren Nutzen hatte als die andern Getränke.
Selbst bei diesem einfachen Beispiel ergeben sich jedoch 
schon Schwierigkeiten allgemeiner Art. Die erste Schwierigkeit betrifft die 
Bestimmung der Alternativen, zwischen denen sich das Individuum entschieden hat. 
Hat es sich tatsächlich zwischen den Alternativen 'Bier', 'Wein' oder 'Saft' 
entschieden oder haben vielleicht ganz andere Aspekte der Situation eine Rolle 
gespielt? Vielleicht hatten die drei Getränke eine unterschiedliche Temperatur 
und das Individuum hat sich für Bier entschieden, weil es am kältesten war. Dann 
wären die zur Wahl stehenden alternativen Getränke unterschiedlicher Temperatur 
gewesen. Oder das Bierglas enthielt von allen Getränkearten am wenigsten 
Flüssigkeit und das Individuum hat es gewählt, weil es nicht soviel trinken 
wollte. Es können auch die verschiedenen Gesichtspunkte gleichzeitig eine Rolle 
gespielt haben, so dass die Alternativen komplexer Natur gewesen waren.
Man steht also bei der Interpretation von Wahlhandlungen 
als Interessenausdruck immer vor dem Problem, welche Gesichtspunkte für die Wahl 
des Individuums relevant gewesen sind, d. h. es ist nicht ohne weiteres 
eindeutig, zwischen welchen Alternativen sich das Individuum 
eigentlich entschieden hat. Dies Problem ist analog zum Problem der Kausalerklärung des 
Verhaltens. Wenn man ein bestimmtes {-147-} Verhalten durch den Hinweis auf das Vorliegen bestimmter 
Ursachen erklären will, so stellt sich immer das Problem, ob man nicht die 
Wirksamkeit anderer, für das Verhalten möglicherweise ebenfalls relevanter 
Faktoren übersehen hat. Um dieses Problem zu lösen, wurde in der 
erfahrungswissenschaftlichen Kausalforschung das Experiment entwickelt. 
In der experimentellen Anordnung wird der Versuch gemacht, die Wirkung eines 
bestimmten Faktors dadurch zu analysieren, dass man möglicherweise ebenfalls 
relevante Faktoren ausschaltet bzw. durch Verfahren wie die Bildung von 
Kontrollgruppen in ihrer Wirksamkeit erfasst. [[15] Zur Logik des Experiments vgl. z. B. MAYNTZ u. a. 
1969, Kapitel 9.]
Eine Wahlsituation muss analog zum Experiment konstruiert 
sein, wenn sie Rückschlüsse auf die Bewertung der Alternativen durch das 
wählende Individuum zulassen soll. Das Individuum darf bei seiner 
Entscheidung ja nur die zur Wahl gestellten Alternativen berücksichtigen und muss 
frei von allen anderen Einflüssen sein.
Wenn man aus den zur Entscheidung stehenden Alternativen z. 
B. alle möglichen paarweisen Kombinationen bildet und das Individuum nun in 
Bezug auf alle Paare entscheiden lässt, welche von beiden Alternativen es 
vorzieht, so ergibt sich bei konsistenten Wahlentscheidungen des Individuums 
eine eindeutige Rangordnung aller Alternativen. Eine solche Präferenzrangordnung 
ordnet eine Menge von Alternativen danach, ob sie für das Individuum "besser", "gleichwertig"   oder "schlechter"   sind. [[17] Zu den Voraussetzungen für die Aufstellung solcher 
Ordnungen wie Reflexivität, Transitivität und Vollständigkeit vgl. GÄFGEN 1968, 
S. 150ff. und SEN 1970, S. 7ff.] {-149-}
Insofern die Möglichkeit der "Indifferenz"   bzw. 
Gleichwertigkeit zweier Alternativen zugelassen wird, spricht man auch von einer "schwachen"   Ordnung, während eine Rangordnung ohne Indifferenzbeziehungen als "starke"   Ordnung bezeichnet wird. Im folgenden wird versucht, den "technischen"   
Apparat im Interesse einer leichteren Verständlichkeit des Textes möglichst 
gering zu halten. Die symbolische Schreibweise entspricht der bei ARROW 
verwendeten. Dort werden die Alternativen durch die kleinen Buchstaben x, y ... 
symbolisiert. Der Ausdruck "xPy"   bedeutet "x wird gegenüber y vorgezogen"  ; "xIy"   
bedeutet "x ist indifferent zu y". 
Eine Rangordnung für die normativen Alternativen x, y und z 
für ein bestimmtes Individuum könnte z. B. so aussehen, dass x den ersten Platz 
einnimmt, der vom Eigeninteresse des Individuums her am vorteilhaftesten ist, y 
den zweiten und z den dritten. Wenn nun für alle Individuen die 
Alternative x den ersten Platz einnimmt, so liegt ein Zusammenfallen der 
individuellen Interessen zu einem "gemeinsamen Interesse"   vor und die Wahl der 
normativen Alternative x würde ohne Schwierigkeiten gegenüber jedermann 
gerechtfertigt werden können. 
Da dieser Fall jedoch nicht zu erwarten ist, wie 
bereits im § 29 dargelegt wurde, so stellt sich die Frage, was in dem Falle zu 
tun ist, wenn nicht für alle Individuen dieselbe Alternative die beste ist. 
In diesem Fall benötigt man eine kollektive Entscheidungsregel, um die unterschiedlichen Einzelinteressen zu einem Gesamtinteresse 
zusammenzufassen. {-150-}
Zuvor muss jedoch die grundsätzliche Frage gestellt werden, 
ob die nur ordinale Messung der individuellen Nutzen mit dem 
Solidaritätsprinzip vereinbar ist. Durch eine bloße Rangfolge der Alternativen 
sind nämlich die Nutzendifferenzen bzw. die Präferenzintensitäten nicht erfassbar und damit auch nicht intersubjektiv 
vergleichbar. Es kann nicht berücksichtigt werden, wie groß der 
Nutzenunterschied zwischen zwei Alternativen für ein Individuum ist. Es kann nur 
gesagt werden, dass ein Unterschied besteht und in welcher 
Richtung. Wie stark die Interessen eines Individuums durch eine Entscheidung 
tangiert werden, kann durch eine bloße Rangordnung der Alternativen nicht 
ausgedrückt werden.
Für die Bildung einer kollektiven Entscheidung ist diese Nichtberücksichtigung der Präferenzintensitäten 
nun von großer Bedeutung, denn die Rangfolge xPy des Individuums A hat für die 
Bildung der kollektiven Entscheidung das gleiche Gewicht wie die Rangfolge yPx 
des Individuums B, obwohl z. B. für A die Nutzendifferenz zwischen x und y "schwerwiegend"   ist, während für B die Alternativen x und y nahezu gleichwertig 
sind. Durch die ordinale Messung des Nutzens werden solche Unterschiede nicht 
erfasst und können folglich auch nicht berücksichtigt werden.
Ein solches Verfahren erscheint jedoch als 
unvereinbar mit 
dem Solidaritätsprinzip. Dies erfordert, dass die individuellen Interessen mit 
gleichem Gewicht {-151-} berücksichtigt werden, oder genauer ausgedrückt: dass jedes 
Individuum die Interessen jedes andern Individuums genauso "wichtig"   nehmen soll 
wie seine eigenen Interessen. Dieses Prinzip erscheint nur dann erfüllt zu sein, 
wenn 
feststellbare Intensitätsunterschiede zwischen den Präferenzen der Individuen 
auch berücksichtigt werden. 
Gegenüber sich selber berücksichtigt ein Individuum 
solche Intensitätsunterschiede intra-personaler Art, wie gleich an einem 
Beispiel veranschaulicht werden soll. Insofern das Individuum durch das 
Solidaritätsprinzip aufgefordert ist, die Interessen des andern wie seine 
eigenen zu berücksichtigen, muss es deshalb auch die 
Intensitätsunterschiede zwischen seinen Interessen und denen des anderen 
berücksichtigen.
Zur Verdeutlichung des 
intra-personalen 
Intensitätsvergleiches soll das folgende einfache Beispiel dienen. Angenommen ein 
Individuum kann im Restaurant zwischen zwei Mahlzeiten wählen, dem 
Gericht x, das aus Schweinefleisch und Kartoffeln besteht, und dem Gericht y, 
das aus Rindfleisch und Reis besteht. Die Art des Fleisches wie auch die Art der 
Beilage sollen für seine Wahl gleich wichtige Kriterien sein. Außerdem soll hier 
der Nutzen der Bestandteile voneinander unabhängig sein, d. h. für den Nutzen der 
einzelnen Elemente spielt ihre Kombination zu einem Gericht keine Rolle. Nun ist 
Rindfleisch eine Lieblingsspeise des Individuums, während ihm Schweinefleisch 
gar nicht besonders schmeckt. Es hat also eine sehr intensive Präferenz für 
Rindfleisch gegenüber Schweinefleisch. Ob es jedoch Kartoffeln oder {-152-} Reis 
als Beilage bekommt, ist ihm nahezu gleichgültig, wenn es auch Kartoffeln etwas lieber isst. Es hat also eine Präferenz von 
geringer Intensität für Kartoffeln gegenüber Reis.
Wenn man nun solche Intensitätsunterschiede nicht 
berücksichtigt und nur eine ordinale Nutzenmessung in Bezug auf die beiden 
Kriterien "Fleisch"   und "Beilage"   vornimmt, so ergibt sich in Bezug auf das 
Kriterium "Fleisch"   yPx und in Bezug auf das Kriterium "Beilage"   xPy. Da beiden 
Kriterien gleiches Gewicht zukommen soll, so könnte man aufgrund dieser 
Information nicht entscheiden, welches der beiden Gerichte dem Interesse des 
Individuums mehr entspricht. Sie müssten beide als gleichwertig angesehen 
werden, da sie die gleichen Rangplätze einnehmen. Demgegenüber würde ein 
Individuum, das die Intensitäten seiner Präferenzen in Bezug auf die 
verschiedenen Kriterien seiner Entscheidung berücksichtigt, das Gericht y "Rindfleisch und Reis"   wählen, denn das Kriterium "Fleisch"   spricht sehr viel 
stärker für Mahlzeit y als das Kriterium "Beilage"   für Mahlzeit x spricht. 
Ähnlich wie nun ein einzelnes Individuum seine gleichgewichtigen Teilinteressen 
unter Berücksichtigung des Intensitäten aggregiert, so wären nach 
dem Solidaritätsprinzip die gleichgewichtigen Einzelinteressen unter 
Berücksichtigung der individuell unterschiedlichen Intensitäten zu einem 
Gesamtinteresse zu aggregieren. Das Solidaritätsgebot enthält also die Verpflichtung, die 
Interessen der verschiedenen Individuen so genau wie möglich zu erfassen und zu 
berücksichtigen. {-153-}
Für eine Berücksichtigung inter-personaler 
Präferenzintensitäten spricht auch, dass ein reichliches sprachliches 
Instrumentarium zur Beschreibung solcher Unterschiede zwischen den Individuen 
zur Verfügung steht. Dies lässt darauf schließen, dass solche inter-personalen 
Nutzenvergleiche und Vergleiche der Dringlichkeit von Bedürfnissen im täglichen 
Leben eine wichtige Rolle spielen. Man sagt z. B. : "Das macht mir nicht viel 
aus", wenn man entgegen seinen eigentlichen Interessen auf das stärkere 
Interesse eines anderen eingeht. Oder man bittet beim Arzt, wegen einer 
dringenden und akuten Erkrankung gegenüber den andern Patienten vorgelassen zu 
werden. Diese Aufzählung von inter-personalen Nutzenvergleichen ließe sich noch 
beliebig fortsetzen, und es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass die 
Einschätzung und Berücksichtigung der Stärke fremder Interessen einen wichtigen 
Bestandteil in der "sozialen Intelligenz"   eines Individuums darstellt, wenn auch 
viele dieser "Rücksichtnahmen"   nahezu automatisch und selbstverständlich 
ablaufen. [[18] Zur Möglichkeit interpersonaler Nutzenvergleiche 
vgl. LITTLE 1950, Kap. 4 sowie unten § 39.]
In der ökonomischen Literatur wird gegen eine über die 
Aufstellung von Rangordnungen hinausgehende Nutzenmessung oft ins Feld geführt, dass damit die  
Urteilsfähigkeit der Individuen überfordert werde. [[19] Außerdem war für die Durchsetzung des Ordinalismus 
natürlich bedeutsam, dass dieser für die Zwecke einer deskriptiven Preistheorie 
völlig ausreichte. Vgl. hierzu z. B. SAMUELSON 1965, S. 90ff. sowie STIGLER 1950.] {-154-} Die Feststellung von interpersonal vergleichbaren 
Präferenzintensitäten ist sicherlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, 
denn schon die Aufstellung von konsistenten individuellen Rangfolgen kann bei 
komplexen Alternativen für die Individuen problematisch sein. 
Andererseits 
muss jedoch festgestellt werden, dass bei der vergleichbaren Messung der 
individuellen Präferenzintensitäten zum Zwecke der Aggregierung zu einem 
Gesamtnutzen keinerlei Messperfektionismus erforderlich 
ist. Denn die Messung ist ja nur mit dem Genauigkeitsgrad erforderlich, mit dem 
solche Intensitäten tatsächlich wahrgenommen werden. Intensitätsdifferenzen, die 
gar nicht wahrgenommen werden, können auch kein Problem für die kollektive 
Entscheidungsfindung werden. Am Extremfall verdeutlicht heißt das: Wenn die 
Individuen z. B. überhaupt keine eindeutigen Interessen haben, dann sind für sie 
auch alle normativen Regelungen "gleich gut"   und das Problem der Auswahl von 
gültigen Normen wird trivial. 
Die Notwendigkeit genauerer als ordinaler Messung 
ergibt sich nur in dem Maße, wie die Individuen tatsächlich meinen, 
nicht nur Rangfolgen in Bezug auf die Alternativen, sondern auch 
Nutzendifferenzen zwischen den Alternativen in Bezug auf sich selber und im Vergleich zu andern feststellen zu können. Dass dies häufig der Fall ist, ist 
aber unbestreitbar. [[20] Gegen einen unnötigen Messperfektionismus in Bezug 
auf die Bestimmung des individuellen Nutzen s. a. u. § 42.] {-155-}
3. ARROWs "Allgemeines Möglichkeits-Theorem"   und die 
Problematik nur ordinaler Nutzenmessungen
Mit diesem negativen Resultat schien die Vorstellung einer 
kollektiven Rationalität analog zur individuellen Rationalität überhaupt 
fragwürdig geworden zu sein und jeder weitere Versuch zur Bestimmung von 
Kriterien der gesellschaftlichen Wohlfahrt bzw. des Gesamtnutzens schien von 
vornherein zum Scheitern verurteilt. 
Im Folgenden soll nun die Argumentation ARROWs in der Fassung von 1967 kurz dargestellt werden. [[22]
Auf eine ausführliche 
Wiedergabe kann hier verzichtet werden, da dies bereits von verschiedenen 
Autoren geleistet worden ist, z. B. bei SEN 1970, S. 37ff., WINCH 1971, S. 
176ff. oder LUCE/RAIFFA 1957, S. 328ff. Vgl. auch die Diskussionen zum 
ARROW-Paradox in den Sammelbänden von HOOK 1967 und PHELPS 1973.]{-156-}
ARROW verlangt von einer kollektiven Entscheidungsregel, [[23]
ARROW benutzt statt dessen auch den Begriff "social 
welfare function"   (soziale Wohlfahrtsfunktion) sowie später den Begriff "constitution"   
(Verfassung). Die Unterschiede verschiedener Typen von kollektiven 
Entscheidungsregeln werden präzisiert bei SEN 1970, S. 33ff. und 47f.] dass sie aus allen möglichen individuellen Rangordnungen in Bezug auf die 
zur Entscheidung stehenden Alternativen eine kollektive Rangordnung erzeugt 
(Bedingungen der "kollektiven Rationalität"  ). 
Hierin ist einmal die Bedingung 
des "unbeschränkten Bereichs der individuellen Präferenzen"   enthalten, da alle 
transitiven individuellen Präferenzrelationen zugelassen sein müssen. 
Zum andern 
ist darin die Bedingung enthalten, dass sich immer eine vollständige und 
transitive kollektive Präferenzrelation der Alternativen ergibt, wie es eine 
Rangordnung darstellt.
Weiterhin soll eine Alternative x gegenüber einer 
Alternative y dann kollektiv vorgezogen werden, wenn jedes Individuum x 
gegenüber y vorzieht (Bedingung des "schwachen Pareto- Prinzips"  ). [[24]
Zum Pareto-Prinzip s. u. § 70.] 
Außerdem soll die kollektive Entscheidung nur von den 
individuellen Präferenzordnungen in Bezug auf die tatsächlich zur Entscheidung 
stehenden Alternativen abhängen, also unabhängig von den individuellen 
Rangordnungen in Bezug auf sonstige Alternativen sein (Bedingung der "Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen"  ).
Als letzte Bedingung soll gelten, dass es kein Individuum 
geben darf, dessen Präferenzen automatisch die kollektiven Präferenzen bilden, 
unabhängig von den Präferenzen der übrigen Individuen (Bedingung der "Nicht-Diktatur"  ). {-157-}
ARROW hat in seinem 'Allgemeinen Möglichkeits-Theorem' nun 
bewiesen, dass es keine kollektive Entscheidungsregel geben kann, die alle diese 
Bedingungen gleichzeitig erfüllt. [[25] Zum formalen Beweis s. ARROW 1963, S. 98ff. oder SEN 
1970, S. 41ff.] 
So erfüllt z. B. Das Mehrheitsprinzip 
als kollektive Entscheidungsregel zwar die Bedingungen des "Unbeschränkten 
Bereichs", des "Schwachen Pareto-Prinzips", der "Unabhängigkeit von irrelevanten 
Alternativen"   und der "Nicht-Diktatur", aber es kommt bei manchen individuellen 
Präferenzordnungen zu zyklischen Mehrheiten und damit zu einer intransitiven 
kollektiven Rangordnung der Alternativen. [[26] S. u. §§ 132 und 136.] 
Das Pareto-Prinzip wiederum 
kann nicht immer eine Rangordnung erzeugen, da zwei Alternativen nach dem Pareto-Prinzip 
unvergleichbar sind, wenn die Individuen unterschiedliche Spitzenalternativen 
haben, so dass keine einstimmige Präferenz besteht. [[27] S. dazu u. § 70.] 
Ähnliche Probleme 
gibt es auch bei anderen Entscheidungsregeln und insofern handelt es sich 
tatsächlich um ein Allgemeines Möglichkeits-Theorem.
ARROWs Untersuchung hat in den normativen Disziplinen wie 
ein Paukenschlag gewirkt, natürlich vor allem in der völlig auf dem ordinalen 
Nutzenkonzept basierenden Paretianischen Wohlfahrtsökonomie. {-158-}
ARROWs Ergebnis stellte ja prinzipiell die Möglichkeit in 
Frage, durch Zusammenfassung der individuellen Interessen zu einem in sich 
konsistenten kollektiven Interesse zu gelangen. Ein solches negatives Ergebnis 
hätte natürlich auf jede Form normativer Wissenschaft, sei es normative 
Ökonomie, Politik oder Ethik, die schwerwiegendsten Folgen, insofern zwischen 
dem individuellen Willen und dem allgemeinen Willen oder Gemeinwohl ein 
grundsätzlicher Bruch bestehen würde.
Da am streng logisch durchgeführten Beweis der 
Unvereinbarkeit der genannten Bedingungen nicht zu rütteln ist, kann eine 
Überwindung dieses negativen Resultats nur durch eine Modifikation zumindest 
einer der von ARROW gemachten Voraussetzungen erreicht werden. 
Hierzu 
sind die verschiedensten Versuche unternommen worden, wobei sich die Bemühungen 
vor allem auf zwei Bedingungen, nämlich die der "Kollektiven Rationalität"   und 
der "Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen", konzentriert haben, denn 
dass eine kollektive Entscheidungsregel nicht-diktatorisch sein soll und 
entsprechend dem Pareto-Prinzip nicht gegen den einstimmigen Willen der 
Individuen entscheiden soll, erscheint unproblematisch.
Eine Möglichkeit zur Vermeidung des negativen Resultats hat 
SEN aufgezeigt, indem er die Bedingung der "Kollektiven Rationalität"   
dahingehend abschwächte, dass nicht mehr eine transitive kollektive Rangordnung 
der Alternativen verlangt wird, sondern nur noch gefordert wird, dass die 
Entscheidungsregel jeweils eine Alternative auswählt, die mindestens ebenso gut {-159-}ist wie irgendeine der anderen Alternativen. [[28]
ln der 
Terminologie von SEN heißt das, dass nicht mehr Transitivität der kollektiven 
Präferenzrelation verlangt wird, sondern nur noch Azyklizität. "Wenn x1 
gegenüber x2 vorgezogen wird, x2 gegenüber x3 und so weiter bis xn, dann verlangt 
Azyklizität, dass x1 als mindestens ebenso gut angesehen wird wie Xn. 
Dies 
ist offensichtlich eine viel schwächere Bedingung als Transitivität, die 
verlangen würde, dass für x1 gegenüber xn eine strikte Präferenz besteht. ... 
Wenn es ARROWs Ziel nur ist, sicherzustellen, dass 'für jede beliebige Umwelt 
eine gewählte Alternative existiert', dann kann dies garantiert werden, indem 
man nur noch Azyklizität der sozialen Präferenz fordert ohne Transitivität."   SEN 
1970, S. 47 f.]
Eine solche Reduzierung der Forderung nach "Kollektiver 
Rationalität"   auf Azyklizität ist jedoch nicht unproblematisch, wie SEN selber 
am Beispiel einer azyklischen Relation verdeutlicht. "Wäre es richtig, einen 
Entscheidungsprozess als 'rational' zu bezeichnen, wenn dieser entweder x oder z 
auswählen könnte, sofern es um eine Entscheidung zwischen diesen beiden geht, 
dass er aber speziell x auswählen müsste, wenn die Auswahl in Bezug auf die drei 
Alternativen x, y, z zu treffen wäre?"   [[29] SEN 1970, S. 50.] Damit werden ja in Bezug auf den 
Nutzen der beiden Alternativen x und z offensichtlich zwei verschiedene Maßstäbe 
angelegt, denn in der Teilmenge sind die Alternativen noch gleich gut, während in 
der Gesamtmenge die Alternative x plötzlich eindeutig besser ist als z. {-160-}
Andere Versuche zur Überwindung des 
Unmöglichkeits-Resultats konzentrierten sich auf denjenigen Teilaspekt der "Kollektiven Rationalität", der alle transitiven individuellen Rangordnungen der 
Alternativen für zulässig erklärt, also die Bedingung des "Unbeschränkten 
Bereichs". Ausgangspunkt hierfür war das Ergebnis von BLACK, der nachweisen 
konnte, dass das Mehrheitsprinzip immer dann zu transitiven kollektiven 
Präferenzen führt, wenn die individuellen Präferenzen eine Strukturähnlichkeit 
besitzen, die als "Eingipfligkeit"   bezeichnet wird. [[30] S. Dazu ausführlich u. § 111. In der Bedingung des "Unbeschränkten Bereichs"   und dem damit implizierten "individualistischen 
Ansatz"   sieht z. B. SCHLICHT das "schwarze Schaf"   unter den Bedingungen, das für 
das negative Resultat verantwortlich ist. S. SCHLICHT 1974, S. 273.]
Aber auch eine solche Verschärfung der Voraussetzungen in 
Bezug auf die individuellen Präferenzen erscheint wenig sinnvoll. Denn wenn man 
den Bereich zulässiger individueller Interessen beschränkt, so müsste man 
entweder nachweisen, dass individuelle Interessenkonstellationen außerhalb des 
zugelassenen Bereichs real nicht vorkommen können oder aber, dass derartige 
Interessen nicht dem qualifizierten Willen des Individuums entsprechen können. 
[[31] Zu den Qualifikationsbedingungen des individuellen 
Willens s. u. Kap. 10.] 
Beides ist bisher noch nicht versucht worden und hätte wohl auch kaum Aussicht 
auf Erfolg. 
Was sollte z. B. auch "unzulässig"   sein an folgender 
Interessenkonstellation der Individuen A, B und C? (Die Alternativen {-161-} sind dabei gemäß ihrer nutzenmäßigen Rangordnung unter das 
jeweilige Individuum geschrieben):
Präferenzordnungen
		
			 
		
			 
			
			 
			
			 
		
			 
		
			 
			
			 
			
			 
		
			 
		
			 
			
			 
			
			 
		
			 
	
			 
			
			 
			
			 
		
Wenn man jedoch tatsächlich existierende und qualifizierte 
Interessen von Individuen bei der Bestimmung des Gesamtinteresses 
unberücksichtigt lässt, so können die danach bestimmten Normen keinen Anspruch 
auf Allgemeingültigkeit erheben, da sie gegen das Solidaritätsgebot verstoßen 
und damit die Voraussetzungen eines gewaltfreien, argumentativen Konsens über 
diese Normen entfallen. Beide Versuche zur Überwindung des negativen Resultats 
von ARROW scheinen also in die falsche Richtung zu zielen.
Statt dessen ergibt sich aufgrund der zum Solidaritätsgebot 
führenden methodologischen Überlegungen, dass das eigentlich problematische 
Element in ARROWs Unmöglichkeits-Beweis die Beschränkung auf individuelle 
Präferenzordnungen und damit auf eine nur ordinale und interpersonal nicht vergleichbare 
Erfassung der individuellen Nutzen ist. [[32] Dies wurde von verschiedenen Autoren erkannt, was 
zu einer gewissen Wiederbelebung von Ansätzen führte, die eine kardinale und 
interpersonal vergleichbare Bestimmung der individuellen Nutzen 
versuchten. S. hierzu Kap. 8.] {-162-}
Die Nicht-Vergleichbarkeit und der 
Ordinalismus in Bezug 
auf die individuellen Nutzen ist beim Unmöglichkeits-Theorem einmal in der 
Bedingung der "Kollektiven Rationalität"   verankert, da hier nur von 
individuellen Rangordnungen der Alternativen ausgegangen wird. Zum andern spielt 
auch die Bedingung der "Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen"   eine 
Rolle, weil damit zusätzlich verlangt wird, dass die Interessen der Individuen 
nur durch ihre Präferenzen gegenüber den zur Entscheidung stehenden Alternativen bestimmt werden 
dürfen, dass darüber hinaus jedoch nicht zusätzlich die individuellen 
Präferenzen gegenüber weiteren hypothetischen Alternativen herangezogen werden 
dürfen. "Es ist nicht nur die Bedingung I ("  Unabhängigkeit von irrelevanten 
Alternativen", E. W.), die die Aggregierung individueller Nutzen ausschließt. Die 
Definition einer kollektiven Entscheidungsregel selber schließt dies aus, da 
eine kollektive Entscheidungsregel die soziale Rangordnung zu einer Funktion der 
Menge individueller Rangordnungen macht."   [[33] SEN 1970, S. 89]
ARROW schreibt zur Bedingung der "Unabhängigkeit von 
irrelevanten Alternativen " 1967 selber: "Ich habe jedoch heute das Gefühl, dass 
die Strenge, die durch diese Bedingung auferlegt wird, strikter als 
wünschenswert ist. In vielen Situationen haben wir Informationen über 
Präferenzen in Bezug auf nicht durchführbare Alternativen. ... Die potentielle {-163-}Nützlichkeit irrelevanter Alternativen besteht darin, dass 
sie empirisch sinnvolle interpersonale Vergleiche erlauben. Die Information, die 
uns zu behaupten gestattet, dass ein Individuum die Alternative x gegenüber der 
Alternative y stärker vorzieht als ein zweites Individuum y gegenüber x, muss 
auf Vergleichen der beiden Alternativen durch die zwei Individuen nicht allein 
im Verhältnis der Alternativen zueinander, sondern auch im Verhältnis zu 
weiteren Alternativen beruhen".[[34] ARROW 1967, S. 134ff.]
Wie es zu diesem Ausschluss der Berücksichtigung von 
Präferenzintensitäten und interpersonalen Nutzenvergleichen durch die Bedingung 
der "Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen"   kommt, wird durch SEN noch 
näher ausgeführt: 
"  Der Name 'Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen' ist 
etwas irreführend. Zwei Aspekte müssen dabei unterschieden werden. Zum einen 
wird die Bedingung I (Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, E. W.) 
verletzt, wenn in der sozialen Entscheidung in Bezug auf x und y die 
individuellen Rangplätze einer dritten Alternative, sagen wir z, im Verhältnis 
zu x oder y oder zu irgendeiner anderen Alternative zu einem relevanten Faktor 
mit Einfluss werden. Dies nennen wir den 'Irrelevanz'-Aspekt der Bedingung. 
Zum 
andern wird die so formulierte Bedingung verletzt, wenn in der sozialen 
Entscheidung zwischen x und y irgendetwas anderes als die individuellen Rangordnungen in Bezug auf x und y eine Rolle spielt, z. B. 
Präferenzintensitäten. {-164-} Dies können wir den 'Rangordnungs'-Aspekt der Bedingung 
nennen. Der 'Irrelevanz'-Aspekt ist nur ein Teil des 'Rangordnungs'-Aspekts. Da 
der Nutzenmaßstab durch die Bestimmung zweier Punkte auf der Skala festgelegt 
werden muss, (die die interpersonale Nutzeneinheit definieren, E. W.) fließen 
implizit oder explizit andere Alternativen in die Bewertung ein. Bei dem 
Versuch, zum Zwecke der sozialen Aggregation (der individuellen Nutzen, E. W.) zu 
einer interpersonalen Entsprechung zu kommen, muss in dieser Weise verfahren 
werden und dann verletzt jeder Gebrauch von Präferenzintensitäten nicht nur den 
'Rangordnungs'-Aspekt der Bedingung, sondern auch ihren 'Irrelevanz'-Aspekt."   
[[35] SEN 1970, S. 89ff.]
Interessanterweise deutet übrigens ARROW selber an, in 
welcher Richtung eine Überwindung des Unmöglichkeits-Theorems durch eine 
Einbeziehung "irrelevanter"   Alternativen erfolgen könnte. Er nennt diesen Ansatz "erweitertes Mitgefühl"   (extended sympathy). [[36] 
S. ARROW 1965,S. 114f. 
Die Einbeziehung des "erweiterten Mitgefühls"   in die Bestimmung der 
individuellen Nutzen von Alternativen hat übrigens eine enge Verwandtschaft mit 
dem vom Solidaritätsgebot geforderten "Sich-hinein-versetzen-in-den-andern", das 
weiter unten in §39/1 näher ausgeführt wird.] 
ARROW schreibt: "Wir 
scheinen bereit zu sein, Vergleiche der folgenden Art anzustellen: Handlung x 
ist besser (oder schlechter) für mich als Handlung y für dich ist. Dies ist wohl 
in der Tat das übliche Verfahren, nach dem Menschen Urteile über angemessene 
Einkommensverteilungen machen; wenn ich reicher bin als du, so mag mir das 
Urteil leicht fallen, dass es {-165-} für dich besser ist, den zusätzlichen Dollar zu erhalten, 
als für mich. - Wie ist dies vereinbar mit unserm allgemeinen Standpunkt, dass 
alle Werturteile zumindest hypothetische Entscheidungen zwischen alternativen 
Handlungen darstellen? Interpersonale Vergleiche vom Typus des erweiterten 
Mitgefühls können in eine operationale Form gebracht werden. Das Urteil nimmt 
dann die Form an: Es ist (nach meinem Urteil) besser, ich selber zu sein im Falle der Handlung x als du zu sein im Falle der 
Handlung y. ... Das Prinzip des erweiterten Mitgefühls scheint vielen 
Wohlfahrtsurteilen zugrunde zu liegen, die in der alltäglichen Praxis gemacht 
werden. Es bleibt abzuwarten, ob aus diesem und anderen akzeptablen Prinzipien 
eine Theorie der sozialen Entscheidung abgeleitet werden kann."   [[37] 
ARROW 1967, S. 135.]
Im Folgenden soll nun versucht werden, das kollektive 
Entscheidungs- bzw. Normsetzungsproblem auf der Basis interpersonal 
vergleichbarer Nutzenmessung anzugehen.
1. 
Nutzenmessung auf einer Intervallskala
Da der 
Nutzen einer Alternative in Bezug zum Status quo gleichbedeutend ist mit der 
Differenz zwischen dem Nutzenniveau im Status quo und dem Nutzenniveau bei 
Realisierung dieser Alternative, entspricht der Nutzen der Alternative dem 
Abstand zwischen dem Status-quo-Punkt und dem Punkt für die Alternative.
Wenn es allein darum geht, diejenige Alternative zu 
bestimmen, die für das Individuum die größte Erhöhung des Nutzenniveaus, d. h. 
den größten Nutzen mit sich bringt, spielt das absolute Nutzenniveau keine 
Rolle. Man kann deshalb den jeweiligen Status-quo-Punkt als Nullpunkt ansetzen 
und die Verschlechterung bzw. Verbesserung, die für das Individuum mit den zur 
Entscheidung anstehenden Alternativen verbunden ist, entsprechend ihrer "Größe"   
durch positive bzw. negative Zahlen ausdrücken. 
Eine solche kardinale Nutzenmessung setzt allerdings die Bestimmung einer 
Nutzeneinheit voraus, so dass der Nutzen jeder {-167-}Alternative durch eine 
abzählbare Anzahl von Nutzeneinheiten angegeben werden kann. [[38] Man 
unterscheidet in der Mathematik zwischen Kardinalzahlen und Ordinalzahlen. 
Während Kardinalzahlen Anzahlen angeben 
wie 10 Pferde, 3 Äpfel, 4 Meter usw., stellen Ordinalzahlen Platz- bzw. 
Rangnummern dar wie z. B. Das 10. Pferd, der 3. Apfel oder das viertgrößte Haus. 
Zum Problem der Nutzenmessung und der verschiedenen Messniveaus und Skalen s. 
GÄFGEN 1968, S. 144 ff.] 
Wenn sich eine solche Nutzeneinheit bestimmen lässt, so kann 
man den Nutzen der Alternativen w, x, y und z für ein Individuum A im Verhältnis 
zum Status quo (symbolisiert durch sq) folgendermaßen auf einer Achse abbilden:
Kardinale Nutzenskala des Individuums A
minus-10--9--8--7--6--5--4--3--2--1--0--1--2--3--4--5--6--7--8--9--10 
> plus
  
     
  
	 
    
	 
  
     
  
	 
    
	 
  
     
  
	 
    
	 
  
     
  
	 
    
	 
  
     
  
	 
    
	 
  
     
	 
    
	 
  
{-168-} Vom Messniveau her gesehen ist eine solche Nutzenskala eine 
Intervall-Skala. [[39] Zur Intervall-Skala vgl. auch GÄFGEN 1968, S.156f.] Auf ihr sind die Abstände bzw. 
die 
Intervalle zwischen verschiedenen Punkten messbar und damit vergleichbar. "Auf 
dieser Skala sind die Abstände zwischen den benachbarten (aufeinanderfolgenden) 
Skalenwerten konstant."   [[40] CLAUS/EBNER 1970, S. 23.] 
Im obigen Beispiel kann man z. B. angeben, ob der 
Abstand zwischen den Alternativen sq und x größer oder kleiner ist als der 
Abstand zwischen w und y. Man kann sogar angeben, in welchem Verhältnis zwei 
Intervalle stehen. Hier wäre das Intervall zwischen w und y doppelt so groß wie 
das Intervall zwischen sq und x.
Die hinreichenden Bedingungen für die Existenz einer 
Intervall-Skala kann man folgendermaßen formulieren: [[41] S. GÄFGEN 1968, S. 157 f.] 
Wenn der Abstand 
zwischen zwei beliebigen Punkten a1 und a2 auf der Skala genauso groß ist wie 
der Abstand zwischen zwei andern Punkten b1 und b2, und wenn außerdem der 
Abstand zwischen den Punkten a2 und a3 genauso groß ist wie der Abstand zwischen 
den Punkten b2 und b3, so muss auch der Abstand zwischen den Punkten a1 und a3 
genauso groß sein wie der Abstand zwischen den Punkten b1 und b3. 
Dies kann 
graphisch folgendermaßen veranschaulicht werden: {-169-}
<-|---------------------|-------------------|->
b1                   
b2                 
b3
<-|---------------------|-------------------|->
a1                                       a3
<-|---------------------|-------------------|->
b1                                       
b3
<-|---------------------|-------------------|->
 Abb.: 7.4
Eine solche Intervallskala kann übrigens ohne 
Informationsverlust in eine andere Intervall-Skala umgewandet werden, indem man 
jeden Messwert einheitlich mit einer beliebigen Zahl multipliziert (oder 
dividiert) und dann einheitlich eine beliebige Zahl zu jedem Wert hinzuaddiert 
(bzw. subtrahiert). [[42] Mathematisch ausgedrückt ist bei einer 
Intervall-Skala jede "lineare Transformation"   zulässig. Dies bedeutet, dass der 
Nullpunkt einer solchen Skala und die Einheit einer solchen Skala beliebig 
festgesetzt werden können.] So können z. B. die Temperatur-Skalen von CELSIUS 
und FAHRENHEIT ohne weiteres ineinander umgewandelt werden, da es sich bei ihnen 
um Intervall-Skalen handelt. Man erhält den FAHRENHEIT-Wert zu dem 
entsprechenden CELSIUS-Wert, indem man den letzteren mit 9 multipliziert und 
anschließend 32 Einheiten hinzuzählt. {-170-}
Wenn sich die individuellen Nutzen der zur Entscheidung 
stehenden Alternativen auf einer solchen Intervall-Skala messen lassen und wenn 
außerdem die Werte für die verschiedenen Individuen vergleichbar sind, so kann 
der Gesamtnutzen der verschiedenen Alternativen durch eine Addition der individuellen Nutzen ermittelt werden. Das Problem 
ist nun, wie sich eine solche Nutzen-Skala mit kardinal messbaren 
Nutzendifferenzen konstruieren lässt, wobei die Nutzeneinheiten für verschiedene 
Individuen miteinander vergleichbar sein sollen.
2. Die Wahl des Nullpunktes der Nutzen-Skala
Wie oben ausgeführt wurde, ist der Nutzen einer Alternative 
für ein Individuum gleichbedeutend mit den Veränderungen des Nutzenniveaus, die 
durch diese Alternative im Verhältnis zu einem Ausgangspunkt hervorgerufen 
werden. Auf der Nutzenskala werden also eigentlich Nutzenniveaus abgetragen. 
Wenn man nach derjenigen Alternative mit dem größten individuellen Nutzen sucht, 
so ist das gleichbedeutend mit der Suche nach derjenigen Alternative, bei der 
das höchste Nutzenniveau für das betreffende Individuum erreicht wird. Um diese 
Alternative zu bestimmen, muss jedoch nicht für alle Alternativen das absolute Nutzenniveau bestimmt werden. Es genügt, wenn man die 
Nutzenniveaudifferenzen aller Alternativen zu einem gemeinsamen Bezugspunkt 
bestimmt, indem man einen beliebigen Punkt - z. B. den Status quo - als 
Nullpunkt wählt und die Nutzenniveau-Differenzen aller Alternativen zu diesem 
Nullpunkt bestimmt. {-171-}
Wenn man nun diejenige Alternative sucht, die den größten 
Gesamtnutzen besitzt, so müssen die individuellen Nutzen jeder Alternative 
zusammengezählt werden. 
Genau genommen wäre es nun sinnvoll, ein bestimmtes 
Nutzenniveau für alle Individuen als gemeinsamen Nullpunkt zu setzen, z. B. Das 
Nutzenniveau des Individuums A im Status quo, um dann für jedes Individuum und 
jede Alternative zu messen, wie groß die Nutzendifferenz zu diesem Nutzenniveau 
ist. Man kann jedoch auch ohne Einfluss auf das gesuchte Ergebnis für jedes 
Individuum den Nullpunkt auf einem unterschiedlichen Nutzenniveau festsetzen, z. 
B. als Nullpunkt für jedes Individuum dasjenige Nutzenniveau festzusetzen, das von ihm im Status quo erreicht wird.
Wenn man den Nullpunkt der Nutzenmessung bei einem 
Individuum verändert, so hat das keinen Einfluss auf die Nutzendifferenzen 
zwischen den Alternativen, da diese unverändert bleiben. Wenn man z. B. bei 
einem bestimmten Nullpunkt für ein Individuum die kardinalen Nutzenwerte 106, 
109, 132 und 177 erhält, so ändert sich an den Nutzendifferenzen nichts, wenn 
man den Nullpunkt der Nutzenmessung um 100 Nutzeneinheiten heraufsetzt. Man 
erhält dann die Nutzenwerte 6, 9, 32 und 77. Der Vorteil bei einer solchen 
Verschiebung des Nullpunktes ist die dadurch erzielte Vereinfachung der 
Rechnung. Im folgenden wird deshalb jeweils das Nutzenniveau, das ein Individuum 
im Status quo erreicht, als Nullpunkt für die Messung des individuellen Nutzens 
genommen. Diejenige Alternative, die die größte Summe der individuellen Nutzen 
erreicht, ist dann die Alternative mit dem größten Gesamtnutzen.{-172-}
Wie bereits oben ausgeführt wurde, ist bei einer 
Intervall-Skala die Wahl des Nullpunktes und die Wahl der Maßeinheit beliebig, 
denn jede Intervall-Skala kann durch die Multiplikation der Werte mit einer 
Konstanten und durch die Addition mit einer weiteren Konstanten in eine andere 
Intervall-Skala mit anderem Nullpunkt und anderer Maßeinheit linear 
transformiert werden. Man kann z. B. die Differenz zwischen zwei beliebigen 
Nutzenniveaus eines Individuums als Maßeinheit des Nutzens heranziehen. In dem 
obigen Beispiel von Abb. 7.2 wurde als Nutzeneinheit die Differenz genommen 
zwischen dem Nutzenniveau, das Individuum A im Status quo erreicht, und dem 
Nutzenniveau, das A bei der Alternative x erreicht. Da das individuelle 
Nutzenniveau im Status quo verabredungsgemäß gleich Null gesetzt wird, muss die 
Alternative x dann einen Nutzen von 1 Nutzeneinheit besitzen. 
Der kardinale Nutzen einer beliebigen Alternative x für ein beliebiges Individuum 
A wird 
jetzt bestimmt, indem man fragt: Das Wievielfache dieser Nutzeneinheit 
ist gleich der Differenz ist zwischen dem Nutzenniveau von A bei der Alternative 
x und dem Nutzenniveau von A im 
Status quo? {-173-}
Wenn der Gesamtnutzen einer Alternative als die Summe der 
individuellen Nutzen dieser Alternative konstruiert werden soll, so ergeben sich 
daraus für die Nutzenmessung bestimmte Voraussetzungen. Bei einer Addition der 
individuellen Nutzen werden sämtliche positiven und negativen Nutzeneinheiten 
für eine Alternative zusammengezählt, wobei es keine Rolle spielt, von welchem 
Individuum wie viele Nutzeneinheiten stammen. Wenn z. B. eine Alternative für ein 
Individuum einen Wert von + 5 Nutzeneinheiten hat, so fällt dies bei einer 
Addition genauso ins Gewicht, als wenn diese Alternative für 5 andere Individuen 
den Wert von +1 Nutzeneinheit besitzt. Allgemeiner ausgedrückt ergibt sich aus 
der additiven Konstruktion des Gesamtnutzens folgende Vorschrift für die 
Nutzenmessung: "Wenn der Nutzen einer Alternative für 1 Individuum n 
Nutzeneinheiten beträgt, so muss dieser Nutzen genauso stark ins Gewicht fallen, 
als ob n Individuen bei einer Alternative einen Nutzen von 1 Nutzeneinheit 
haben." 
Entsprechend dieser additiven Zusammenfassung der 
individuellen Nutzen zu einem Gesamtnutzen sind nun den einzelnen Alternativen 
individuelle Nutzwerte zuzuordnen. Wenn man also bestimmen will, wie groß der 
Nutzwert einer bestimmten Alternative x für ein bestimmtes Individuum B ist, so 
muss man sich die Frage vorlegen: "Bei wie vielen Individuen muss eine 
Veränderung der Nutzenniveaus um eine Nutzeneinheit erfolgen, um gleichgewichtig 
zu sein mit der Veränderung des Nutzenniveaus, die beim {-174-} Individuum B durch die Alternative x erfolgt?"   Entsprechend 
dieser Fragestellung müssen allen Alternativen, die zur Entscheidung stehen, 
individuelle Nutzwerte zugeordnet werden. [[43] Damit ist auch ARROWS Einwand gegen die Konstruktion des 
Gesamtnutzens als Summe der individuellen Nutzen entkräftet. ARROW hatte 
eingewandt, dass man - statt einer Summierung -ja ebenso gut eine Quadrierung oder 
Multiplikation der individuellen Nutzen fordern könne, um den Gesamtnutzen zu 
erhalten. Die additive Konstruktion des Gesamtnutzens geht demgegenüber hier 
bereits in die Art der Nutzenmessung ein. Vgl. ARROW 1963, S. 9.] 
Mit dieser Formulierung ist vorerst nur festgelegt, welche 
Frage bei der Messung der individuellen Nutzen der Alternativen gestellt werden 
muss. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, wie diese Frage beantwortet werden 
kann. Dies setzt ja voraus, dass man den Nutzen verschiedener Individuen 
gegeneinander "abwägen"   kann. Wie ist ein solcher intersubjektiver 
Nutzenvergleich möglich? Wie ist ein argumentativer Konsens möglich über 
Behauptungen wie: "Der Nutzen der Alternative x für das Individuum B beträgt 3 
Nutzeneinheiten, d. h. er wiegt genauso schwer, als ob 3 Individuen einen Nutzen 
von 1 Nutzeneinheit haben?"   Wie kann man sich argumentativ darüber einigen, 
dass der Nutzen der Alternative x für B dreimal so groß ist wie für A? {-175-}
1. Interpersonaler Nutzenvergleich durch "Sich-hineinversetzen 
in die Lage des andern"  
Gesucht wird nach Kriterien für die Gültigkeit von 
Behauptungen wie: "Der Nutzen der Alternative x für Individuum A ist genauso 
groß wie der Nutzen der Alternative y für das Individuum B"   oder "Der Nutzen der 
Alternative x für das Individuum A ist dreimal so groß wie der Nutzen der 
Alternative y für das Individuum C". Wie ist ein Konsens über die relative 
Gewichtigkeit der Interessen verschiedener Individuen möglich? 
Vorweg sei festgestellt, dass sich die folgenden 
Ausführungen zum interpersonalen Nutzenvergleich auf die prinzipielle Lösbarkeit 
dieser Problematik unter dem Gesichtspunkt des Solidaritätsprinzips beziehen. Sie 
können noch kein praktikables Verfahren der Nutzenmessung darstellen. Sie geben 
jedoch einen Maßstab ab, an dem später verschiedene konkrete Verfahren der 
Interessenermittlung und -aggregation kritisch beurteilt werden können.
Dabei ist festzuhalten, dass gemäß dem Solidaritätsprinzip 
der individuelle Nutzen einer Alternative für ein bestimmtes Individuum nicht 
nur durch dieses Individuum selber, sondern im Prinzip durch alle Individuen bestimmbar 
sein muss. Denn wenn jeder die Interessen des andern wie 
seine eigenen berücksichtigen soll, so muss er sie auch kennen können. Über den 
individuellen Nutzen einer Alternative für ein Individuum müssen {-176-} also prinzipiell alle Individuen befinden können und nicht 
nur das betroffene Individuum selber.
Es handelt sich zwar um einen individuellen Nutzen in dem 
Sinne, dass es der Nutzen für ein bestimmtes Individuum ist; dieser Nutzen muss 
aber nicht in dem Sinne "individuell"   sein, dass er nur rein subjektiv bestimmt 
werden kann. Es bedarf also zur Anwendung des Solidaritätsprinzips eines 
Verfahrens, mit dem verschiedene Individuen in Bezug auf den Nutzen der zur 
Entscheidung stehenden Alternativen für die einzelnen Individuen zu gleichen 
Ergebnissen kommen können. Die Nutzenwerte müssen intersubjektiv 
nachvollziehbar sein, um als Daten in die Bestimmung des Gesamtnutzens eingehen 
zu können, ähnlich wie die individuellen Wahrnehmungen in den 
Erfahrungswissenschaften. 
Wie oben ausgeführt wurde, bedeutet der individuelle Nutzen 
einer Alternative die Steigerung oder Senkung des Nutzenniveaus des betreffenden 
Individuums, die durch die Realisierung der Alternative gegenüber dem Status quo 
bewirkt wird. Damit erhebt sich die grundsätzliche Frage, wie man überhaupt das 
Nutzenniveau eines andern Individuums kennen kann. Die Antwort, die hier erstmal 
ganz allgemein gegeben wird und die im Folgenden ausgeführt werden soll, lautet: 
Ein Individuum kann das Nutzenniveau eines andern Individuums kennenlernen, indem es sich in die Lage dieses Individuums hineinversetzt. [[44]
Zum Folgenden s. HARSANYI 1955, S. 278f.] {-177-}
Die "Lage"   eines Individuums, durch die sein Nutzenniveau 
bestimmt wird, ergibt sich zum einen aus den äußeren Lebensbedingungen des Individuums. Diese äußeren Lebensbedingungen lassen sich durch 
eine empirische Beschreibung erfassen wie andere Tatbestände auch. Man kann z. 
B. mit Methoden der empirischen Wissenschaft bestimmen, wie viel Geld jemand zur 
Verfügung hat, welche Lebensmittel und sonstigen Konsumgüter er gebraucht oder 
verbraucht, wie lange jemand arbeitet und wie seine Arbeit beschaffen ist, 
wie viel Freizeit er hat und wie er sie verbringt, wie groß seine Wohnung ist, 
welche Kontakte er zu andern Menschen hat usw. usw. Die äußeren Tatbestände, von 
denen das Wohlergehen eines Menschen abhängt, sind also im Prinzip durch 
empirische Forschung erfassbar und werfen keine größeren Probleme auf als andere 
empirische Fragestellungen. [[45] Solche für das Wohlergehen bzw. die Lebensqualität 
der Individuen relevanten Tatbestände können durch entsprechend konstruierte 
soziale Indikatorensysteme auch im gesamtgesellschaftlichen Maßstab erfasst 
werden und damit die Informationsbasis für Schätzungen des Nutzenniveaus 
verschiedener Bevölkerungsgruppen verbessern. S. dazu z. B. WERNER 1975.]
Das Nutzenniveau eines Individuums wird jedoch durch die 
äußeren Lebensumstände keineswegs vollständig bestimmt. Auch die persönlichen Eigenschaften spielen eine Rolle wie z. B. körperliche 
Konstitution, Gesundheit, Fähigkeiten oder Belastbarkeiten. Zum Einbezug dieser 
persönlichen Eigenschaften schreibt ARROW: "In dieser Form (des intersubjektiven 
Nutzenvergleichs aufgrund 'erweiterten Mitgefühls', E. W.) werden die 
Eigenschaften, die ein Individuum ausmachen, in den Vergleich einbezogen. {-178-}
In der Tat werden diese Eigenschaften gleichgesetzt mit 
den Dingen, die man gewöhnlich als konstitutiv für jemandes Reichtum ansieht. 
Der Besitz von Werkzeugen wird gewöhnlich als Teil des sozialen Status 
angesehen, warum nicht der Besitz der Fertigkeit, diese Werkzeuge zu benutzen 
und die Intelligenz, die hinter diesen Fertigkeiten steht? Individuen, die 
wechselseitig ihr Wohlergehen einschätzen, berücksichtigen nicht nur materielle 
Besitztümer, sondern begehren auch 'des einen Weitblick und des andern 
Kunstfertigkeit' ". [[46] S. ARROW 1963, S. 115.] 
Wenn jemand z. B. körperlich beeinträchtigt ist durch 
Blindheit oder Verkrüppelung, so sind auch dies Lebensbedingungen, die sein 
Nutzenniveau beeinträchtigen, und zwar oft stärker als eine schlechte 
Ausstattung mit äußeren Gütern es tut. Man spricht hier auch viel eher von einem "harten Los"   oder einem "schweren Schicksal".
Aber auch die äußeren Lebensumstände und die persönlichen 
Eigenschaften zusammen ermöglichen noch nicht den Schluss auf das Nutzenniveau 
eines Individuums. Hinzu kommen muss noch die eigentliche Bedürfnisstruktur des Individuums. Das Nutzenniveau eines andern Individuums ist zu 
bestimmen "unter Berücksichtigung nicht nur seiner objektiven sozialen (und 
ökonomischen) Lebensbedingungen, sondern auch seiner subjektiven Einstellungen 
und Vorlieben. In anderen Worten soll man {-179-} das Nutzenniveau in der Lage eines andern Individuums nicht 
entsprechend den eigenen Einstellungen und Vorlieben beurteilen sondern vielmehr 
entsprechend den Einstellungen und Vorlieben desjenigen Individuums, das 
tatsächlich diese Position einnimmt."   [[47] HARSANYI 1955, S. 277.]
Nur sofern man davon ausgehen 
kann, dass die eigene Bedürfnisstruktur mit der des andern übereinstimmt, 
braucht diese Unterscheidung nicht gemacht zu werden. Auf vielen Gebieten ist 
dies sicherlich der Fall, denn verschiedene Individuen gleichen sich bei einer 
Angleichung ihrer äußeren und persönlichen Lebensbedingungen auch in ihren 
Interessen an, wie z. B. durch das Entstehen interessenmäßig relativ homogener 
sozialer Gruppen aufgrund ihrer ähnlichen sozialen Lage deutlich wird. 
Andererseits ist dieser "Schluss von sich auf andere"   nicht immer zulässig, wie 
an einem alltäglichen Beispiel veranschaulicht werden kann: Man kann zwei 
Individuen in den gleichen Lebensumständen das gleiche Essen vorsetzen, z. B. 
Austern, aber dem einen schmeckt es vielleicht vorzüglich, während der andere es 
überhaupt nicht mag. Auch auf andern Gebieten gibt es solche individuellen 
Besonderheiten der Bedürfnisstruktur, gibt es die Ausbildung individuell 
spezifischer Vorlieben und Abneigungen, die sich nur aus der individuellen 
Lebensgeschichte oder gar genetischen Unterschieden erklären lassen. Bei diesem 
dritten Bestandteil der "Lage"   eines Individuums, bei den Vorlieben und 
Abneigungen, die seine eigentliche Bedürfnisstruktur ausmachen, liegt die eigentliche {-180-} Schwierigkeit des interpersonalen Nutzenvergleichs, 
denn über die äußeren und persönlichen Lebensbedingungen lässt sich durch rein 
empirische Argumentation ein Konsens herstellen.
Um die Interessen anderer Menschen nachvollziehen zu 
kennen, ist es erforderlich, "sich in deren Lage hineinzuversetzen". Dies kann 
wenigstens in Bezug auf die äußeren und persönlichen Lebensbedingungen unter 
Umständen sogar real erfolgen. So kann man sich wenigstens annäherungsweise 
dadurch in die Lage eines andern Individuums mit einem geringeren Einkommen 
versetzen, dass man einmal versucht, mit einem solchen Einkommen auszukommen.
Oft ist eine solche tatsächliche Angleichung der eigenen 
Lage an die Lage des zu beurteilenden Individuums jedoch nicht möglich. So kann 
sich z. B. ein Weißer nicht tatsächlich in die Lage eines Schwarzen versetzen 
und ein Mann kann sich nicht tatsächlich in die Lage einer Frau versetzen. In 
andern Fällen erscheint eine solche faktische Angleichung der eigenen Lage an 
die Lage des betreffenden Individuums zwar prinzipiell möglich, aber wegen des 
Ausmaßes der damit verbundenen Nachteile ausgeschlossen. So wird sich kein 
Sehender das Augenlicht nehmen wollen, um sich in die Lage eines Blinden 
hineinzuversetzen und dessen Nutzenniveau beurteilen zu können. 
In solchen Fällen wird man sich nur vorstellungsmäßig in die Lage des andern hineinversetzen können, d. h. man stellt sich 
vor, wie man {-181-} empfinden würde, wenn die eigene Lage so wie die des andern 
beschaffen wäre. Nicht zufällig spielt dieses vorstellungsmäßige "Sich-hineinversetzen-in-die-Lage-des-andern"   
bei alltäglichen Auseinandersetzungen um Verhaltensnormen eine wichtige Rolle. 
Der Appell: "Versetz' dich doch einmal in meine Lage!"   wird von einem Individuum 
immer dann erhoben, wenn es sich in seinen Interessen falsch oder nicht genügend 
berücksichtigt fühlt. Die Rücksichtnahme auf fremde Interessen setzt deren 
Kenntnis und damit die Fähigkeit zur "Anteilnahme"   oder "Identifikation"   mit dem andern voraus.
Diese Fähigkeit zum Mit-Empfinden bzw. Nach-Empfinden 
fremder Interessen ist übrigens nicht bei jedem Individuum bereits fertig 
vorhanden, sondern bedarf der Förderung durch Erziehung. Ohne die 
Entwicklung der Fähigkeit, andere Menschen in der Art und Stärke ihrer 
Bedürfnisse und Wünsche "zu verstehen", bleibt das moralische Handeln und 
Erkennen orientierungslos, denn man weiß nicht, was das eigene Handeln und seine 
Folgen für die andern Individuen "bedeutet". HARE schreibt zur Notwendigkeit 
dieser Vorstellungskraft für das Verständnis fremder Interessen: "Er (B, E. W.) 
muss bereit sein, A's Neigungen und Interessen mit demselben Gewicht zu versehen 
als wären es seine eigenen ... Psychologisch gesehen ist dies für B sehr viel 
leichter, wenn er selber tatsächlich gegenüber jemand anderem in eine ähnliche 
Situation gerät wie A. Aber dies ist nicht notwendig, vorausgesetzt dass er 
genügend Phantasie besitzt, um sich zu vergegenwärtigen, was es bedeutet, A zu 
sein. .. In normalen Fällen ist meist eine gewisse Vorstellungskraft {-182-} sowie die Bereitschaft, sie anzuwenden, ein 
notwendiger Bestandteil in moralischen Argumentationen."   [[48]HARE 1963, S. 94.]
Der Kinderspruch: "Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es 
fühlt wie du den Schmerz!"   gibt ein Beispiel für das Lehren dieser Fähigkeit, 
sich vorstellungsmäßig in die Lage anderer hineinzuversetzen. Oder wenn ein Kind 
dem andern schmerzhaft an den Haaren reißt, wird man ihm vielleicht 
entgegenhalten: "Soll ich dir auch einmal so an den Haaren reißen, damit du 
spürst, wie weh das tut?"   Man hilft damit gewissermaßen der Vorstellungskraft 
des Kindes nach und zwingt es, sich die Lage des anderen zu vergegenwärtigen. 
[[49] Vielleicht steckt auch in dem alten Prinzip "Auge um 
Auge", Zahn um Zahn"   des Hammurabi diese erzieherische Absicht, den Täter 
nachempfinden zu lassen, was er dem andern angetan hat.]
Die Vergegenwärtigung der Interessenlage anderer Individuen 
wird oft dadurch erleichtert, dass man sich früher einmal in einer ähnlichen 
Lage befunden hat, so dass man mit Hilfe der Erinnerung auf vergangene eigene "Erfahrungen"   zurückgreifen kann. [[50] Hier wird der Begriff "Erfahrung"   im weiteren Sinne 
gebraucht, also nicht eingeschränkt auf die Wahrnehmung der äußeren Welt mit 
Hilfe der Sinnesorgane wie beim Erfahrungsbegriff der empirischen 
Wissenschaften, "Erfahrung"   in diesem weiteren Sinne schließt also auch das 
Bewerten und das E r l e b e n der Dinge als angenehm, schön etc. ein, also 
gewissermaßen die Beziehung der Dinge zum empfindenden und wollenden Subjekt. 
Der Unterschied kann an einem einfachen Beispiel veranschaulicht werden: Man mag 
chemisch-physikalisch alles über Alkohol wissen, seine Zusammensetzung, 
Herstellung, Wirkung auf andere Stoffe, Verhalten unter verschiedensten 
Bedingungen usw. Trotzdem ist in diesen Erkenntnissen der empirischen 
Wissenschaft noch nicht die "Erfahrung"   enthalten, die der Genuss von Alkohol 
vermittelt. {-183-}
Allerdings können diese Erfahrungen in der Erinnerung 
verblassen und undeutlich werden, so dass es erst einer Anstrengung bedarf, um 
sie wieder nachvollziehen zu können. Es heißt dann vielleicht gegenüber 
jemandem, der die Interessen anderer Individuen nicht genügend berücksichtigt: "Du hast wohl vergessen, wie dir damals zumute war, als du dich in einer 
ähnlichen Lage befunden hast!"  
Wo die eigenen gegenwärtigen oder vergangenen Erfahrungen 
nicht identisch sind mit denen des zu beurteilenden Individuums, lässt sich oft 
trotzdem über vergleichbare Erfahrungen eine Vorstellung von der Lage des andern 
gewinnen. So kann man die Interessenlage eines Schwarzen, der wegen seiner 
Hautfarbe diskriminiert wird, annähernd nachvollziehen, wenn man selber einmal - 
wenn auch aus anderen Gründen - unter Diskriminierung zu leiden hatte, etwa 
wegen eines Dialekts, wegen der sozialen Herkunft der Eltern oder wegen 
Besonderheiten des eigenen Aussehens. 
In vielen Fällen werden sich solche analogen Erfahrungen finden lassen, die 
einem eine annähernde Vorstellung von der Interessenlage des andern vermitteln 
können. Wenn ein anderes Individuum z. B. eine bestimmte Tätigkeit nur sehr 
ungern ausführt, die einem selber jedoch angenehm ist, so kann man dessen 
Interessenlage trotzdem dadurch annähernd nachvollziehen, dass man sich 
vorstellt, man müsse eine bestimmte Tätigkeit ausführen, die einem selber 
ähnlich unangenehm ist. {-184-}
Selbst wenn man selber sich nur schwer in die Lage eines 
andern Individuums hineinversetzen kann, weil diese den eigenen 
Lebenserfahrungen sehr fern ist, so ist man trotzdem nicht nur auf die 
Äußerungen des zu beurteilenden Individuums angewiesen. Gewöhnlich existieren 
immer noch weitere Individuen, deren Interessenlage so ähnlich ist - oder 
zumindest so ähnlich war - wie die des zu beurteilenden Individuums. Diese 
Individuen können die zu bestimmende. Interessenlage ebenfalls darstellen und 
sofern sich hier relevante Unterschiede ergeben, muss das betreffende Individuum 
begründen können, warum etwa seine Interessen gewichtiger sind als die von 
anderen Individuen in vergleichbarer Lage. Aus dieser Hinzuziehung von 
Individuen mit ähnlichen Erfahrungen ergibt sich eine zusätzliche 
Informationsbasis und Kontrolle für die Einschätzung des Nutzenniveaus von 
Individuen. 
Wenn die Bedürfnisstruktur der Individuen auf bestimmten 
Gebieten insofern gleichartig ist, dass alle Individuen unter gleichen 
Lebensbedingungen auch gleiche Interessen entwickeln, so vereinfacht sich das 
Problem der Nutzenmessung erheblich. Die Individuen müssen dann nur Einigkeit 
über die Beschaffenheit der Lebensbedingungen des jeweiligen Individuums 
erzielen und sich diese mit der Vorstellung, dass sie sich selber in diesen 
Bedingungen befinden, voll vergegenwärtigen, um zu einer einheitlichen 
Beurteilung des Nutzenniveaus des betreffenden Individuums zu gelangen. {-185-}
Die Tatsache, dass man sich gewöhnlich nur vorstellungsmäßig in die Lage eines andern Individuums hineinversetzen kann und auf der Basis solcher Vorstellungen entscheiden muss, 
ist übrigens kein spezifisches Problem des intersubjektiven Nutzenvergleichs. 
Auch ein Individuum, das in einer Entscheidungssituation den individuellen 
Nutzen verschiedener Alternativen bestimmen muss, kann dies immer nur 
vorstellungsmäßig tun. Denn die Alternativen stellen ja - abgesehen vom Status 
quo - immer nur Möglichkeiten dar und sind nicht bereits 
Realität. Auch die Konsequenzen von Alternativen, die in der Zukunft liegen, 
können vom Individuum nur in der Vorstellung bewertet werden, da sie ja noch 
nicht eingetreten sind. 
Die Frage: "Wie würde ich es finden, wenn ich eine Woche 
mehr Urlaub hätte?"   ist insofern gar nicht mehr so sehr verschieden von der beim 
interpersonalen Nutzenvergleich zu beantwortenden Frage: "Wie würde Individuum A 
es finden, wenn es eine Woche mehr Urlaub hätte?"   In beiden Fällen erfordert die 
Beantwortung der Frage das vorstellungsmäßige Sich-Hinein-Versetzen in bloß 
angenommene Situationen und deren Bewertung. Allerdings muss man sich im 
letzteren Fall nicht nur in eine andere Situation hineinversetzen als die 
gegenwärtige, sondern zusätzlich in eine andere Person. 
Aber wenn man zukünftige 
Entwicklungen und Konsequenzen der zur Entscheidung stehenden Alternativen von 
den eigenen Interessen her bewerten soll, so stellt sich auch hier ein ähnliches 
Problem wie beim interpersonalen Nutzenvergleich, weil man in gewisser {-186-} Weise im Laufe der Zeit selber "ein anderer Mensch"   werden 
kann und man deshalb nicht ohne weiteres die gegenwärtige Bedürfnisstruktur zur 
Bewertung von Zuständen heranziehen kann, die in der Zukunft liegen. [[51] Zum Problem des intertemporalen Nutzenvergleichs 
ein und desselben Individuums vgl. HARSANYI 1953/54 sowie unten § 59.] 
Wenn man nicht gegenwärtig real erfahrene Zustände, sondern 
nur vorgestellte Zustände bewertet, so kann es allerdings vorkommen, dass man 
rein informationsmäßig vielleicht die Beschaffenheit dieser Situation kennt, 
dass man sich diese Situation aber nicht hinreichend realistisch und 
eindringlich vorstellen kann und folglich zu problematischen Bewertungen kommt. 
Man "weiß"   vielleicht , dass ein Atomkrieg Hunderte Millionen von Toten kosten 
kann, aber diese Zahl "übersteigt unsere Vorstellungskraft", wie man richtig 
sagt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von "unvorstellbarem Grauen", um 
die Problematik der Erfassung solcher Zustände in der Vorstellung deutlich zu 
machen. 
BRANDT formuliert die Lebendigkeit der Vorstellung als eine Bedingung jeder qualifizierten individuellen 
Entscheidung, wobei dies Kriterium ohne weiteres auf das Problem des 
intersubjektiven Nutzenvergleichs übertragbar ist: "Manchmal wissen wir 
gewissermaßen alle für eine Entscheidung relevanten Vor- und Nachteile, aber wir 
haben sie nicht alle vor unserm Bewusstsein. Manchmal fühlen {-187-} wir uns zu einer bestimmten Alternative hingezogen, 
wenn wir an einen bestimmten Aspekt davon denken; wenn wir an einen anderen 
Aspekt denken, fühlen wir uns abgestoßen. Damit stellt sich die Frage: Was 
würden wir vorziehen, wenn wir alle relevanten Aspekte mit voller Lebendigkeit 
vor unser Bewusstsein treten lassen würden - so lebendig, als ob wir tatsächlich 
alle wahrnehmen könnten?"   [[52] BRANDT 1966, S. 264.]
2. Interpersonaler Nutzenvergleich und Introspektion
Wenn man die Annahme identischer Bedürfnisstrukturen nicht 
rechtfertigen kann, so reichen die Kenntnisse der Lebensbedingungen des andern 
Individuums nicht aus, um durch einen "Schluss von sich auf andere"   deren 
Interessenlage zu bestimmen. Man kann dann versuchen, aus den Verhaltensweisen 
und Äußerungen des betreffenden Individuums seine Interessenlage zu erfassen. 
Vor allem die sprachliche Beschreibung dieser Interessen durch das betreffende 
Individuum bietet hier eine Möglichkeit. 
Ähnlich wie es hochentwickelte und 
differenzierte Sprachmittel gibt, um sich mit anderen Individuen über die 
subjektiven Wahrnehmungen der äußeren Welt zu verständigen, so gibt es auch 
sprachliche Mittel, um sich über "innere"   Erfahrungen, über Gefühle, 
Empfindungen, Willensregungen, Wünsche, Abneigungen, Einstellungen, Motive etc. 
zu verständigen. Die Alltagskommunikation ist voll von Äußerungen wie: "Das 
gefällt mir", "Das finde ich abstoßend", "Das macht mir Spaß", "Das schmeckt mir 
ausgezeichnet", "Das wünsche ich sehr dringend", "Davor habe ich große Angst", "Das lehne ich entschieden ab", "Das ist mir egal"   usw. {-188-}
Vor allem in der belletristischen Literatur ist ein 
hoch differenziertes sprachliches Instrumentarium entwickelt worden, um z. B. 
über innere Monologe solche inneren Erfahrungen und Erlebnisse mitzuteilen und 
damit andern Individuen den Nachvollzug einer fremden Lebenslage auch in ihren 
inneren, nicht direkt beobachtbaren Dimensionen zu ermöglichen. Es erscheint 
also im Prinzip als möglich, an Freude und Leiden anderer Individuen 
teilzunehmen und damit auch ihre Interessenlage kennenzulernen und sich 
wechselseitig über die eigene Interessenlage zu "verständigen". [[53] In diesem Zusammenhang ist die Doppelbedeutung des 
Ausdrucks "Verständigung"   in der deutschen Sprache interessant, der ja sowohl "Einigung über den Sinn von Äußerungen"   bedeutet als auch "Einigung über 
Normen."   ]
Diese Verständigung ist möglich, obwohl sich die 
Interessenlage eines andern Individuums in inneren Erfahrungen darstellt, 
die im Prinzip nur dem betreffenden Individuum zugänglich sind. Einen Schmerz 
kann niemand sonst fühlen als das Individuum, das ihn hat. Aber daraus kann 
nicht der Schluss gezogen werden, dass solche nur introspektiv zugänglichen Phänomene nicht berücksichtigt zu werden brauchen. Denn dadurch, dass eine 
Empfindung z. B. rein subjektiv ist, wird sie ja nicht weniger wirklich. Zwar 
werfen solche introspektiv gewonnenen Tatbestände bestimmte Probleme auf, z. B. 
durch die Möglichkeit unaufrichtiger Äußerungen, aber man kann deshalb nicht 
einen großen Bereich menschlicher Welterfahrung einfach ignorieren. Die 
Subjektivität von Erfahrungen stört solange nicht den Aufbau eines 
allgemeingültigen Wissens, wie diese Erfahrungen intersubjektiv nachvollziehbar 
sind. {-189-} 
Wenn man das Verbot introspektiv gewonnener Erfahrungen 
konsequent anwendet, so müssten auch solche Äußerungen wie "Ich sehe eine rote 
Flamme"   oder "Ich sehe, dass der Zeiger auf 10 Volt steht"   eliminiert werden, 
wodurch auch die intersubjektive Basis der empirischen Wissenschaften 
erschüttert wäre. Denn genausowenig, wie ich empirisch wissen kann, ob jemand 
anders tatsächlich Schmerz empfindet, kann ich wissen, ob jemand anders 
tatsächlich rot sieht. 
Die Tatsache, dass es überhaupt Worte wie "rot"   oder "schmerzhaft"   gibt, und dass sie von verschiedenen Individuen einheitlich 
gebraucht und verstanden werden, lässt darauf schließen, dass es Entsprechungen 
zwischen den Wahrnehmungen der äußeren Welt durch die verschiedenen Individuen 
gibt, ebenso wie es auch eine Entsprechung zwischen den inneren Erfahrungen, den 
Gefühlen, Bedürfnissen und Willensregungen gibt. Diese Entsprechung ist die Basis für einen intersubjektiven Konsens auch über nur von den inneren Sensorien jedes Menschen wahrnehmbare Vorgänge.
Wenn ein Kind z. B. lernt, das Gefühl, das auftritt, wenn 
es mit einem sehr heißen Gegenstand in Berührung kommt, als "Schmerz"   zu 
bezeichnen, so kann es schließlich das Gefühl auch dann benennen, wenn es in 
einem andern Zusammenhang ebenfalls auftritt, z. B. wenn es sich den Finger 
einklemmt. Im Verlauf der sprachlichen Entwicklung kann dann auch die Art {-190-} und die Intensität eines Schmerzes näher beschrieben 
werden, worauf z. B. Ärzte bei ihren Diagnosen oft angewiesen sind. So spricht 
man von leichten, kaum wahrnehmbaren Schmerzen oder aber von unerträglichen, 
heftigen Schmerzen; man spricht von stechenden oder dumpfen Schmerzen und kann 
die Schmerzempfindung auch nach Zeitpunkt und Körperbereich näher bestimmen.
Selbst wo diese sprachliche Verständigungsmöglichkeit nur 
eingeschränkt oder gar nicht vorhanden ist, wie z. B. bei Tieren oder Kindern, 
lassen sich aus dem differenzierten Repertoire nicht-sprachlicher Äußerungen wie 
Abwendung oder Zuwendung, Weinen oder Lächeln, aus der Schnelligkeit und 
Entschiedenheit von Wahlhandlungen usw. Wünsche und Bedürfnisse nach Art und 
vergleichsweiser Intensität abschätzen.
3. Möglichkeiten einer weiteren Konkretisierung der 
Nutzenmessung
Mit den obigen Ausführungen zur Durchführung des 
intersubjektiven Nutzenvergleichs ist natürlich noch keine "operationale"   
Definition des Nutzens und kein präzises Messverfahren entwickelt worden. Es 
ergibt sich aus diesen Überlegungen jedoch eine genauere begriffliche Bestimmung 
des Solidaritätsprinzips und damit ein genaueres Kriterium, um 
verschiedene konkrete Normsetzungsverfahren auf ihre argumentative 
Konsensfähigkeit zu prüfen. Vor allem ergeben sich daraus Kriterien, um 
konkrete Verfahren der Nutzenmessung über bestimmte empirisch messbare 
Indikatoren auf ihre Akzeptierbarkeit zu überprüfen. [[54] s. dazu u. Kap. 
8.] {-191-}
Dabei erscheint der dargestellte Ansatz jedoch noch 
weiterer Präzisierung und Vereinfachung fähig, was hier noch kurz skizziert 
werden soll. So wäre es z. B. einmal interessant, anhand von Experimenten zu 
überprüfen, inwieweit sich etwa in kleinen Gruppen anhand der hier entwickelten 
Regeln des intersubjektiven Nutzenvergleichs ein argumentativer Konsens bei 
kollektiven Entscheidungen herbeiführen lässt. 
Mögliche Differenzen bei der 
Bestimmung derjenigen Alternative mit dem größten Gesamtnutzen ließen sich 
dadurch näher einkreisen, dass man die dafür verantwortlichen Differenzen in der 
Schätzung bestimmter individueller Nutzen heraussucht und dann gezielt darüber 
diskutiert, in welche äußere und innere Lage das betreffende Individuum bei 
Realisierung bestimmter Alternativen versetzt wird und wie groß die 
Nutzendifferenz zum Status quo eingeschätzt wird, gemessen an der vereinbarten 
Nutzeneinheit.
Bei weiterhin fehlender Übereinstimmung könnte man 
versuchen, den Kern der Uneinigkeit dadurch noch näher zu lokalisieren, dass man 
die Alternative in ihre verschiedenen Teilaspekte aufspaltet und sich dann auf 
diejenigen Aspekte konzentriert, bei denen die größten Differenzen hinsichtlich 
der Interessenlage des betreffenden Individuums bestehen. Hier könnten 
diejenigen analytischen Kategorien herangezogen werden, die in der Theorie der 
rationalen Entscheidung entwickelt worden sind, wenigstens insofern es um die 
empirischen und entscheidungslogischen Aspekte des individuellen Interesses 
geht. [[55] Vgl. zur Theorie der rationalen Entscheidung z. B. 
die umfassende Darstellung von GÄFGEN 1968 sowie unten § 54.] {-192-}
Während die empirischen und logischen Aspekte 
wahrscheinlich methodologisch unproblematisch sein werden, werden die 
eigentlichen Bewertungen sicher Probleme aufwerfen. Denn entgegen dem Gebot, 
fremde Interessen so zu berücksichtigen, als seien es die eigenen, können sich 
doch bewusst oder unbewusst vom eigenen Interesse beeinflusste und verzerrte 
Nutzenschätzungen einstellen. Allerdings ist einer völligen Willkür der 
Nutzenschätzungen schon durch bestimmte Konsistenzforderungen eine Schranke gesetzt, die es einem Individuum verbieten, "mit zweierlei Maß 
zu messen". 
Wenn ein Individuum z. B. die eigenen Nachteile (bzw. die Nachteile 
für die Individuen "seiner"   Gruppe) bei einer ihm unerwünschten Alternative 
übertreibt und zu hoch einschätzt, so kommt es in Schwierigkeiten, wenn es bei 
einer anderen Entscheidung in Bezug auf andere Individuen in ähnlicher Lage 
plötzlich "einen anderen Maßstab anlegt"   und deren Nachteile relativ gering 
einschätzt. Man kann die Nutzenschätzungen der Individuen also immer anhand 
ihrer Nicht-Übereinstimmung mit Präzedenzfällen argumentativ kritisieren. [[56]
S. dazu das 'Gebot der Personunabhängigkeit' § 34.] Allgemeiner kann man feststellen, dass die Nutzenabwägungen 
ja nicht bei jeder Entscheidung völliges Neuland darstellen, sondern dass auf 
vergangene Ergebnisse zurückgegriffen werden kann, sofern Ähnlichkeiten und 
Parallelen zumindest auf Teilgebieten bestehen. 
Alle Individuen und damit auch 
das Kollektiv als Ganzes sind {-193-} auf eine personunabhängige Konsistenz ihrer gegenwärtigen 
Nutzenschätzungen mit früheren bzw. parallelen Nutzenschätzungen festgelegt, es 
sei denn, die früheren Schätzungen werden als mit bestimmten Fehlern behaftet 
ausdrücklich kritisiert und korrigiert. Insofern stellen alle vergangenen "Güterabwägungen"   eine Orientierung und ein Kriterium für die aktuelle 
Güterabwägung dar. Dadurch ergibt sich eine erhebliche Entlastung von 
Erkenntnisarbeit, die vergleichbar ist mit der Entlastung, die auf empirischem 
Gebiet durch den Rückgriff auf in der Vergangenheit gewonnenes faktisches Wissen 
stattfindet.
Im Zusammenhang dieser Konsistenzforderung in Bezug auf 
Nutzenschätzungen sind Versuche erwähnenswert, den relativen Wert verschiedener 
Güter für ein bestimmtes Subjekt - sei es ein Individuum oder aber auch eine 
Regierung - aus seinen faktischen Entscheidungen zu rekonstruieren und zu 
fragen, ob sich alle Entscheidungen auf ein konsistentes Wertsystem zurückführen 
lassen. Das Verfahren kann an einem Beispiel von ALBIN veranschaulicht werden, 
bei dem es um die Wertrelation zwischen geretteten Menschenleben und dafür 
ausgegebenen Geldbeträgen im öffentlichen Straßenbau geht. 
"Eine 
Schnellstraßen-Kommission beschließt, die Seitenstreifen auf der Schnellstraße 
101 zu pflastern, aber nicht die auf der Schnellstrasse 102. Die Entscheidung 
beruhte auf Untersuchungsergebnissen von Sicherheitsingenieuren, die besagen, 
dass die Verbesserung der Schnellstraße 101 wahrscheinlich 4 tödliche Unfälle 
im Verlauf der Planungsperiode verhindern wird, während eine solche Verbesserung {-194-} auf der Schnellstraße 
102 wahrscheinlich 3 Leben retten wird. Beide Verbesserungen kosten 1 Millionen Dollar und haben keine 
positiven oder negativen Nebenwirkungen. Können wir aus der Entscheidung der 
Behörde schließen, dass ein menschliches Leben für diese einen impliziten Wert 
von mindestens 250.000 Dollar, aber nicht so viel wie 333.333.33 Dollar hat?"   
[[57] s. ALBIN 1967, S. 95f. Vgl. zur Berechnung solcher impliziten relativen Werte auch WEISBROD 1968 und McKEAN 
1968.] 
Es kann also der Versuch gemacht werden, aus in der Vergangenheit bzw. auf 
andern Bereichen gefällten Entscheidungen zu rekonstruieren, welches nutzenmäßige Gewicht bestimmten Situationen für ein Individuum zukommt. Dann 
kann man die Frage stellen, ob bei einer andern Entscheidung derselbe Maßstab 
angelegt wurde.
Das Motiv zu eigeninteressierten Verzerrungen der 
Nutzenschätzungen wird übrigens auch dann geschwächt, wenn es um generelle 
Normen geht, die eine unbegrenzte Zahl von Einzelfällen regeln und bei denen die 
Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich jedes Individuum manchmal in der Lage des 
Gewinners und manchmal in der Lage des Verlierers befindet. Dies kann an einem 
Beispiel verdeutlicht werden. Wenn die Einzelentscheidung zu treffen ist, ob ein 
bestimmtes Grundstück zum Zwecke des Straßenbaus enteignet werden soll, so ist 
das Eigeninteresse des Eigentümers relativ klar und kann u. U. in der Diskussion 
voll durchschlagen und einen argumentativen Konsens blockieren. {-195-}
Wo es jedoch um die "generelle"   Norm geht, dass Grundstücke 
zum Zwecke des Straßenbaus unter bestimmten spezifizierten Bedingungen enteignet 
werden können, ist das Eigeninteresse der Individuen in Bezug auf diese Norm 
abgeschwächt, da sie nicht wissen, ob sie überhaupt einmal mit ihrem Grundstück 
betroffen sein werden, und da sie andererseits als Verkehrsteilnehmer auf jeden 
Fall gewisse Vorteile von dieser Norm erwarten können.
Allerdings wird durch generelle Normen gewöhnlich nur eine 
teilweise und keine völlige Angleichung der individuellen Eigeninteressen 
erreicht, da die sozialen und persönlichen Lebensbedingungen und damit auch die 
Interessen der Individuen unterschiedlich sind. Wenn z. B. nur bestimmte 
Individuen Grundstücke besitzen und andere Individuen keine besitzen, so kann 
die letztere Gruppe durch eine Enteignungsmöglichkeit niemals verlieren, sondern 
höchstens gewinnen, sofern man einmal von den Kosten einer möglichen 
Entschädigung der Grundeigentümer absieht.
Eine weitere Erleichterung für die Kalkulation des 
Gesamtnutzens ergibt sich daraus, dass es bei einer normativen Entscheidung ja 
immer nur darum geht, diejenige Alternative mit dem größten Gesamtnutzen zu 
bestimmen. Von dorther erübrigt sich für die große Mehrzahl der Alternativen 
eine genauere Berechnung der individuellen Nutzen, weil bereits eine grobe Vorkalkulation anzeigt, dass diese Alternativen nicht als kollektiv beste in 
Frage kommen. Von dorther können sich {-196-} die Diskussionen auf die wenigen aussichtsreichen 
Alternativen und deren Auswirkungen auf die Interessenlage der Individuen 
konzentrieren. 
Bei der Bestimmung des Gesamtnutzens der Alternativen ist 
also kein Messperfektionismus erforderlich. Wenn sich z. B. eine Alternative 
schon aufgrund grober Vorkalkulation allen anderen Alternativen als weit 
überlegen erweist, so kann man sich genauere Nutzenschätzungen ersparen. Denn 
wenn jemand die anderen um Haupteslänge überragt, wird gleichfalls niemand mit 
dem Zentimetermaß ankommen, um festzustellen, wer der Größte ist. 
In diesem 
Zusammenhang sind auch Überlegungen SENs von Bedeutung, dass auch eine nur teilweise Vergleichbarkeit der Nutzenmaßstäbe für eine 
Entscheidung hinreichend sein kann. Auf das obige Beispiel übertragen bedeutet 
dies, dass Individuen möglicherweise auch dann übereinstimmend das größte 
Individuum ermitteln können, wenn ihre Längenmaße nicht völlig übereinstimmen 
und relativ ungenau "geeicht"   sind. [[58] Vgl. zum Konzept der "teilweisen Vergleichbarkeit 
der Nutzen"   SEN 1970, S. 99ff. sowie unten § 42.]
Weitere Vereinfachungen der Nutzenmessung erscheinen 
dadurch denkbar, dass die notwendigen Erkenntnisprozesse - vor allem auf 
empirischem Gebiet - arbeitsteilig organisiert werden, so dass z. B. nicht mehr 
jedes Individuum selber die Auswirkungen der Alternativen auf die Lage der 
Individuen untersuchen muss, sondern auf die von andern gewonnenen Erkenntnisse 
zurückgreifen kann. [[59] Hier stellt sich allerdings das Problem der 
Kontrolle solcher "Wissens-Spezialisten". S. dazu auch unten § 66.] {-197-}
Vor allem bei größeren Kollektiven mit sehr vielen 
Individuen wäre die Nutzenbestimmung für jedes Individuum kaum durchführbar. 
Hier erscheint es deshalb angebracht, Individuen in ähnlicher Lage und ähnlicher 
Interessenstruktur zu Gruppen zusammenzufassen, so dass man jetzt nur noch den 
Nutzen der Alternativen für ein repräsentatives Gruppenmitglied bestimmen muss 
und diesen dann entsprechend der Größe der Gruppe gewichtet.{-198-} 
Wenn z. B. bestimmte 
empirisch messbare Indikatoren zur indirekten Messung des Nutzens vorgeschlagen 
werden, so bietet die dargelegte Konzeption des solidarischen Nutzenvergleichs 
einen Maßstab dafür, ob diese Indikatoren tatsächlich das messen, was wir 
meinen, wenn wir von "Nutzen"   im normativen Sinne sprechen. Anders ausgedrückt: 
Anhand des theoretischen Konzepts der solidarischen Nutzenbestimmung können wir 
entscheiden, inwieweit ein bestimmter empirischer Indikator eine brauchbare 
Annäherung an einen normativ verwendbaren Nutzenbegriff darstellt.{-199-}
Im Verlauf der ethischen und wohlfahrtsökonomischen 
Diskussion sind eine ganze Reihe von Vorschlägen zur intersubjektiv 
vergleichbaren Messung des Nutzens mit Hilfe beobachtbarer Indikatoren gemacht worden. 
Im Folgenden sollen die wichtigsten Vorschläge diskutiert werden. [[2] Vgl. 
zum Folgenden die Übersichten bei SEN 1970, S.92ff. und GÄFGEN 1968, S.416 - 421]
Diese Form kardinaler 
Nutzenmessung wurde von GOODMAN und MARKOWITZ dann auf das Problem des 
intersubjektiven Nutzenvergleichs angewandt. [[5] s. GOODMAN/MARKOWITZ 1952.] "In Bezug auf die interpersonale Vergleichbarkeit machen GOODMAN und 
MARKOWITZ die normative Annahme, dass die ethische Bedeutsamkeit einer Bewegung 
von einer Unterscheidungsschwelle {-200-}zur nächsten für jedes Individuum gleich ist 
und dass sie unabhängig ist vom Niveau, von dem aus die Veränderung erfolgt. 
Die 
Berechnung wird unter dieser Annahme sehr einfach. Wenn die Alternative x mit 
der Alternative y verglichen werden soll, so muss man nur berechnen, um wieviele 
Unterscheidungsschwellen x gegenüber y überlegen (oder unterlegen) ist; und dann 
sind die Abstände in Schwellen einfach mit dem entsprechenden Vorzeichen zu 
addieren."   [[6] SEN 1970, S.93.]
Die Probleme dieses Verfahrens werden u. a. von ARROW und 
SEN benannt. [[7] S. ARROW 1963, S. 115ff.]Abgesehen von den Schwierigkeiten einer praktischen Umsetzung des 
Verfahrens entstehen Probleme dadurch, dass bei einer Entscheidung mit einer 
begrenzten Anzahl von Alternativen nicht alle Präferenzschwellen ermittelt 
werden können. Werden nun weitere Alternativen in die Entscheidung einbezogen, 
so können möglicherweise zusätzliche Präferenzschwellen für das Individuum 
wahrnehmbar werden, wodurch sich die Nutzendifferenzen zwischen den 
ursprünglichen Alternativen verändern würden.
SEN stellt auch aus ethischen Erwägungen die Voraussetzung 
in Frage, dass die Veränderung von einer Unterscheidungs-Schwelle zur nächsten 
bei allen Individuen die gleiche Gewichtung in Bezug auf den {-201-} 
Gesamtnutzen haben soll. "Dies ist nicht nur eine willkürliche Annahme, sie ist 
hochgradig problematisch, wenn man es mit Individuen zu tun hat, die sich in der 
Empfindlichkeit ihrer Wahrnehmung zu unterscheiden scheinen. Jemand mag eine 
kleine Zahl von Unterscheidungsschwellen haben, aber den Unterschied zwischen 
einer Schwelle und der andern sehr stark empfinden; und ein anderer mag eine 
große Zahl von Unterscheidungsschwellen haben, aber er mag den Unterschied 
zwischen einer Schwelle und der nächsten als nicht der Rede wert erachten."   [[8] SEN 1970, S. 94.]
Das entscheidende Argument gegen das vorgeschlagene 
Verfahren besteht also darin, dass man nicht vom Differenzierungsvermögen eines 
Individuums hinsichtlich seiner Interessen auf die Stärke bzw. die Gewichtigkeit 
seiner Interessen schließen kann.
Dies Verfahren der 
kardinalen Nutzenmessung kann man folgendermaßen veranschaulichen: Wenn für ein 
Individuum der Nutzen verschiedener Alternativen x, y und z gemessen werden 
soll, so kann man das Individuum zunächst eine Rangordnung nach dem Nutzen der 
Alternativen bilden lassen.{-202-}
Angenommen es zieht dabei x gegenüber y und y gegenüber z 
vor. Wenn man nun der subjektiv besten Alternative x den Nutzenwert 1 und der 
schlechtesten Alternative z den Nutzenwert 0 zuteilt, so fehlt nur noch der 
entsprechende Wert für die mittlere Alternative y, wobei dieser Wert zwischen 1 
und 0 liegen muss, da y schlechter ist als x aber besser als z. 
Den Nutzenwert 
für y im Verhältnis zu den vorgegebenen Werten 1 für x und 0 für z kann man nun 
dadurch erhalten, dass man das Individuum vor die Wahl stellt zwischen der 
Alternative y auf der einen Seite und einer Lotterie aus den Alternativen 
x und z als den zwei einzig möglichen Ergebnissen, die also nur aus einer Urne 
mit x-Losen und 
z-Losen besteht. Wenn man die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein x-Los gezogen 
wird, mit p bezeichnet, so muss die Wahrscheinlichkeit für das Ziehen eines 
z-loses 1 minus p betragen. [[10] In der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird die 
Wahrscheinlichkeit von Ereignissen mit Werten zwischen 0 und 1 ausgedrückt, 
wobei die Wahrscheinlichkeit eines sicheren Ereignisses den Wert p=1 erhält, 
während ein unmögliches Ereignis den Wert p=0 erhält. Wenn nur zwei Ereignisse x 
und z möglich sind, so beträgt die Summe der Wahrscheinlichkeiten 1, da mit 
Sicherheit x oder z eintritt. Wenn also x die Wahrscheinlichkeit p hat, so muss 
z die Wahrscheinlichkeit 1 minus p haben. Zu Grundbegriffen der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung vgl. z. B. CLAUSS/ EBNER 1969, S. 227ff.]
Das Individuum ist nun aufgefordert, denjenigen Prozentsatz 
von x-Losen, d. h. denjenigen Wert für p zu nennen, bei dem es zwischen der 
sicheren Alternative y und der entsprechenden Lotterie aus x-Losen und z-Losen 
indifferent ist. Wenn dies z. B. bei p=2/3 der Fall ist, d. h. dass die Lotterie zu 
zwei {-203-} Dritteln aus x-Losen und zu einem Drittel aus z-Losen 
besteht, so beträgt der Nutzen der Alternative y für das Individuum 2/3. [[11] Zu den Voraussetzungen hierfür s. SEN 1970, S.95ff.] Der 
nach der mathematischen Wahrscheinlichkeit zu erwartende Nutzen einer solchen 
Lotterie aus 2/3 x-Losen und 1/3 z-Losen wäre ja (2/3 mal 1 plus 1/3 mal 0) = 
2/3. Da die Lotterie für das Individuum mit der Alternative y gleichwertig war, 
muss auch die Alternative y den gleichen Nutzenwert, nämlich 2/3 erhalten. [[12] Da die anfänglichen Nutzenwerte für x und z 
willkürlich gewählt waren, könnte man auch andere Werte als 1, 2/3 und 0 
erhalten. Wie man zeigen kann, können die erhaltenen Werte durch jede positive 
lineare Transformation ersetzt werdend Diese Nutzenskala ist also eine 
Intervall-Skala, bei der zwar eine kardinale Nutzeneinheit existiert, durch die 
die Nutzenabstände zwischen den Alternativen messbar werden, bei der jedoch kein "natürlicher"   Nullpunkt existiert. S. Dazu § 38/1.]
Die Frage ist nun, inwieweit ein solches Nutzenmaß zur 
Annäherung an einen solidarischen Nutzenvergleich Verwendung finden kann. 
Eines 
der Probleme bei dieser Art kardinaler Nutzenmessung ergibt sich daraus, dass 
die Nutzenwerte der Alternativen durch die Präferenzen des Individuums gegenüber 
Lotterien, also gegenüber Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Alternativen und 
nicht gegenüber den Alternativen selber gewonnen werden. Ob sich ein Individuum 
an einer Lotterie beteiligt, hängt jedoch nicht nur vom individuellen Nutzen der 
Lose bzw. der Gewinne ab, sondern auch von seiner Einstellung zum Risiko. Wenn jemand lieber "auf Nummer Sicher geht", so wird er sich 
vielleicht noch nicht einmal an einer Lotterie beteiligen, die einen Einsatz von 
DM 10 {-204-}verlangt und bei der 2/3 der Lose aus Gewinnen von DM 30 
und 1/3 aus Nieten besteht, obwohl bei dieser Lotterie der zu erwartende Gewinn 
pro Los im Durchschnitt DM 20 beträgt, also doppelt soviel wie der Einsatz. 
[[13] Vgl. zur Rolle der Risikoneigung die Kritik bei ARROW 1963, S. 10 und den Kommentar dazu bei SEN 1970, S. 96f.. Die 
Risikoneigung spielt hier also eine ähnlich störende Rolle für den 
intersubjektiven Nutzenvergleich wie bei der Präferenzschwellentheorie das 
Unterscheidungsvermögen der Individuen, denn beides ist nicht für alle 
Individuen gleich.]
Für das Problem des intersubjektiven Nutzenvergleichs 
bereitet jedoch vor allem der Umstand Schwierigkeiten, dass es sich bei den 
erhaltenen Nutzenwerten um völlig subjektive Größen handelt, bei denen 
noch keine Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Individuen gegeben ist. Wie 
SEN schreibt, ist die kardinale Messbarkeit der individuellen Nutzen nur e i n 
Problem bei der Bestimmung des Gesamtnutzens. Das andere Problem ist die 
interpersonale Vergleichbarkeit und Aggregation. 
Gewöhnlich behandelt man das Problem der intersubjektiven 
Vergleichbarkeit solcher rein subjektiv gewonnenen Nutzenwerte durch eine 
Normalisierung, d. h. durch eine Anpassung dieser Werte an einen 
gemeinsamen Standard. Eine solche Normalisierung der individuellen Nutzenwerte 
wirft jedoch Probleme auf. 
So argumentiert SEN: "Jede Methode der interpersonalen Normalisierung kann 
kritisiert werden. Man könnte argumentieren, dass bestimmte Methoden 
intersubjektiv 'fair' sind, z. B. wenn man der schlechtesten Alternative in der 
Skala jedes Individuum {-205-} den Wert 0 zuteilt und seiner besten Alternative den Wert 
1. Erstens gibt es jedoch andere Methoden mit vergleichbarer Symmetrie, z. B. 
die Methode, bei der der schlechtesten Alternative der Wert 0 gegeben wird und 
der Wert 1 der Nutzen-Summe aller Alternativen. 
Keine der beiden Methoden 
ist merklich weniger fair als die andere (die eine  nimmt den gleichen 
Höchstnutzen für alle Individuen an, und die andere nimmt den gleichen 
Durchschnittsnutzen für alle Individuen an), aber sie ergeben unterschiedliche 
Ausgangspunkte für die kollektive Entscheidung. 
Zum andern kann man beim Vergleich der Nutzenwerte 
verschiedener Personen bewusst versuchen, die interpersonal unterschiedliche 
Befriedigungskapazität zu berücksichtigen, z. B. mag man benachteiligten 
Personen eine besondere Berücksichtigung zukommen lassen, deren 
Befriedigungsniveau man für generell niedriger halten mag."   [[14] SEN 
1970, S. 98] Eine 
einheitliche Normalisierung würde jedoch eine solche unterschiedliche Gewichtung 
ausschließen. [[15] Die Problematik einer geeigneten Normalisierung 
tritt übrigens nicht nur beim spieltheoretischen Nutzenbegriff auf, sondern bei 
allen subjektiv gewonnenen Nutzwerten. Wenn z. B. die individuellen Nutzen der 
Alternativen über die Stimmen bzw. Punkte bestimmt werden, die die Individuen 
dafür abgeben, so erfolgt die Normalisierung über die Anzahl der Stimmen, die 
jedes Individuum zu vergeben hat.  S. dazu u. Teil III.]{-206-}
 
Bei einem solchen Verfahren wird gewissermaßen geprüft, wie 
empfindlich sich eine bestimmte kollektive Rangordnung gegenüber einer 
Veränderung der Normalisierungsverfahren erweist und ob sich sogar bei sehr 
unterschiedlichen Normalisierungsverfahren für die individuellen Nutzenwerte 
dieselbe Alternative als diejenige mit dem größten Gesamtnutzen behauptet.
Die Arbeitsweise eines Verfahrens der teilweisen 
Vergleichbarkeit der individuellen Nutzenmaße kann anhand eines extremen 
Beispiels von SEN veranschaulicht werden. 
Dabei geht es um die Frage, ob der {-207-} Brand von Rom, der für viele Bürger Roms eine Katastrophe 
bedeutete während andererseits Kaiser Nero sich daran erfreute, einen positiven 
Gesamtnutzen gegenüber dem Status quo hatte. Wenn man keinerlei Vergleichbarkeit 
der individuellen Nutzen akzeptiert, so muss man die Frage offenlassen, aber 
sicherlich käme man selbst bei den unterschiedlichsten Normalisierungen der 
individuellen Nutzen zu dem Ergebnis, dass der positive Nutzen Neros die Leiden 
der römischen Bevölkerung nicht aufgewogen hat.
Mit der nur teilweisen Vergleichbarkeit der individuellen 
Nutzen ist die scharfe Alternative zwischen exakter Vergleichbarkeit oder 
überhaupt keiner interpersonalen Vergleichbarkeit der Nutzen aufgehoben, und es 
ergeben sich auch dort noch Argumentationsmöglichkeiten hinsichtlich der 
Alternative mit dem größten Gesamtnutzen, wo keine exakten Messverfahren gegeben 
sind, sondern nur mehr oder weniger präzise Schätzurteile abgegeben werden 
können. [[17] Damit gewinnt das Prinzip der teilweisen Vergleichbarkeit der 
individuellen Nutzen auch eine Bedeutung für die Praktizierung eines 
solidarischen Nutzenvergleichs über ein "Sich-hineinversetzen-in-den-andern", 
wie er oben vorgeschlagen wurde. Denn das Prinzip bleibt brauchbar auch dann, 
wenn man im Rahmen dieser Konzeption keine Messungen im strengen Sinne sondern 
nur Schätzungen durchführen kann.] 
"Kardinalität und volle interpersonale Vergleichbarkeit der 
individuellen Nutzen sind hinreichende aber keine notwendigen Voraussetzungen 
für eine rationale Entscheidung entsprechend einer Maximierung des aggregierten 
Gesamtnutzens. Deshalb macht die Zurückweisung dieser Annahmen den Ansatz nicht 
unbrauchbar, wie stattdessen häufig angenommen wird. Die weite {-208-}Anziehungskraft der Maximierung des aggregierten 
Gesamtnutzens als Ansatz für die Bestimmung der kollektiven Entscheidung gründet 
sich auf die implizite Verwendung eines weiteren Bezugsrahmens als jenem, der 
durch vollständige Vergleichbarkeit und Kardinalität gesteckt wird." [[18] SEN 1970, S.103f.]
Ein auf dem spieltheoretischen Nutzenbegriff aufbauender 
Ansatz zur Operationalisierung eines Nutzenmaßstabs, der die Interessen aller 
Individuen in solidarischer Weise berücksichtigt, wurde von HARSANYI 
vorgeschlagen. [[19] S. HARSANYI 1955. Ähnlich 
auch VICKREY 1960a und 1960b.] HARSANYI unterscheidet zwischen den "subjektiven 
Präferenzen"   eines Individuums, die die Eigeninteressen eines Individuums 
wiedergeben, und sogenannten "ethischen Präferenzen", die eine unparteiliche und 
überpersönliche Einstellung ("an impartial and impersonal attitude") des 
Individuums ausdrücken.
Danach entscheidet ein Individuum dann gemäß seinen "ethischen Präferenzen", wenn es nicht weiß, welches seine Position in den zur 
Entscheidung stehenden Alternativen sein wird, sondern wenn die 
gleiche Wahrscheinlichkeit besteht, dass es in die Lage irgendeines 
Individuums {-209-} gerät. Zur "Lage"   eines Individuums gehören dabei nicht nur 
die äußeren Lebensbedingungen sondern auch die subjektiven Einstellungen und 
Geschmacksrichtungen ("attitudes and tastes") des betreffenden Individuums. 
Unter diesen Bedingungen ist jedes Individuum gezwungen, nicht nur sein 
Eigeninteresse wahrzunehmen, sondern es muss sich - so wie es vom 
Solidaritätsprinzip gefordert wird - in die Lage der andern Individuen 
hineinversetzen und ihre Interessen in gleicher Weise berücksichtigen wie seine 
eigenen, denn es kann mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in die Lage 
irgendeines Individuums geraten. Insofern fallen unter der Bedingung einer 
Auslosung der Positionen für die Individuen Eigeninteresse und Gesamtinteresse 
zusammen.
Dies Verfahren soll an einem vereinfachten Beispiel 
erläutert werden. 
Angenommen fünf Individuen mit etwa gleicher Interessenlage 
und gleichem Einkommen beziehen gemeinsam eine Fünf-Zimmer-Wohnung. Die Zimmer 
sind unterschiedlich nach Größe, Helligkeit, Lärmbelastung usw.. Diese 
Miniaturgesellschaft von fünf Leuten steht nun vor der Entscheidung, wer welches 
Zimmer bewohnen soll und welchen Mietanteil er dafür übernehmen soll. Dabei soll 
der Mietanteil jedes Einzelnen entsprechend dem Gebrauchswert des Zimmers 
festgelegt werden, das er bewohnt.
Wenn man nun zuerst die Aufteilung der Zimmer auf die 
Individuen vornimmt und anschließend versucht, den Mietanteil für jedes Zimmer 
festzulegen, so wäre es bei einem Eigeninteresse jedes Individuums, möglichst 
wenig Miete zu bezahlen, in der Praxis nur schwer möglich, zu einer Einigung zu 
gelangen. Jeder würde gemäß seinem Eigeninteresse bemüht sein, den {-210-} Nutzwert des von ihm bewohnten Zimmers möglichst niedrig 
darzustellen im Verhältnis zu den andern Zimmern, um seine eigenen Ausgaben 
möglichst niedrig zu halten.
Wenn man jedoch umgekehrt vorgeht und erst eine Bewertung 
der Zimmer vornimmt und dann die Zimmer durch Verlosung aufteilt, so kann 
niemand bei der Bewertung der Zimmer sein Eigeninteresse wahrnehmen, denn er 
weiß ja noch nicht, welches er bewohnen wird. [[20] Eine Verlosung der Zimmer ist hier deshalb 
unproblematisch, weil jede Verteilung gleichwertig ist, denn es wird eine 
gleiche Interessenlage der Individuen hinsichtlich der Wohnbedingungen 
angenommen.]  Eine solche Situation 
würde jedes Individuum zu solidarischen Entscheidungen - oder in HARSANYIs 
Terminologie zu "ethischen Präferenzen"   - zwingen. [[21] Die Brechung des Eigeninteresses durch die 
Einführung von Ungewissheit findet sich auch bei RAWLS 1973 und BUCHANAN/TULLOCK 
1969.] 
Durch die Einführung des Risikos gleicht die Entscheidung 
zwischen zwei Alternativen - z. B. zwei verschiedenen Gesellschaftsordnungen - 
der Entscheidung zwischen zwei Lotterien. Für jede Position in einer 
Gesellschaftsordnung existiert ein Los. Darauf ist die äußere Lage und die 
Präferenzstruktur eines der Individuen in dieser Gesellschaftsordnung 
verzeichnet. Diese Inhalte der Lose sind allen Individuen bekannt. HARSANYI 
nimmt nun an, dass sich die Individuen gemäß den in der Spieltheorie üblichen 
Postulaten der rationalen Entscheidung unter Ungewissheit verhalten. Danach 
ergibt sich der Nutzen einer Alternative aus dem Nutzen, den die Alternative als 
sicheres Ereignis hätte, multipliziert mit {-211-}der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens. Dieser 
Erwartungswert ergibt einen kardinal interpretierbaren Nutzenmaßstab, d. h. mit 
ihm lassen sich mathematische Operationen wie Addition und Multiplikation 
durchführen. Der Gesamtnutzen verschiedener solcher Lotterien für ein Individuum 
lässt sich dann durch das arithmetische Mittel der Nutzenwerte aller 
Los-Ergebnisse bestimmen.
Allerdings wäre der Gesamtnutzen, wie ihn ein Individuum 
durch seine ethischen Präferenzen bestimmt, damit noch nicht notwendigerweise 
für alle Individuen gleich. Die ethischen Präferenzen der Individuen fallen 
nämlich nur dann zusammen, wenn die Individuen einen interpersonal 
vergleichbaren Nutzenmaßstab bei der Bewertung der Positionen verwenden und wenn 
sie außerdem die gleiche Einstellung zum Risiko haben, da die Risikobereitschaft 
eines Individuums den als Erwartungswert bestimmten Nutzen beeinflusst. [[22] S. 
Dazu PATTANAIK 1968, S.306f.] 
Ein Individuum mit hoher Risikoneigung wird eine Lotterie mit großen 
Nutzendifferenzen zwischen den Los-Ergebnissen - wo es also "Hauptgewinne"   und "Nieten"   gibt - höher einstufen als ein Individuum mit einer geringen 
Risikoneigung, selbst wenn die sicheren Los-Ergebnisse für beide Individuen den 
gleichen Nutzen hätten.
Die praktische Anwendbarkeit des von HARSANYI 
vorgeschlagenen Verfahrens ist allerdings nur beschränkt. Es gibt eher eine 
theoretische Vorstellung {-212-} von der Beschaffenheit "unparteiischer"   und "solidarischer"   ethischer Präferenzen. In den meisten Fällen lässt sich ein 
kollektiver Entscheidungsprozess nicht so konstruieren, dass die Individuen 
nichts über ihre Position in den zur Auswahl stehenden Alternativen wissen. 
Bestimmte Positionen etwa im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind 
an bestimmte Fähigkeiten intellektueller Art gekoppelt. Andere Situationen wie 
z. B. Schwangerschaft treten nur nur für Individuen weiblichen Geschlechts auf. 
Wer seine Vorlieben und Interessenschwerpunkte kennt, weiß, dass er diese unter 
allen alternativen Systemen haben wird, sodass er auf deren Befriedigung 
besonderes Gewicht legen kann. All dies sind Gründe, warum ein Individuum gar 
nicht tatsächlich in die Lage bestimmter anderer Individuen kommen kann , 
sodass sich dann auch keine Entscheidung nach Art einer Auslosung der Positionen 
real konstruieren lässt.
In bestimmten Fällen lässt sich jedoch eine Situation des "fairen Risikos"   auch praktisch zur Gewinnung normativ gültiger Entscheidungen 
verwenden. MUELLER will z. B. Durch den Einbau eines Risikomoments das 
Wirksamwerden von partikularen Interessen bei Verfassungsänderungen abschwächen. 
[[23] Vgl. MUELLER 1973.] Er schlägt vor, dass Verfassungsänderungen erst nach einer längeren 
Zeitspanne von fünf oder gar zwanzig Jahren in Kraft treten. 
Eine 
parlamentarische Mehrheit kann dann nicht mehr ohne weiteres ihre eigene Macht 
durch {-213-} verfassungsrechtliche Kompetenzerweiterungen der Regierung 
vergrößern, weil das Risiko besteht, dass sie bei Wirksamwerden der 
Verfassungsänderung gar nicht mehr an der Regierung ist. Dann würde die 
Kompetenzerweiterung u. U. der Konkurrenzpartei zugute kommen, die dann die 
Regierung stellt. 
Allerdings hätte eine solche Regelung den Nachteil, dass 
dadurch der Prozess der Verfassungsentwicklung außerordentlich schwerfällig 
gemacht würde. Eine Anpassung an unvorhergesehene Entwicklungen, die keinen 
Aufschub duldet, wäre damit z. B. unmöglich gemacht. Außerdem würde durch eine 
derartig lange Frist für das Wirksamwerden von Verfassungsänderungen jeder 
verfassungsrechtliche Status quo notwendig gestärkt, gleichgültig ob dieser 
Status quo befriedigend ist oder nicht.
Mit den physischen 
Gütermengen hat man {-214-} dann einen empirischen Nutzenindikator, der selber 
kardinale Eigenschaften besitzt, denn Gütermengen lassen sich nach der Zahl der 
Gütereinheiten messen, aus denen sie bestehen, z. B. 20 Äpfel oder 10 Gramm 
Gold.
Bei einem solchen Verfahren drückt man den individuellen 
Nutzen der zur Entscheidung stehenden Alternativen indirekt durch den Nutzen 
aus, den das als Maßeinheit genommene Gut für das betreffende Individuum 
besitzt. Im Prinzip kann man für dies Verfahren alle möglichen Dinge nehmen, die 
für Individuen einen positiven oder negativen Wert haben und zugleich 
quantifizierbar sind, wie z. B. Gefängnisaufenthalt, Hungern, Warten oder 
Urlaub, die in Zeiteinheiten messbar sind, oder Gold, 'Apfel, Zigaretten oder 
Stockschläge, die sich in Stückzahlen oder Gewichten messen lassen. 
Wenn z. B. 
einem Individuum die Realisierung der Alternative x 10 Zigaretten wert ist, 
während sie dem andern Individuum 20 Zigaretten wert ist, so würde der positive 
Gesamtnutzen der Alternative für beide 30 Einheiten betragen. Der Gesamtnutzen 
jeder Alternative entspricht also der Gesamtgütermenge, die alle Individuen 
zusammen bereit sind, für die Realisierung der Alternative zu opfern. Damit 
jedoch eine Messung der individuellen Nutzen über geopferte Gütermengen normativ 
akzeptabel wird, müssen eine Reihe von Voraussetzungen gemacht werden, die 
gewöhnlich nicht erfüllt sind, selbst wenn man einmal annimmt, dass die 
Individuen ihre Interessen aufrichtig, qualifiziert und ohne störende 
Nebenbedingungen äußern. [[25] s. dazu u. Kap.10] {-215-}
Die Kardinalität einer solchen Nutzenmessung durch 
Gütermengen ist ja nur dann gewährleistet, wenn jeder Mengeneinheit des Gutes 
bzw. "Ungutes"   auch genau eine Nutzeneinheit für das betreffende Individuum 
entspricht, d. h. dass gleiche Gütermengen auch immer einen gleichen Nutzen für 
jedes Individuum bedeuten müssen. Eine solche Annahme ist jedoch kaum 
aufrechtzuerhalten, denn gewöhnlich sind einem Individuum zusätzliche Einheiten 
eines bestimmten Gutes umso weniger Wert, je mehr es schon von diesem Gut 
besitzt, da mit wachsendem Verbrauch Sättigungsphänomene auftreten. Wenn man z. 
B. dem Verzehr des 1. Apfels im Verlauf eines Tages einen bestimmten Wert zumisst, so wird man dem Verzehr des 5. Apfels schon geringeren Wert beilegen und 
der Verzehr des 10. Apfels wird einem bestimmt schon eher zur Qual als zum Genuss. 
Solche Sättigungsphänomene treten beim Verbrauch sehr vieler Güter auf und 
führen dazu, dass innerhalb eines gegebenen Zeitraums jede zusätzlich 
konsumierte Einheit eines Gutes einen umso geringeren individuellen Nutzen 
bedeutet, je mehr Einheiten man bereits konsumiert hat. [[26] Dieser 
Sachverhalt wird auch als "Erstes GOSSENsches Gesetz"   bezeichnet. S. GOSSEN in HOFMANN 1971, S.123f.] 
Eine gewisse Komplikation taucht hier dadurch auf, dass man 
eigentlich zwischen dem Grenznutzen des Verzehrs einer zusätzlichen Gütereinheit und dem 
Grenznutzen des Eigentums an einer zusätzlichen Gütereinheit 
unterscheiden muss. Denn wenn es sich um ein lagerfähiges und auf andere übertragbares Gut handelt, so fällt der Grenznutzen des {-216-} Verbrauchs und der Grenznutzen des Eigentums nicht 
zusammen. Im letzteren Fall muss das Individuum den 10. Apfel ja nicht selber 
konsumieren, sondern kann ihn gegen ein anderes Gut eintauschen. Dann müssen 
keine individuellen Sättigungsphänomene auftreten, da diese ja nur beim 
Endverbraucher entstehen. 
So wird in einer Tauschwirtschaft ein Händler u. U. 
tausende von Einheiten desselben Gutes kaufen und trotzdem für das 1000. Stück 
noch den gleichen Preis zahlen wie für das erste Stück, sofern er annimmt, dass 
bei der Gesamtheit seiner potentiellen Abnehmer noch keine Sättigung eingetreten 
ist. Im Gegensatz zum Grenznutzen des Verbrauchs kann der Grenznutzen des 
Eigentums praktisch nicht negativ werden, denn notfalls kann man ja Güter, die man nicht mag, verschenken oder einfach vernichten. [[27] 
Sofern allerdings die Beseitigung unerwünschter Güter kostspielig ist, kann im 
Extremfall auch ein negativer Grenznutzen des Eigentums eines Gutes entstehen.] Aufgrund dieser 
Schwierigkeiten muss bei der Nutzenmessung über Gütermengen sichergestellt 
werden, dass tatsächlich nur der Nutzen des Verbrauchs gemessen wird und nicht 
der Tauschwert des Gutes bei der Entscheidung des Individuums eine Rolle spielt. 
Im letzteren Fall fungiert das Gut gewissermaßen als Geld, d. h. als ein 
bestimmtes Quantum Kaufkraft, das dies Individuum erhält. [[28] S. dazu u. 
§ 45.]
Einen gewissen Hinweis darauf, dass konkrete Güter wegen 
solcher Sättigungsphänomene nur einen sehr unvollkommenen kardinalen 
Nutzenmaßstab abgeben, erhält man bereits aus der Tatsache, dass der 
relative {-217-} Wert zweier Güter für ein Individuum meist nicht 
konstant ist. Wenn man den individuellen Wert eines Gutes x im Verhältnis zum 
Gut y durch die Bereitschaft des Individuums bestimmt, eine Einheit des Gutes x 
durch eine bestimmte Anzahl von Einheiten des Gutes y zu ersetzen bzw. zu 
substituieren, so steigt die Menge des für eine Einheit von x zur Kompensation 
nötigen Zahl der Einheiten von y mit fortgesetzter Substitution von x durch y, 
je mehr sich also der Vorrat des Individuums vom Gut x verringert. [[29] Die 
Substitutionsrate zweier Güter für ein Individuum entspricht der Steigung der 
Indifferenzkurve. Die typische, vom Nullpunkt gesehen konvex verlaufende Form 
der Indifferenzkurve beruht auf solchen Sättigungsphänomenen. Allerdings sind 
auch andere Substitutionsbedingungen zwischen den Gütern möglich, z. B. Komplementarität, 
die dann zu einem andern Kurvenverlauf führen. Zur Indifferenzkurvenanalyse s. u. 
§ 100/2.] 
Allerdings sind solche Veränderungen der Substitutionsraten 
zwischen zwei Gütern als solche noch kein Beweis dafür, dass für keines der 
beiden Güter eine kardinale Entsprechung zwischen Güter- und Nutzeneinheiten 
besteht. Da die Veränderung der Substitutionsrate nur etwas über den 
relativen Wert beider Güter im Verhältnis zueinander aussagt, könnte diese 
Veränderung im Prinzip auch dadurch hervorgerufen werden, dass sich für das 
Individuum nur der Grenznutzen des einen Gutes verändert hat, während er für das 
andere Gut konstant geblieben ist. 
Wenn das Individuum mit wachsendem Vorrat an 
x auf immer weniger Einheiten von y zu verzichten bereit ist, um eine 
zusätzliche Einheit von x zu erhalten, so kann das einmal bedeuten, dass der 
Grenznutzen von x gefallen ist. Es kann aber auch bedeuten, dass der Grenznutzen 
von y gestiegen ist. Weitere Möglichkeiten zur Interpretation dieser Veränderung 
der Substitutionsrate {-218-} zwischen beiden Gütern wären, dass entweder der Grenznutzen 
von x stärker gefallen ist als der Grenznutzen von y oder aber dass der 
Grenznutzen von y stärker gestiegen ist als der Grenznutzen von x. 
In allen vier 
Fällen würde die Substitutionsrate von x gegen y mit wachsendem Vorrat von x 
gegen Null gehen. Aus dem Substitutionsverhalten eines Individuums kann man 
direkt nur schließen, dass die vom Individuum freiwillig hergegebenen Güter 
einen geringeren individuellen Nutzen hatten als die Güter, die es dafür 
eingetauscht hat. Man kann aber nicht sagen, ob der Nutzen einer zusätzlichen 
Einheit von x bei einem Vorrat von 20 Einheiten von x absolut gesehen kleiner 
gewesen ist als der Nutzen einer zusätzlichen Einheit bei einem Vorrat von 10 
Einheiten. Eine solche Aussage lässt sich nur dadurch treffen, dass man sich in 
die jeweilige Lage des Individuums hineinversetzt - die einmal gekennzeichnet 
ist durch einen Vorrat von 20 Einheiten x und das andere Mal durch einen Vorrat 
von 10 Einheiten x - und den Nutzen einschätzt, der durch eine zusätzliche 
Einheit von x jeweils entsteht.
Selbst wenn jedoch der Grenznutzen des als Nutzenmaßstab 
verwendeten Gutes konstant bliebe, wenn also jeder zusätzliche Apfel für jedes 
Individuum immer einen konstanten Nutzenzuwachs um eine Einheit bedeuten würde, 
so folgt daraus noch nicht, dass der Nutzenzuwachs pro Apfel auch 
interpersonal gleich groß ist. Denn vielleicht ist ein Individuum ein 
Apfelliebhaber, während das andere Individuum Äpfel nicht so gerne mag. Um den 
Nutzen pro Apfel für beide Individuen vergleichbar zu machen, müsste ein 
Gewichtungsfaktor ermittelt werden, der angibt, den wievielfachen Nutzenzuwachs 
das eine Individuum gegenüber dem andern durch einen zusätzlichen Apfel erhält. {-219-}
Wenn man einmal annimmt, dass die Individuen eine 
identische Bedürfnisstruktur in Bezug auf Äpfel haben, dass allerdings der 
Grenznutzen zusätzlicher Äpfel sinkt, so hängt der individuelle Nutzen 
zusätzlicher Äpfel von der gegebenen Ausstattung der Individuen mit Äpfeln ab, 
sodass die substituierten Apfelmengen ebenfalls keinen interpersonal 
vergleichbaren kardinalen Maßstab für den individuellen Nutzen anderer 
Alternativen abgeben können. Wer gewissermaßen "in Äpfeln schwimmt"   und z. B. 
1000 Äpfel besitzt, dem ist es ein Leichtes, für die Realisierung einer 
Alternative hundert Äpfel zu opfern. Wer jedoch mit Äpfeln knapp ist und 
vielleicht nur 10 Äpfel besitzt, dem kann schon die Herausgabe eines einzigen 
Apfels eine relativ große Nutzeneinbuße bedeuten. Denn bei sinkendem Grenznutzen 
der Äpfel für die Individuen kann es sein, dass für ein Individuum mit 10 Äpfeln 
ein Apfel den gleichen oder gar einen größeren Nutzen besitzt als 100 Äpfel für 
ein Individuum mit 1000 Äpfeln. Dies hängt ganz vom Verlauf der Nutzenkurve ab. 
Insofern ist die Verwendung der geopferten Gütermengen als ein interpersonal 
vergleichbares Nutzenmaß problematisch. Und zwar ist dieser Nutzenmaßstab umso 
problematischer, je unterschiedlicher die Ausstattung der Individuen mit diesem 
Gut ist und je unterschiedlicher die Bedürfnisse der Individuen in Bezug auf 
dieses Gut sind.
Bei sinkendem Grenznutzen der Güter gibt die 
unterschiedliche Ausstattung der Individuen mit dem als Nutzenmaßstab gewählten 
Gut gewissermaßen die Art der Normalisierung der subjektiven Nutzen 
vor. Denn die individuelle Nutzensumme für alle Alternativen und damit auch die 
Obergrenze des individuellen Nutzens für eine einzelne Alternative {-220-} kann nicht größer sein als die gesamte Gütermenge, über die 
das Individuum verfügt. Wer nur 10 Gütereinheiten besitzt, der kann der für ihn 
besten Alternative höchstens 10 Nutzeneinheiten zuteilen, während jemand, der 
1000 Gütereinheiten besitzt, für seine bevorzugte Alternative 1000 
Nutzeneinheiten geltend machen kann. "Was immer auch das Medium sein mag, durch 
welches ein Individuum die relative Intensität seiner verschiedenen Begehren 
ausdrückt, immer wird ein Vergleich zwischen den Individuen von ihrer 
anfänglichen Ausstattung mit dem betreffenden Medium abhängen."   [[30] WINCH 1971, 
S.186.] Die 
individuellen Interessen werden dabei also gewichtet entsprechend der 
Gütermenge, die sich im Besitz des betreffenden Individuums befindet, was mit 
dem Solidaritätsgebot nicht vereinbar ist.
Trotz dieser recht negativen Ergebnisse hinsichtlich der 
Brauchbarkeit geopferter Gütermengen als Nutzenindikator sollte dieses Verfahren 
jedoch nicht völlig verworfen werden, denn sein großer praktischer Vorteil ist 
die relativ leichte Umsetzbarkeit in ein zuverlässiges Messverfahren. Weitere 
Vorteile sind: 
1. Das Problem unaufrichtiger Nutzenäußerungen der Individuen ist 
insofern behoben, als für die Individuen eine Übertreibung ihrer Interessen mit 
entsprechenden Opfern verbunden ist. 
2. Die substituierten Güter gehen nicht 
verloren sondern können von andern Individuen verwendet werden, sodass die 
Kosten der Präferenzermittlung kollektiv gesehen niedrig bleiben. Es käme 
deshalb darauf an, Güter zu finden, die den oben genannten Schwierigkeiten 
möglichst wenig ausgesetzt sind, die also zum einen einen für alle {-221-} Individuen einen vergleichbaren Nutzen besitzen und mit 
denen alle Individuen möglichst gleichmäßig ausgestattet sind bzw. Deren 
Grenznutzen möglichst konstant ist. [[31] Genaugenommen ist nicht die quantitativ gleiche 
Ausstattung der Individuen mit dem Medium zu fordern, sondern eine Ausstattung 
entsprechend dem Umfang der Bedürfnisse. So hat z. B. ein Individuum, das ein Bein verloren hat, allein schon aufgrund seiner 
Schwierigkeiten bei der Fortbewegung zusätzliche Bedürfnisse.]
Allerdings ist auch der Nutzen des Geldes nicht ganz 
unabhängig von der Bedürfnisstruktur der Individuen. Insofern nämlich nur 
bestimmte Arten von Gütern gegen Geld erworben werden können, während andere 
über Geld nicht oder nur indirekt verfügbar gemacht werden können wie Zuneigung, 
Anerkennung, Ruhm, Gesundheit, Schönheit, Begabung usw., wird manchen Individuen 
Geld generell "weniger bedeuten"   als anderen, da ihre stärksten Bedürfnisse 
nicht im Bereich der käuflich erwerbbaren Güter liegen. Insofern sagt man auch 
umgangssprachlich: "Er macht sich nicht soviel aus Geld."   Im Prinzip wirken sich 
also auch beim Nutzen des Geldes individuell unterschiedliche 
Bedürfnisstrukturen aus.
Das entscheidende Problem bei der Verwendung des Geldes als 
Nutzenmaßstab liegt jedoch in der Veränderlichkeit seines Grenznutzens, der bei 
Individuen mit ähnlicher Bedürfnisstruktur aber sehr unterschiedlicher 
Geldausstattung ohne weiteres dazu führen kann, dass für einen Armen der 
Verzicht auf 10 Geldeinheiten nutzenmäßig genau so viel bedeuten kann wie für 
einen Reichen der Verzicht auf 100 Geldeinheiten. 
Allerdings wird der 
Grenznutzen des Geldes sehr viel stabiler sein als der Grenznutzen des 
Verbrauchs bestimmter naturaler Güter, bei denen meist sehr rasch eine 
Sättigungsgrenze erreicht ist, über die hinaus ein weiterer Konsum eher negativ 
bewertet wird. Demgegenüber ist Geld ja in den Konsum aller käuflichen 
Güter umsetzbar, sodass bei Sättigung in Bezug auf eine Güterart dem Individuum 
weiterhin andere Güterarten zusätzlichen Nutzen bringen können. {-223-}
Dass auch der Grenznutzen des Geldes sinkt, kann man sich 
an folgender Überlegung klarmachen. Wenn man einem Individuum sagt: "Angenommen 
du hast 100 DM zu deiner freien Verfügung. Wie würdest du sie ausgeben?", so 
wird das Individuum ein bestimmtes Güterbündel 1 beschreiben, das es erwerben 
möchte. Wenn man jetzt die verfügbare Geldsumme auf 150 DM erhöht, so wird das 
Individuum ein erweitertes Güterbündel 2 angeben, bei dem jetzt zusätzliche 
Gütereinheiten bzw. neue Gütereinheiten auftreten, die im ersten Güterbündel 
nicht enthalten waren. 
Wenn sich das Individuum rational entschieden hat, so 
müssen die im Güterbündel 2 auftretenden Güter für das Individuum einen 
geringeren individuellen Nutzen haben als Güter des gleichen Preises, die 
bereits im Güterbündel 1 enthalten waren. Denn andernfalls hätte das Individuum 
die 100 DM anfangs nicht so ausgegeben, dass es davon den größtmöglichen Nutzen 
hat und hätte seinem eigenen Interesse entgegengehandelt. Wenn z. B. im 
Güterbündel 2 eine Schallplatte für 15 DM enthalten ist, die im ersten Bündel 
nicht enthalten war, so müssen diese 15 DM dem Individuum einen geringeren 
Nutzen erbracht haben als z. B. die 15 DM für ein Buch, das bereits im ersten 
Güterbündel enthalten war. Daraus lässt sich ein sinkender Grenznutzen des 
Geldes folgern. 
Ähnlich argumentiert auch MARSHALL: "Zu einem bestimmten 
Zeitpunkt mit konstantem Vermögen ist der Grenznutzen des Geldes für ein 
Individuum eine feste Größe, sodass die Preise, die es für zwei Güter zu zahlen 
bereit ist, in demselben Verhältnis zueinander stehen wie die Nutzen dieser zwei 
Güter. Wenn ein Individuum arm ist, muss ein Ding einen größeren Nutzen haben, 
um es zum Kauf zu bewegen, als wenn es reich {-224-} ist. Wie wir gesehen haben, wird ein Angestellter mit 
100 
Pfd. im Jahr noch bei heftigerem Regen zu Fuß ins Geschäft gehen als ein 
Angestellter mit 300 Pfd. im Jahr."   [[34] MARSHALL 1972, S.80.] 
PIGOU schreibt zum Grenznutzen des 
Geldes: "Es ist offensichtlich, dass jede Übertragung von Einkommen von einem 
verhältnismäßig reichen Mann zu einem verhältnismäßig armen Mann mit 
vergleichbarer Persönlichkeit ein Anwachsen der aggregierten Summe der 
Befriedigungen bedeuten muss, da es die Befriedigung intensiverer Bedürfnisse 
ermöglicht auf Kosten weniger intensiver Bedürfnisse."   [[35] PIGOU 1948, S.89.] 
Die obige Schlussfolgerung bedarf jedoch noch einer 
Einschränkung: sofern Unteilbarkeiten von Gütern eine Rolle spielen, kann der Schluss auf einen sinkenden 
Grenznutzen des Geldes nicht einfach gezogen werden, weil sich dann durch 
zusätzliches Geld nicht nur eine Erweiterung des bisherigen Güterbündels ergibt, sondern eine völlige Umstrukturierung. Wenn 
z. B. das Individuum den dringenden Wunsch nach einem Radio hat, das aber 150 DM 
kostet, so lässt sich aus der Tatsache, dass es die 100 DM für andere Dinge 
ausgegeben hat, natürlich keineswegs folgern, dass diese Güter ihm wichtiger 
waren als das Radio. Es sind also nur Güter gleichen Preises aus beiden 
Güterbündeln nutzenmäßig vergleichbar.
Wenn jedoch der Grenznutzen des Geldes entsprechend diesen 
Überlegungen nicht konstant ist sondern sinkt, so bedeutet dies, dass der Nutzen 
einer Geldeinheit {-225-} für ein Individuum nicht unabhängig von seiner Ausstattung 
mit Geld ist. Nimmt man unter Ausklammerung der oben gemachten Einschränkung 
einmal an, dass verschiedene Individuen aus der gleichen Geldmenge ungefähr den 
gleichen Nutzen ziehen können, so folgt daraus, dass für reichere Individuen, in 
deren Eigentum sich relativ mehr Geld befindet, der Grenznutzen einer 
zusätzlichen Geldeinheit geringer ist als für ärmere Individuen. 
Aus der 
Tatsache, dass das reichere Individuum A für die Realisierung der Alternative x 
mehr Geld zu geben bereit ist als das arme Individuum B für die Realisierung der 
Alternative y, folgt deshalb also keineswegs, dass die Alternative x für A einen 
größeren individuellen Nutzen besitzt als die Alternative y für B.
In Tauschwirtschaften richtet sich die Entscheidung 
darüber, wer welche Güter konsumiert, nach der zahlungskräftigen Nachfrage der 
Individuen.[[36] s. dazu auch unten Kap. 13.] Wenn dieser Zustand als normativ gerechtfertigt angesehen wird, so 
impliziert dies die Annahme, dass diese Methode der Konsumverteilung einen 
größeren Gesamtnutzen erbringt als irgendeine andere. 
Sofern die Verteilung 
nicht noch durch andere Auswirkungen gerechtfertigt werden kann wie z. B. durch 
eine Vergrößerung der insgesamt verfügbaren Gütermenge durch die Schaffung von 
produktiven Anreizen [[37] s. dazu unten § 82.], so impliziert die Güterverteilung an den Meistzahlenden, 
dass der individuelle Nutzen des zu verteilenden Gutes für denjenigen am größten 
ist, der bereit ist, die größte Geldmenge dafür herzugeben. Das Geld fungiert 
hier gewissermaßen als kardinaler und interpersonal vergleichbarer 
Nutzenmaßstab. 
WINCH drückt dies am Beispiel {-226-} 
der Verteilung verschiedener Arten von Früchten durch den Markt folgendermaßen 
aus: "Jede Person drückt ihre Präferenzen durch ihre Nachfragepreise für die 
verschiedenen Früchtearten aus. Die kardinalen Eigenschaften des Geldes können 
dabei als Annäherung an ein kardinales Nutzenmaß fungieren. .. Die Gewichtung 
der Präferenzen jeder Person wird einerseits durch seine Vorliebe für Früchte im 
Verhältnis zu anderen Gütern bestimmt und andererseits durch sein Einkommen. 
Solche ein System hat man als Dollar-Abstimmung auf dem Markt bezeichnet. Es 
beruht auf einer von außen vorgegebenen Verteilung der Stimmkraft (Einkommen) 
und einem Mechanismus (Tausch), durch den 'Stimmen' als Indikator für die Stärke 
der Präferenzen verwendet werden können."   [[38]WINCH 1971, S.182.]
Bei einer ungleichen Verteilung der Einkommen bzw. 
der 
Kaufkraft auf die Individuen kann das Geld jedoch keineswegs annäherungsweise 
zur Konstruktion eines kardinalen, interpersonal vergleichbaren 
Nutzenmaßstabs herangezogen werden. Dies wäre ähnlich problematisch wie ein 
Abstimmungssystem, bei dem die Individuen über unterschiedliche Stimmzahlen 
verfügen. Entsprechend problematisch ist auch eine Messung der Kosten bzw. 
der negativen Nutzen durch den Maßstab des Geldes. 
Wenn Individuum A für 50 
Geldeinheiten bereit ist, eine bestimmte Arbeit auszuführen, während Individuum 
B erst für 100 Geldeinheiten dazu bereit ist, so bedeutet dies nicht notwendig, 
dass damit die Kosten der Arbeit für B zweimal so hoch sind wie für A. Dieser 
Unterschied {-227-} kann auch bei einer ähnlichen Bedürfnisstruktur der 
Individuen hinsichtlich der auszuführenden Arbeit allein dadurch hervorgerufen 
sein, dass A mit Geld sehr knapp ist und deshalb zusätzliches Geld für ihn einen 
hohen Grenznutzen besitzt, während für Individuum B aufgrund seiner besseren 
Ausstattung mit Geld zusätzliches Geld einen geringeren Grenznutzen im Vergleich 
zu A besitzt.
Dazu muss noch genauer bestimmt werden, was unter "geopferter Zeit"   zu verstehen ist. Gemeint ist gewöhnlich ja nicht eine 
tatsächliche Verkürzung der Lebenszeit der Individuen im Sinne eines früheren 
Todes, sondern eine bestimmte Verwendung der Zeit, die insofern für die 
Individuen ein Opfer darstellt, als es sich nicht um "Freizeit"   handelt, {-228-} die die Individuen entsprechend ihren eigenen Wünschen 
verwenden können. Wenn man also die Bereitschaft der Individuen, für die zur 
Entscheidung stehenden Alternativen ein bestimmtes Quantum Zeit zu opfern, als 
Indikator für die vergleichbare Größe des individuellen Nutzens dieser 
Alternative nehmen will, so bleibt dieser Maßstab unvollständig, wenn nicht 
zugleich gesagt wird, womit diese Zeit ausgefüllt werden soll. Nicht umsonst 
provoziert im Alltag die unspezifizierte Frage: "Hast du eine Stunde Zeit?"   
zuerst die Rückfrage: "Zeit wozu?", denn für bestimmte Dinge, die man gern tut, 
hat man eher Zeit als für unangenehme Tätigkeiten. 
Auch einen Arbeitsvertrag 
schließt man nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Arbeitsdauer und Entlohnung 
ab, sondern berücksichtigt auch die Art der Arbeit, die man tun muss. Jemand 
mag vielleicht bereit sein, für die Karte zu einer Premiere eine Stunde lang an 
der Theaterkasse anzustehen, aber er wird vielleicht nicht bereit sein, dafür 
eine Stunde lang Kohlensäcke zu tragen.
1. Wartezeit als Nutzenmaßstab
Unter der Voraussetzung, dass 
die geopferte Wartezeit ein kardinales, interpersonal vergleichbares Nutzenmaß 
darstellt, wird dadurch diejenige aller möglichen Güterverteilungen 
verwirklicht, bei der die Summe der individuellen Nutzen und damit der 
Gesamtnutzen am größten ist, denn diejenigen, die am längsten gewartet haben und 
damit den größten individuellen Nutzen von dem Gut haben, bekommen die Güter.
Die Annahme gleichen negativen Nutzens bei gleicher 
Wartezeit für alle Individuen ist jedoch nicht unproblematisch, wie man leicht 
zeigen kann. Wenn man z. B. in einer Schlange stehen muss, so ergeben sich für 
die Individuen Unterschiede im Ausmaß ihres Opfers z. B. schon dadurch, dass 
bestimmte Individuen wie Alte, Gebrechliche, schwangere Frauen usw. langes 
Stehen nicht so gut vertragen können wie andere. 
Es kann außerdem jeder an sich 
selbst feststellen, dass für ihn die Zeit unterschiedlich knapp ist und dass ihm 
die Stunden unterschiedlich wertvoll sind, je nach dem individuellen Nutzen der 
alternativen Beschäftigung, auf die er verzichten muss. So mag einem bei 
herrlichem Wetter die Zeit "zu schade"   sein, um in einer Schlange anzustehen, 
und man macht stattdessen lieber einen Ausflug ins Grüne. Und wer zu einem 
wichtigen Termin eine dringende Arbeit fertig stellen muss, der hat vor dem 
Termin weniger Zeit als nach dem Termin, d. h. dass die Stunden für ihn einen 
unterschiedlichen Nutzen repräsentieren. Wenn man könnte, würde man nur zu gern 
zwei Stunden vor {-230-} dem Termin gegen vier Stunden nach dem Termin eintauschen.
Die Zeit hat dabei nicht nur 
intertemporal für 
ein und dasselbe Individuum einen unterschiedlichen Nutzen. Man sagt auch von 
verschiedenen Individuen, dass ihre Zeit unterschiedlich knapp ist und dass 
bestimmte Individuen, wie z. B. Rentner, mehr Zeit haben als andere Individuen, 
die noch berufstätig sind, oder dass Hausfrauen ohne Kinder gewöhnlich mehr Zeit 
haben als Hausfrauen mit Kindern. Allgemeiner gesprochen bedeutet das: Wenn 
jemand sowieso nicht recht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll, so 
bedeutet ihm eine Stunde Wartezeit sicherlich im Verhältnis ein geringeres 
Opfer, als wenn jemand deswegen auf die Erreichung ihm wichtiger Ziele 
verzichten muss. 
Im interpersonalen Vergleich hat die Wartezeit hier sicherlich 
einen unterschiedlichen negativen Nutzen für die Individuen, sodass ihre 
Verwendung als Nutzenmaß problematisch wird. Zusätzlich problematisch wird die 
Wartezeit als Nutzenindikator, wenn die Kosten des Wartens nicht nur das 
wartende Individuum betreffen sondern zusätzlich noch weitere Individuen. Dies ist etwa der Fall, wenn 
Eltern ihre Zeit dafür verwenden, ihre Kinder zu versorgen und das Einkommen für 
die Familie zu erwerben. Dann ist jede Wartezeit nicht nur nachteilig für den 
Wartenden sondern auch für die schlechter versorgten anderen Individuen. [[42] Aus den genannten Gründen gibt es in 
Warteschlangen-Verfahren meist auch offizielle oder inoffizielle 
Sonderregelungen für solche Individuen, denen aufgrund ihrer besonderen Lage das 
Warten nicht so zugemutet werden kann wie den andern Individuen.] {-231-} 
Ein Vorteil des Warteschlangen-Verfahrens besteht darin, 
dass - ähnlich wie bei der Nutzenermittlung durch die Opferung von Güter- oder 
Geldmengen - durch den Zwang zum tatsächlichen Erbringen des Opfers die Probleme 
einer unaufrichtigen Interessenartikulation ausgeschaltet sind. Allerdings ist 
das Verfahren dadurch kollektiv gesehen außerordentlich kostspielig, dass die 
Wartezeit für die Individuen gewöhnlich vertane Zeit ist, die von den 
Individuen sehr viel besser genutzt werden könnte. Bei der Messung der Nutzen 
durch Zahlungsbereitschaft sind dagegen die Kosten der Präferenzermittlung sehr 
gering und bestehen eigentlich nur in der Zeit, die zur Ermittlung des 
Meistbietenden erforderlich ist. "Der Ökonom wird feststellen, dass verschiedene 
Formen des Ausdrucks von Präferenzstärke sich beträchtlich in Bezug auf ihre 
Effizienz unterscheiden. Der ungehinderte Tausch ist verhältnismäßig kostenarm, 
aber einige Methoden messen die Stärke von Präferenzen eigentlich durch die 
Mengen an Ressourcen, die jemand aufbraucht, um damit seine Präferenzen 
auszudrücken."   [[43] WINCH 1971, S.185.]
Zwei weitere Probleme des Nutzenindikators "Wartebereitschaft"   seien abschließend noch erwähnt. 
Zum einen muss 
sichergestellt werden, dass die Wartebereitschaft bei allen Individuen auf die 
gleiche Gütermenge bezogen wird, ähnlich wie bei der Nutzenmessung durch 
Zahlungsbereitschaft diese auch pro erworbene Gütereinheit gerechnet wird. Wenn Individuum 
A z. B. für 1 Stunde Wartezeit 10 Eintrittskarten erwirbt, {-232-} während Individuum B für die gleiche Wartezeit nur 
1 Karte 
erhält, so beträgt die Wartezeit pro Karte bei A nur einen Bruchteil der 
Wartezeit von B. Damit wäre aber die ganze Nutzenmessung durch Wartebereitschaft 
über den Halfen geworfen. Gewöhnlich werden deshalb Mengenbeschränkungen 
eingeführt, die z. B. festlegen, dass jeder Wartende nur eine Karte erhalten 
kann. [[44] Dadurch kann auch ein Weiterverkauf der Karten eingeschränkt werden, da die Verteilung ja gerade nicht an 
den Meistbietenden erfolgen sollte.]
Ein weiteres Problem stellt die Möglichkeit eines 
erfolglosen Anstehens dar, bei dem das Individuum die Wartezeit umsonst geopfert 
hat, da der Vorrat bereits verteilt war, bevor es an die Reihe kam. 
Sofern solche Risiken des erfolglosen Anstehens bestehen, steigen die Kosten des 
Verfahrens noch weiter an und können dann im Prinzip sogar den Gesamtnutzen 
durch die Verteilung der Güter übersteigen. Es müssen also geeignete Mittel 
gefunden werden, um ein aussichtsloses Warten zu verhindern, z. B. durch die 
Information der Wartenden über die zur Verteilung kommende Gesamtmenge an Gütern 
und die Höchstzuteilung pro Wartenden.
2. Arbeitsbereitschaft als Nutzenmaß
"Sofern sich eine solche Nutzenfunktion exakt ermitteln lässt, d. h. 
dass bestimmten Einkommen 
bestimmte Nutzen zugeordnet werden können, so müsste sich aus diesen 
Nutzenmessungen auch eine Verteilung des Volkseinkommens auf die einzelnen 
Menschen ermitteln lassen, die zu einem Nutzenmaximum, also dem 
Wohlstandsmaximum führt."   [[46] ZINN 1970b, S.112. Dieses 
Nutzenmaximum wäre dann 
erreicht, wenn für alle Individuen der Grenznutzen einer zusätzlichen Mark 
gemessen in Arbeitszeit gleich ist. Allerdings wird dabei von einem konstanten 
Volkseinkommen ausgegangen, d. h. es wird vorausgesetzt, dass sich aus der Art 
der Einkommensverteilung keine Rückwirkungen auf die Höhe des Volkseinkommens 
ergeben. S. dazu unten § 82.]
Bei der Verwendung der Arbeitsbereitschaft der Individuen 
als Nutzenindikator ergeben sich im Prinzip die gleichen Schwierigkeiten wie bei 
der Wartebereitschaft. Die Unterschiede in der Dauer, die Individuen bereit 
sind, für ein bestimmtes Einkommen zu arbeiten, müssen nicht unbedingt einen unterschiedlichen {-234-} Nutzen des Einkommens anzeigen. Sofern es sich um 
verschiedenartige Arbeiten handelt, ist die Vergleichbarkeit überhaupt nicht 
gegeben. 
Aber selbst dieselbe Arbeit kann verschiedenen Individuen je nach ihrer 
körperlichen und nervlichen Konstitution, nach ihren Interessen und Fähigkeiten 
unterschiedlich große Mühen oder Freuden bereiten. So mag für den einen eine 
Schreibtischtätigkeit angenehm sein, während der andere das Stillsitzen und die 
reine Kopfarbeit nur schwer erträglich findet. Die Kosten derselben Arbeit 
können also für verschiedene Individuen unterschiedlich groß sein, wodurch eine 
Verwendung der Arbeitszeit als interpersonal vergleichbarer Nutzenmaßstab 
problematisch wird. 
Zum andern spielt auch hier die alternative Verwendung der 
Zeit eine Rolle in Bezug auf das Maß an Arbeitsbereitschaft der Individuen. Wenn 
Individuum A sich in seiner Freizeit sowieso langweilen würde während Individuum 
B gerne seinem Hobby nachgehen würde, so mag deswegen die Arbeitsbereitschaft 
von A höher sein als die von B, ohne dass deshalb auch der individuelle Nutzen 
des Einkommens für A höher sein muss als für B. Für A ist vielleicht nur der 
negative Nutzen der Arbeitszeit niedriger, die hier als Nutzenindikator genommen 
wird. 
Hier tritt ein Problem auf, das 
bei allen Verfahren besteht, die aufgrund von Wahlhandlungen der Individuen den 
Nutzen bestimmen wollen. "Wenn ein Individuum die Situation x gegenüber der 
Situation y vorzieht, während ein anderes Individuum y gegenüber x vorzieht, ist 
dies so, weil das erstere Individuum der Situation x einen höheren Nutzen 
zuschreibt oder weil es der Situation y einen niedrigeren Nutzen zuschreibt {-235-} als es das letztere Individuum tut - oder ist dies 
vielleicht das Ergebnis beider Faktoren gleich?"  [[47] HARSANYI 1955, S.279.]
 Wenn ein bestimmtes Gut wie 
Freizeit bzw. Arbeitszeit als Nutzenindikator genommen wird, so können 
die Unterschiede zwischen den Individuen in Bezug auf einzelne Alternativen 
einen individuell unterschiedlichen Nutzen der Alternativen anzeigen. Sie können 
jedoch auch einen unterschiedlichen Nutzen des als Nutzenindikator genommenen 
Gutes, in diesem Fall der Arbeitszeit, anzeigen oder aber einen 
unterschiedlichen Nutzen beider Elemente. 
Auch die Arbeitszeit hat - ähnlich wie 
andere Güter - keinen konstanten Grenznutzen. Die 10. Arbeitsstunde 
hintereinander wird einem Individuum schwerer fallen als die 1. Arbeitsstunde, 
und dem einen Individuum fällt eine bestimmte Arbeit generell leichter als einem 
anderen. Insofern kann die Bereitschaft der Individuen, Arbeitszeit für die 
Realisierung der zur Entscheidung stehenden Alternativen einzusetzen, ebenfalls 
höchstens eine Annäherung an einen interpersonal vergleichbaren Nutzenmaßstab 
darstellen. Ob diese Annäherung im Einzelfall besser ist als bei anderen 
vorgeschlagenen Nutzenindikatoren, wäre unter dem Gesichtspunkt des oben 
entwickelten Nutzenvergleichs durch Identifikation mit dem andern in Form eines "Sich-hineinversetzens-in-den-andern"   näher zu prüfen. {-236-}
3. ZINNs Begründung für die Zeit als Nutzenmaß
Zum andern kann man im allgemeinen 
davon ausgehen, dass für jeden Menschen die Verkürzung seiner Lebenszeit einen 
ähnlich großen negativen Nutzen bedeutet und eine vergleichbare Beeinträchtigung 
seiner Interessen darstellt. Allerdings stellt sich auch hier bereits für einen 
unheilbar Leidenden oder einen zu lebenslänglicher Haft Verurteilten das Problem 
anders, wie man schon aus der Tatsache des Freitodes schließen kann. Denn bei 
der Wertschätzung ihres Weiterlebens durch die Individuen spielt natürlich auch 
die Art des Lebens, das sie zu erwarten haben, eine Rolle. [[49] ZINN leitet die Annahme, "dass alle Menschen 
prinzipiell ihr Leben gleich stark lieben", aus der generellen Ähnlichkeit der 
Individuen ab. S. ZINN 1970a, S.75f.]
Allerdings kann ein Opfer an Lebenszeit nicht unmittelbar 
gleichgesetzt werden mit einem Opfer an Freizeit durch Arbeit, wie es ZINN tut, 
wenn er {-237-}ausführt: "Die endliche Dauer des Lebens macht es sinnvoll, 
die Arbeit als Hingabe von Lebenszeit zu verstehen."   [[50] ZINN 1970a, S.75f.] Denn unter 
bestimmten Umständen kann Freizeit "langweilig"   sein und Arbeit befriedigen. 
Die 
Problematik einer solchen Gleichsetzung von Arbeitszeit mit verlorener 
Lebenszeit kann man sich verdeutlichen, wenn man sich einmal die hypothetische 
Frage vorlegt, ob man lieber eine um die Arbeitszeit verkürzte Lebensdauer ohne 
Arbeit will oder lieber eine normale Lebensdauer unter Einschluss der 
Arbeitszeit. Nach der Konstruktion von ZINN müsste man gegenüber beidem 
indifferent sein.
Auch die Ableitung der Lebenszeit als Nutzenmaß aus dem 
Gleichheitsprinzip, wie sie ZINN vornimmt, ist nicht unproblematisch. "Unterstellt man als Verfassungsgrundsatz, ja als weltweit anerkannte Norm, dass 
alle Menschen gleichwertig sind .., so gilt dies auch für die Leben der Individuen. .. Die Wertgleichheit 
der Menschenleben impliziert auch die Wertgleichheit aller einzelnen 
Lebensstunden verschiedener Menschen. .. (Daraus, E.W.) ergibt sich, dass als 
plausibles Nutzenmaß die Zeit, genauer die Lebenszeit, verwendet werden müsste."   
[[51] ZINN 1970b, S.113.] 
Mit dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen in seiner 
allgemeinen Form sind sicherlich auch andere Entscheidungsverfahren logisch 
vereinbar. Man denke etwa an die Auffassung, dass dem Gleichheitsprinzip dadurch 
entsprochen wird, dass alle Individuen gleiche Rechte haben, z. B. das gleiche 
Recht auf Erwerb und Veräußerung {-238-} von privatem Eigentum. Aus der ganz allgemeinen Form 
des Gleichheitsprinzips lassen sich die verschiedensten Entscheidungsverfahren 
logisch "deduzieren", je nachdem in Bezug auf welchen Aspekt man Gleichheit 
fordert.
Trotz dieser kritischen Einwände zur Verwendung der 
Arbeitszeit als interpersonal vergleichbaren Nutzenmaßstab erscheint jedoch ein 
solcher Maßstab dann geeigneter als der Geldmaßstab, wenn das Geldvermögen der 
Individuen sehr unterschiedlich ist. Denn dann kann man in der Regel davon 
ausgehen, dass Individuen durch dieselbe Arbeit vergleichbareren Nachteilen 
unterliegen als durch die Zahlung derselben Geldsumme. {-239-}
Die Nutzenterminologie ist im Zusammenhang der normativen 
Methodologie nichts anderes als eine geeignete Ausdrucksweise, um die Willens- 
bzw. Interessenstruktur von Individuen möglichst genau wiederzugeben. Zu sagen, 
dass eine Alternative für ein Individuum einen größeren Nutzen hat als eine 
andere, bedeutet also nichts anderes, als dass die Realisierung dieser 
Alternative dem Willen des Individuums mehr entspricht als die Realisierung der 
andern Alternative.
Aus diesem Grunde wäre es auch unzulässig, "Nutzen"   
definitorisch gleichzusetzen mit irgendwelchen Empfindungen des 
Glücks oder der Lust. Der Satz: "In diesem Zustand empfinde ich Glück"   ist nicht 
gleichbedeutend mit dem Satz: "Ich will diesen Zustand". 
Das eine Mal handelt es 
sich um die Beschreibung eines Gefühls, während der andere Satz Ausdruck 
eines Willens ist. Insofern impliziert der Gebrauch des Begriffs "Nutzen"   hier 
auch nicht den ethischen Hedonismus, der behauptet, dass nur die Empfindungen 
des Glücks oder der Lust Nutzen haben können. In dem hier gemeinten Sinn kann 
alles individuellen Nutzen haben, was von einem Individuum gewollt wird. [[1] Zum Hedonismus s. z. B. FRANKENA 
1972, S.102f.] {-240-}
Die Beziehung zwischen der Beschreibung einer Empfindung 
und dem Ausdruck eines Willens ist also nicht logischer Natur. Allerdings kann 
sich aus einer solchen Empfindung ursächlich ein Wollen ergeben, wenn 
z. B. die empirische Regelmäßigkeit besteht, dass alle Menschen bzw. bestimmte 
Gruppen von Menschen Zustände, die ihnen Glücksgefühle bereiten, gegenüber 
anderen vorziehen. Dies ist jedoch im Prinzip eine empirische Frage und die 
These des psychologischen Hedonismus: "Alle Menschen streben nur nach Glück"   
kann dann im Prinzip an der Erfahrung scheitern. [[2] Das setzt allerdings 
voraus, dass die Variable "Glück"   unabhängig von der Variable "Wille"   definiert 
wird, sodass beide unabhängig voneinander messbar sind.] Demgegenüber wäre der Satz: "Alle Menschen streben nach größtem Nutzen"   rein tautologisch; er enthält nur 
die Definition des Nutzens als das, was die Individuen wollen, und ist deshalb 
per Definition wahr.
Auf der allgemeinen Ebene bedeutet der Satz: "Die 
Alternative x hat einen größeren Gesamtnutzen als die Alternative y"   
entsprechend: "Die Realisierung der Alternative x entspricht dem solidarischen 
Willen aller Individuen mehr als die Alternative y". Die explizite Norm: "Alternative x soll realisiert werden!"   ergibt sich dann aus diesem Willensausdruck, das "Sollen"   ergibt sich also aus einem "Wollen". Damit ist 
auch dem möglichen Vorwurf begegnet, dass hier unzulässigerweise aus 
Tatsachenaussagen logisch-deduktiv auf Sollensnormen geschlossen wird und damit 
das HUMEsche Gesetz verletzt wird. [ [3] Vgl. hierzu die Kritik von MOORE an den 
Utilitaristen in MOORE 1970, S.108ff. sowie die Kommentare in FRANKENA 1939 und 
WARNOCK 1966, S .19ff.] {-241-}
Der Übergang von einem Willensausdruck zu einer 
Sollensforderung bedeutet dabei nur eine Umformulierung, wie bereits oben 
dargelegt wurde. Statt zu sagen: "Ich will, dass du x tust!"   kann man auch 
sagen: "Tue x!"   bzw. "Du sollst x tun!". Dabei wird nur die normsetzende 
Instanz nicht noch einmal ausdrücklich erwähnt, der Sinn ist jedoch derselbe. 
[[4] S. oben § 4] Es findet also im Argumentationsgang kein logischer Schluss vom "Sein"   
auf das "Sollen"   statt. Wenn der Wille der Individuen ermittelt wird und gemäß 
dem Solidaritätsgebot zu einem Gesamtwillen zusammengefasst wird, der 
schließlich in eine explizite Norm umformuliert wird, so bildet von Anfang an 
ein Sollens-Element in Form der individuellen Willen den Ausgangspunkt. Der 
Anschein eines naturalistischen Fehlschlusses entsteht hier vor allem dadurch, 
dass Nutzenbestimmungen als gewöhnliche indikative Feststellungen - jedenfalls der 
grammatischen Form nach - auftreten, aus denen dann Soll-Sätze abgeleitet werden. 
Eine Nutzenbestimmung ist jedoch eine Feststellung über einen Willensausdruck ebenso wie das Ergebnis eine Feststellung über die Gültigkeit einer 
Norm ist.
Diese Forderung hat insofern eine gewisse Berechtigung, als 
durch soziale Faktoren die Auffassungen der Individuen von ihren 
Interessen beeinflusst werden und sie möglicherweise ein falsches 
Interessenbewusstsein erhalten, z. B. wenn sie dem Einfluss manipulativer 
Propagandaapparate ausgesetzt werden, die mit Unterdrückung oder Verfälschung 
von Tatsachen und Argumenten, mit schönfärberischer oder herabsetzender 
Rhetorik, mit dem gezielten Appell an vorhandene Vorurteile und Ideologien und 
mit allen sonstigen Mitteln der modernen Massenbeeinflussung und Erziehung die 
Individuen von der Erkenntnis ihrer wirklichen Interessen abhalten wollen.
Eine solche Verfälschung des 
subjektiven Interessenbewusstseins durch die Erzeugung unqualifizierter 
Interessenartikulationen wird jedoch durch die Forderung nach einer 
Qualifikation der individuellen Interessen und durch die Forderung nach 
intersubjektiver Nachvollziehbarkeit der individuellen Interessen korrigiert. 
Zum Ausgangspunkt werden ja nicht die Interessen genommen, die die Individuen zu 
haben meinen, sondern diejenigen Interessen, die sie bei Kenntnis der 
Alternativen und ihrer Folgewirkungen sanktionsfrei artikulieren würden. [[5] S. Dazu unten Kap. 
10] {-243-}
Wenn jedoch die qualifizierten Interessen der Individuen 
zur Grundlage der Normenbestimmung genommen werden, so ergibt sich darüber 
hinaus aus der Tatsache ihrer sozialen Beeinflussung keinerlei Grund, nicht die 
individuellen Interessen zum Ausgangspunkt zu nehmen, denn durch die soziale 
Abhängigkeit werden diese ja nicht weniger real. Wenn jemand z. B. durch die 
schwere und schlechtbezahlte Arbeit, die er unter einem bestimmten 
Wirtschaftssystem zu leisten hat, ein Interesse an einem alternativen 
Wirtschaftssystem entwickelt, so ist nicht einzusehen, warum nicht auch dies 
individuelle Interesse bei der Bestimmung einer argumentativ Konsensfähigen 
Wirtschaftsordnung berücksichtigt werden soll. [[6] Zur bewussten Gestaltung der individuellen 
Interessen durch soziale Veränderungen s. u. § 50.]
Übrigens bedeutet die durch das Solidaritätsgebot 
geforderte Bezugnahme auf die Interessen der Individuen keineswegs, dass es sich 
dabei um völlig disparate und unterschiedliche Interessen atomisierter 
Individuen handeln muss. Sofern es Gruppen, Klassen oder Schichten von 
Individuen gibt, die eine ähnliche Interessenlage entwickeln - und dies ist 
immer dann zu erwarten, wenn sie in ähnlichen Lebensumständen leben oder gelebt 
haben - , so werden über die individuellen Interessen auch die Interessen 
dieser Klassen und Schichten erfasst.
Deutet man die Tatsache, dass die Interessen der Individuen 
von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig sind, jedoch in der Weise, dass die 
individuellen Interessen mit diesen gesellschaftlichen Verhältnissen immer im 
Einklang stehen müssen, so wird {-244-}eine solche These falsch und entspricht keineswegs mehr den 
Tatsachen, wie die überall zu beobachtenden Formen von Gesellschaftskritik, 
Opposition oder Revolution gegen bestehende Ordnungen zeigen. Dass bestimmten 
Lebensumständen bestimmte Interessenlagen "entsprechen", bedeutet also noch 
nicht, dass sie sich damit in Übereinstimmung befinden. 
Wer für die Bestimmung gültiger Normen einen andern 
Ausgangspunkt nehmen will als die wirklichen Interessen der Individuen, gerät 
unvermeidlich in ein Dilemma. Denn aus den gesellschaftlichen Verhältnissen als 
solchen in ihrer reinen Faktizität lässt sich aus logischen Gründen keine Norm 
ableiten, da dies einen unzulässigen Schluss vom Sein auf das Sollen beinhalten 
würde. [[7] s. o. § 24.] 
Bezugspunkt für die Ableitung von Normen muss also aus logischen Gründen 
ein irgendwie gearteter Wille sein. Wenn man diesen Willen nun z. B. in einem 
über den Individuen stehenden "Geschichtsplan"   sieht, der der Entwicklung der 
menschlichen Gesellschaft zugrunde liegt - etwa nach Art des HEGELschen 
Weltgeistes oder seiner säkularisierten Nachfolger - , so werden dadurch 
die Bedingungen eines argumentativen Konsens der Individuen zerstört. Denn wo 
ein Individuum in seinem qualifizierten eigenen Willen keine Berücksichtigung 
findet und damit nur Gehorsam gegenüber der historischen "Aufgabe"   gefordert 
wird, geht es zumindest potentiell um eine gewaltsame und nicht um eine 
argumentative Auseinandersetzung. [[8] s. o. § 13]Wenn jedoch behauptet wird, dieser in {-245-} der Menschheitsgeschichte enthaltene "Plan"   oder "Sinn"   
decke sich in Wahrheit mit den wirklichen Interessen der Individuen, so entfällt 
jeder Grund, nicht von den individuellen Interessen auszugehen und stattdessen sich auf den Willen überindividueller 
Wesenheiten zu beziehen.
Andererseits würde eine solche Selektion von zulässigen und 
unzulässigen Interessen bereits die Gültigkeit von Werturteilen und Normen 
voraussetzen, die ja erst durch die solidarische Zusammenfassung der 
individuellen Interessen bestimmt werden sollen.
Dies Dilemma ist jedoch nur scheinbar, denn die 
Berücksichtigung "bösartiger"   Interessen wie Mordlust oder Missgunst hat 
keinerlei negative Auswirkungen auf die Entscheidung über die beste 
Norm. Wenn die Bösartigkeit von Interessen gerade dadurch bestimmt ist, dass sie 
auf die Schädigung und den Nachteil anderer Individuen gerichtet sind, so {-246-} sind Alternativen, die solchen bösartigen Interessen 
entsprechen, von vornherein zur Aussichtslosigkeit verurteilt, da der 
individuelle Nutzen des "bösen"   Individuums durch den Schaden der betroffenen 
Individuen in jedem Falle aufgehoben wird. Anders ausgedrückt: Wenn sich bösartige 
Interessen gerade dadurch auszeichnen, dass durch ihre Realisierung mehr Schaden 
als Gutes angerichtet wird, so kann sich aus ihrer Berücksichtigung niemals eine 
Entscheidung zugunsten ihrer Befriedigung ergeben, denn der Gesamtnutzen der 
ihnen entsprechenden "bösartigen"   Alternativen muss negativ sein.
Wegen dieser Sachlage kann man aufgrund praktischer 
Erwägungen solche "bösartigen"   Interessen oft von vornherein unberücksichtigt 
lassen, zumindest sofern man sicher sein kann, dass der Nutzen ihrer 
Befriedigung geringer ist als der Schaden, der anderen dadurch zugefügt wird. 
Auf keinen Fall dürfen jedoch Interessen von der Berücksichtigung ausgeschlossen 
werden, weil man sie aufgrund vorgängiger moralischer Urteile als "niedrig", "unsittlich"   oder "schlecht"   abgestempelt hat. Dies muss sich immer erst durch 
ihre Unvereinbarkeit mit den überwiegenden Interessen der andern Individuen 
erweisen.
Bei der Bestimmung des wirklichen Interesses eines 
Individuums muss also der Fehler vermieden werden, dass unbemerkt normative 
Prämissen eingeführt werden. Dies wäre z. B. der Fall, wenn man ein normatives Menschenbild voraussetzt, bei dem zwischen "höheren"   und "niederen"   
Bereichen der Persönlichkeit unterschieden wird. Die höheren geistigen Bereiche 
der Persönlichkeit bekommen dann etwa den Vorrang gegenüber den niederen 
sinnlichen Bereichen{-247-} und enthalten die "eigentlichen"   oder "wesensmäßigen"   
Interessen des Individuums.  [[9] Zur Kritik des normativen Essentialismus und Finalismus s.o. 
§ 24/2.] 
Eine andere Form, um unzulässiger Weise in die Bestimmung 
der individuellen Interessen normative Prämissen einzuführen, besteht in der 
Abqualifizierung bestimmter Wünsche als "krankhaft"   oder pathologisch. 
Dass bestimmte Bedürfnisse vielleicht nicht mit dem Gesamtinteresse und dem 
System gültiger Normen vereinbar sind, darf keine Rolle bei der Beantwortung der 
Frage spielen, ob sie im Eigeninteresse eines bestimmten Individuums sind. 
Ebenso darf es keine Rolle spielen, dass diese Bedürfnisse vielleicht 
ungewöhnlich oder "unnormal"   sind. Damit wäre der Streit um gültige 
Normen nur auf die Ebene verdeckt normativer Begriffe wie "Krankheit"   oder "Normalität"   verschoben.
Die aus dem Solidaritätsprinzip ableitbare Forderung nach 
Berücksichtigung aller individuellen Interessen, sofern sie qualifiziert sind 
und vom Individuum selber wirklich gewollt werden können, entspricht der "Aufforderung zur Offenheit der Beratung"   bei SCHWEMMER, die lautet: "Keine vorgebrachte Begehrung soll von der Beratung ausgeschlossen werden! Oder: 
Jede vorgebrachte Beratung soll zur Beratung zugelassen werden!"   [[10] SCHWEMMER 1971, S.107. Terminologisch 
entspricht eine 'Beratung' bei SCHWEMMER etwa einer 'normativen Argumentation', 
während eine 'Begehrung' einem 'individuellen Interesse' entspricht.]{-248-}
Aufgrund des Solidaritätsprinzips kann es keine Interessen 
geben, die als solche schlecht sind. Sie können es nur insofern sein, als ihre 
Befriedigung die Interessen anderer Individuen beeinträchtigt, wodurch eine 
Verringerung des erreichbaren Gesamtnutzens herbeigeführt würde. Insofern 
entsprechen solche "unharmonischen"   Interessen nicht dem Gesamtinteresse. "Die Menschen begehren allerhand Dinge, und an sich genommen sind alle Begierden 
gleichberechtigt, d. h. es besteht kein Grund, die Befriedigung der einen 
derjenigen der andern vorzuziehen. Betrachten wir aber nicht eine einzelne 
Begierde, sondern eine Gruppe von solchen, so besteht der Unterschied, dass 
zuweilen alle Begierden einer Gruppe befriedigt werden können, während in andern 
Fällen die Befriedigung von einigen aus der Gruppe mit derjenigen von andern 
unvereinbar ist. Wenn A und B sich gegenseitig heiraten möchten, so können beide 
haben, was sie wünschen; aber wenn sie einander zu töten begehren, so kann 
höchstens einer an sein Ziel gelangen. ... Daher ist das erste Paar von Begierden 
in sozialer Beziehung dem zweiten vorzuziehen."   [[11] RUSSELL 1971, S.193]
Dieser Gesichtspunkt ist vor allem von Bertrand RUSSELL in 
seinen ethischen Schriften betont worden. [[12] RUSSELL sagt von sich selber: "Der Wunsch, Begehren 
in Einklang miteinander zu bringen, ist das Hauptmotiv meiner politischen und 
sozialen Auffassungen, von der über die Kindererziehung bis zu der über den 
internationalen Staat."   RUSSELL 1971, S.203. ] "Unter Entlehnung eines 
Leibnizschen Ausdrucks bezeichne ich eine Anzahl von Wünschen als 'miteinander 
verträglich' (compossible), wenn sie sämtlich durch denselben Zustand befriedigt 
werden können; wenn sie sich nicht miteinander vertragen, so bezeichne ich sie 
als miteinander unvereinbar. ... Die Wünsche derer, die einander wohlwollen, sind 
miteinander verträglich; diejenigen aber, die sich gegenseitig übelwollen, sind 
miteinander unvereinbar. Es versteht sich, dass ein größeres Gesamtmaß an 
Wunschbefriedigung dort erreicht wird, wo Wünsche miteinander verträglich sind 
als wo sie unvereinbar sind."   [[13] RUSSELL 1956, S.61f.] 
Da RUSSELL von der These ausgeht: "Ein Geschehen ist besser 
als ein anderes, wenn es mehr Wünsche oder {-250-} einen stärkeren Wunsch befriedigt"  [[14]RUSSELL 1956, S.57], so ergibt sich 
zusammen mit dem oben gesagten die Regel: "Handle so, dass du eher harmonische 
als widerstreitende Begierden erzeugst. Diese Regel gilt für das ganze Gebiet, 
auf das sich der Einfluss eines Menschen erstreckt: sein eigenes Inneres, seine 
Familie, seine Stadt, sein Land und sogar die Welt als Ganzes, wenn er imstande 
ist, sie zu beeinflussen. Es wird zwei Hauptmethoden zur Erreichung dieses 
Zieles geben: erstens solche soziale Einrichtungen herzustellen, dass die 
Interessen der verschiedenen Individuen unter ihrer Herrschaft so wenig wie 
möglich kollidieren; zweitens die Individuen derart zu erziehen, dass ihre 
Begierden unter sich und mit den Begierden der Nachbarn harmonieren."   [[15]RUSSELL 
1971, S.195.] 
Bei dieser Betrachtungsweise werden also die individuellen 
Interessen als veränderbar betrachtet, und es wird gefragt: Welche politischen, 
ökonomischen und pädagogischen Bedingungen müssen geschaffen werden, um die 
Ausbildung miteinander möglichst verträglicher und gleichzeitig zu befriedigender Interessen zu 
fördern und dadurch einen Zustand höheren Gesamtnutzens zu erreichen.
Wenn gesagt wurde, dass es die Aufgabe der Erziehung und 
der politischen Gestaltung der sozialen Institutionen ist, unvereinbare 
Interessen zu beseitigen und möglichst harmonische Interessen zu erzeugen, so 
ist dies Ziel allerdings nicht dadurch zu erreichen, dass {-251-}gegenüber unharmonischen Interessen nun in den betreffenden 
Individuen Gegenmotive wie Schuldgefühle oder Strafängste aufgebaut werden. Denn 
dadurch bleiben die unverträglichen Interessen ja als solche erhalten und werden 
nur in das Innere des Individuums zurückgedrängt. Der Konflikt ist also nur in das 
Individuum hineinverlegt worden, aber nicht beseitigt worden. 
Dementsprechend 
fordert SCHWEMMER: "Auch die Konflikte zwischen den Zwecken einer Person - 
'innere Konflikte' - sollen dabei mitberücksichtigt werden: sonst würde die 
Aufgabe der Konfliktbeseitigung zu einer sozialen Befriedung degenerieren, die 
dadurch zu lösen wäre, dass man die sozialen Konflikte zu psychischen 
verinnerlicht und so einen äußeren 'Frieden' herstellt."  [[16] SCHWEMMER 1973, S.78.] Gefordert ist also 
nicht eine Verdrängungspädagogik, die die nicht mit dem Gesamtinteresse 
vereinbaren individuellen Interessen nur unterdrückt und aus dem Bewusstsein 
verdrängt, sondern eine Erziehung, die die Ausbildung veränderter harmonischer 
Interessen der Individuen bewirkt.
Ähnlicher Meinung sind auch BIRNBACHER und HOERSTER: "Nur 
über eine zentrale Unzulänglichkeit der utilitaristischen Ethik besteht so gut 
wie Einigkeit: dass sie unvermögend ist, Prinzipien der Gerechtigkeit, 
insbesondere der Verteilungsgerechtigkeit, aus sich heraus zu begründen. Das 
Prinzip der Nutzenmaximierung sagt nichts über die Kriterien der Nutzenverteilung. [[18] 
BIRNBACHER/HOERSTER 1976, S.202. Siehe auch BARRY 
1960/61.]
Nicht zuletzt dies Problem der Verteilungsgerechtigkeit hat 
auch RAWLS veranlasst, sich gegen das utilitaristische Modell der 
Nutzenaggregation zu wenden und ausdrücklich eine Theorie der Gerechtigkeit {-253-} zu entwickeln: "Ein ins Auge fallender Zug der 
utilitaristischen Sicht der Gerechtigkeit besteht darin, dass es keine Rolle 
spielt, ausgenommen indirekt, wie diese Summe von Befriedigungen auf die 
Individuen verteilt wird. ... Die richtige Verteilung ist in jedem Fall die, 
welche die größte Befriedigung ergibt. ... Deshalb gibt es im Prinzip keinen 
Grund, warum der größere Gewinn einiger nicht die geringeren Verluste anderer 
kompensieren könnte, oder was wichtiger ist, warum die Verletzung der Freiheit 
weniger Individuen nicht gerechtfertigt sein könnte durch ein von vielen 
geteiltes größeres Gutes."   [[19] RAWLS 1973, S. 26. Seine stattdessen entwickelte 
Theorie der Gerechtigkeit kann hier nicht diskutiert werden. S. dazu ausführlich 
BARRY 1973.]
Was die mögliche Verletzung der Freiheit einzelner 
Individuen zum Zwecke einer Erhöhung des Gesamtnutzens betrifft, so besteht 
dieser Einwand gegen den klassischen Utilitarismus wahrscheinlich zu Recht, 
nicht jedoch gegenüber der hier entwickelten Theorie. Bei dieser ergibt sich das 
Prinzip der Maximierung des Gesamtnutzens als eine Präzisierung des 
Solidaritätsgebots. Dies wiederum leitet sich ab aus der grundlegenden Forderung 
des Intersubjektivitätsgebots, nach einem argumentativen Konsens über Normen 
zu suchen. 
Wo jedoch durch eine Norm jene grundlegenden Freiheiten des 
Individuums verletzt werden, die überhaupt erst die Bedingung für einen 
argumentativen Konsens darstellen, wie z. B. die Freiheit der 
Meinungsäußerung, da ist das Intersubjektivitätsgebot verletzt, und es kann 
keinerlei Rechtfertigung dieser Norm mehr geben - auch nicht mit dem Hinweis {-254-} auf eine Maximierung des Gesamtnutzens - , denn durch die 
Verletzung der Argumentationsbedingungen ist die Allgemeingültigkeit der Norm 
im wahrsten Sinne des Wortes "indiskutabel"   geworden. [[20] S. oben § 
20] Das Problem der "unveräußerlichen Rechte und Freiheiten des Individuums"   
ist bei dem hier vorgetragenen Ansatz also durch die Einbindung des 
Nutzenkalküls in das Intersubjektivitätsgebot gelöst worden.
Damit ist jedoch noch nicht das generelle Problem der 
möglicherweise ungerechten Verteilung der individuellen Nutzen gelöst, das sich 
ja nicht nur auf unmittelbar aus dem Intersubjektivitätsgebot ableitbare Rechte 
bezieht. Seine Plausibilität gewinnt dieser Einwand aus der Betrachtung des 
Nutzens in Analogie zu dinglichen Gütern, die auf die Individuen verteilt 
werden. Bei solchen Gütern, wie z. B. Brot, ist es offensichtlich, dass man 
alternative Situationen nicht nur danach bewerten kann, wie viel von diesem Gut 
insgesamt vorhanden ist, sondern auch danach, wie diese Gesamtmenge auf 
die Individuen verteilt ist. [[21] In der Paretianischen Wohlfahrtsökonomie wurde 
versucht, den Verteilungsaspekt auszuklammern, doch gab dies Anlass zur Kritik. 
S. dazu unten § 74.]
Demgegenüber ist "Nutzen"   jedoch überhaupt 
kein Gut sondern eine Bewertungsdimension und verhält sich in seiner Größe auch 
nicht proportional zu irgendwelchen physischen Gütermengen. [[22] Vgl. dazu 
oben § 44.]. Insofern 
kann man höchstens bildlich von einer Nutzen"  menge"   sprechen, die auf die 
Individuen "verteilt"   wird, so {-255-} als sei sie eine Gütermenge. Was ist aber dann mit einer "ungerechten Nutzenverteilung"   gemeint?
Es kann einmal damit gemeint sein, dass die Realisierung 
derjenigen Alternative mit dem höchsten Gesamtnutzen bestimmten Individuen u. U. 
beträchtliche Vorteile bringt, während andere Individuen davon große Nachteile haben. Diese starke Veränderung der individuellen 
Nutzenniveaus gegenüber dem Status quo in entgegen gesetzte Richtungen würde 
danach eine Alternative "ungerecht"   und damit normativ unakzeptabel machen. Eine 
solche Einschränkung der normativ zulässigen Alternativen auf solche, die eine 
relativ ähnliche Veränderung der Nutzenniveaus beinhalten, erscheint jedoch 
problematisch. 
Das kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Wenn z. B. einige 
Leute gemeinsam mit dem Auto zu einem Fest fahren, so ist u. U. derjenige gegenüber den 
andern im Nachteil, der das Auto nach Hause fahren muss und deshalb keinen 
Alkohol zu sich nehmen darf. Trotzdem wird man nicht annehmen, dass es eine 
normativ akzeptablere Lösung wäre, wenn nun alle auf Wein oder Bier verzichten, 
um in gleicher Weise schlechter gestellt zu werden.
Solche Situationen, wo irgendeiner ein Opfer bringen muss, 
um für viele andere einen großen Vorteil zu bewirken, sind relativ häufig; und 
es hält uns auch kein elementares Gerechtigkeitsempfinden davon ab, dies 
besondere Opfer für gerechtfertigt zu halten. Wir empfinden es im Gegenteil eher 
als eigentlich moralische Haltung, wenn jemand einsieht, dass das eigene Opfer 
wegen des vergleichsweise größeren Nutzens des andern Individuen gerechtfertigt 
ist. Man denke etwa an einen Kapitän, der beim Schiffbruch sein eigenes Leben 
opfert, um das vieler Passagiere zu retten. {-256-} 
Allerdings bedeutet dies nicht, dass solche aufgrund des 
größeren Gesamtnutzens gerechtfertigten Opfer systematisch nur bestimmten 
Individuen auferlegt werden dürfen. Dies wäre eine "ungerechte"   Behandlung, da 
nicht mehr personunabhängig ohne Ansehen der Identität verfahren würde, wie es 
vom Solidaritätsprinzip geboten ist. Wenn irgendjemand ein solches Opfer für die 
andern auf sich nehmen muss und dieses Opfer für alle Individuen gleich groß ist 
und es deshalb allen in gleicher Weise zugemutet werden kann, so folgt daraus ja 
noch nicht, dass ein bestimmtes Individuum dies Opfer zu tragen hat. In 
einem solchen Fall wäre eine solidarische Interessenberücksichtigung z. B. 
dadurch gewährleistet, dass derjenige ausgelost wird, der das Opfer übernehmen 
soll.
Weiterhin kann mit einer "ungerechten Nutzenverteilung"   
gemeint sein, dass zwischen den absoluten Nutzenniveaus der Individuen große 
Differenzen bestehen, d. h. Dass es den einen Individuen sehr viel besser geht 
als den andern Individuen. Der Einwand gegen das Prinzip des größten 
Gesamtnutzens würde dann lauten, dass dadurch nur das höchste durchschnittliche 
Nutzenniveau angestrebt wird, dass aber die Streuung der 
individuellen Nutzenniveaus um diesen Durchschnitt nicht berücksichtigt wird. 
[[23]Zum logischen Verhältnis von "Nutzen"   und "Nutzenniveau"  s.o. 
§ 31/1. Bei gegebener Zahl der Individuen hat diejenige Alternative mit dem 
höchsten Gesamtnutzen auch immer die höchste Summe der Nutzenniveaus und das 
durchschnittlich höchste Nutzenniveau. Probleme ergeben sich allerdings, wenn 
man die Zahl der Individuen nicht mehr als konstant betrachtet, sondern z. B. 
nach der besten Wachstumsrate der Bevölkerung sucht. S. hierzu kritisch MYRDAL 
1963, S.32.] 
Dazu ist vorweg festzustellen, dass in bestimmten Fällen {-257-} eine Gleichheit der Nutzenniveaus überhaupt nicht 
realisiert werden kann, weil die Bedingungen, die das Wohlergehen bestimmter 
Individuen auf ein niedrigeres Niveau drücken, nicht beeinflussbar sind. Wenn 
jemand z. B. unheilbar an Krebs erkrankt ist, so kann keine Macht der Welt sein 
Nutzenniveau dem Niveau eines gesunden Individuums angleichen. [[24] Etwas anderes wäre es jedoch, wenn von Menschen 
veränderbare Bedingungen dafür verantwortlich sind, dass bestimmte Menschen mit 
größerer Wahrscheinlichkeit erkranken als andere. Dies ist dann kein "Schicksal"   
mehr, sondern Auswirkung einer möglicherweise ungerechten sozialen Ordnung.] Das 
Problem der Angleichung der individuellen Nutzenniveaus stellt sich also immer 
nur im Rahmen des Menschenmöglichen als Entscheidung zwischen tatsächlich 
verfügbaren Alternativen.
Wäre jedoch im Rahmen des Menschenmöglichen eine 
Angleichung der individuellen Nutzenniveaus in dem Sinne anzustreben, dass 
Alternativen mit einer geringeren Streuung vorzuziehen sind? Diese Frage muss 
verneint werden, denn ein solches Verfahren könnte im Endeffekt darauf 
hinauslaufen, dass alle Individuen gleich schlecht gestellt 
werden. Auch ein das Maximierungskriterium ergänzendes zusätzliches 
Gerechtigkeitskriterium erscheint nicht notwendig, weil bei der Bestimmung der 
individuellen Nutzen das vorhandene Interesse an einer Angleichung der 
Güterausstattung und der Nutzenniveaus bereits berücksichtigt wird.
Dies kann am Problem der Verteilung eines von allen 
Individuen begehrten knappen Gutes veranschaulicht {-258-} werden. Um diejenige Verteilungsalternative mit dem größten 
Gesamtnutzen zu bestimmen, müssen zuerst die individuellen Nutzen der 
verschiedenen Güterverteilungen bestimmt werden. Dabei ist zu beachten, dass die 
verschiedenen Alternativen verschiedene Gesamtzustände der Welt darstellen und 
dass die Individuen nicht nur ihre eigene Güterausstattung beurteilen. [[25] In der Terminologie von ARROW geht es also um ihre "values"   und nicht um ihre "tastes". Während die "tastes"   eine isolierte 
Bewertung des E i g e n konsums darstellen, drücken die "values"   die 
Wünschbarkeit der alternativen Gesamtzustände aus. Vgl. ARROW 1963, S.18 sowie 
oben § 79.] 
In die Bestimmung des individuellen Nutzens einer bestimmten Güterverteilung 
geht also nicht nur ein, was das betreffende Individuum selber von dem Gut 
bekommt, sondern auch, wieviel im Verhältnis dazu die andern Individuen 
bekommen. Wenn ein Individuum A z. B. Wert darauf legt, nicht schlechter 
gestellt zu werden als andere, so kann der individuelle Nutzen zweier 
Alternativen für A unterschiedlich groß sein, obwohl A bei beiden Alternativen 
dieselbe Gütermenge bekommt. Bei der einen Alternative war die Verteilung der 
Güter jedoch gleich, während bei der andern Alternative bestimmte Individuen 
einen größeren Anteil dieses Gutes bekamen als A. [[26] Zu nutzenmäßigen Interdependenzen zwischen den 
Einkommen s. auch BERNHOLZ 1972, S.153f.] 
Wenn die Individuen es 
stark negativ gewichten, in der Güterausstattung gegenüber andern Individuen 
zurückzustehen, so muss sich dies vorhandene Interesse auch im stark gesenkten 
Gesamtnutzen von Alternativen mit ungleicher Güterverteilung ausdrücken. In 
diesem Fall werden Alternativen {-259-} mit einer großen Streuung der Güterausstattung kaum zu 
denjenigen gehören können, die in Bezug auf den Gesamtnutzen gut abschneiden.
Dabei ist anzumerken, dass bei der Bestimmung der 
individuellen Nutzen von Alternativen zwar die Güterausstattung der andern 
Individuen mit einbezogen wird, sofern z. B. Regungen wie Neid, Stolz, 
Unterlegenheitsgefühle, Schadenfreude, Mitleid usw. vorhanden sind. Dabei ist 
jedoch immer nur der eigene Nutzen des betreffenden Individuums zu 
berücksichtigen und nicht die normative Bewertung der Alternative durch das 
Individuum. [[27] Andernfalls wäre FRANKENA recht zu geben, der 
meint, dass die Einbeziehung der Verteilung in die individuelle Bewertung zwei 
unterschiedliche Fragen durcheinanderbringt, nämlich ob die Verteilung für 
jemanden gut ist oder aber ob sie ihm richtig im Sinne von normativ 
akzeptabel erscheint. Vgl. FRANKENA 1972, S.61] 
Außer durch derartige nutzenmäßigen Interdependenzen 
zwischen den Individuen kommt eine sehr unterschiedliche Güterausstattung der 
Individuen auch noch dadurch negativ zum Ausdruck, dass der Nutzen pro 
Gütereinheit mit wachsender Ausstattung damit sinkt. [[28] Zur Veränderlichkeit des Grenznutzens s. o. 
§ 44] Den Gütereinheiten 
entsprechen in diesem Fall also sehr unterschiedliche Nutzenbeträge, wodurch die 
Tendenz zu einer Angleichung der individuellen Güterausstattung bereits in der 
Bestimmung des Gesamtnutzens enthalten ist. Nicht jede Steigerung der Gesamtgütermenge, die die 
Individuen konsumieren, bedeutet deshalb auch eine {-260-} Steigerung des Gesamtnutzens. Wenn die zusätzlichen 
Gütereinheiten z. B. Individuen zugute kommen, für die der Grenznutzen aufgrund 
ihrer reichen Güterausstattung sowieso sehr gering ist, so kann dieser 
zusätzliche Nutzen durch den Schaden bei andern in Form ihrer gesteigerten 
Gefühle der Benachteiligung mehr als aufgehoben sein, sodass in diesem Fall eine 
Steigerung der Gütermenge zu einer Senkung des Gesamtnutzens führt. [[29] 
Einen Ansatz zur Berücksichtigung solcher Interdependenzen findet sich in LEIBENSTEIN 
1962] 
Gesichtspunkte der Gerechtigkeit sind in der Bestimmung der 
individuellen Nutzen und damit auch in der Bestimmung des Gesamtnutzens immer 
schon dadurch erhalten, dass der Nutzen solidarisch bestimmt werden 
muss. Damit eine Situation mit starken Unterschieden in der Güterausstattung der 
Individuen einen maximalen Gesamtnutzen besitzt, müssen alle Individuen diese 
dann für die beste halten, wenn sie zugleich in der Lage jedes andern 
Individuums wären. Wenn sich bei einer Alternative mit maximalem Gesamtnutzen 
also Unterschiede in der Güterausstattung bzw. in den Nutzenniveaus der 
Individuen ergeben, so sind diese gerechtfertigt durch eine derartig große 
Zunahme der gesamten Gütermenge, dass damit trotz dieser Unterschiede - die sich 
ja im allgemeinen senkend auf den Gesamtnutzen auswirken - eine Anhebung des 
durchschnittlichen Nutzenniveaus der Individuen herbeigeführt wird. 
In den vorangegangenen Ausführungen wurde dargelegt, dass 
das Kriterium des größten Gesamtnutzens eine Tendenz zur Angleichung der 
Nutzenniveaus insoweit enthält, {-261-} als diese Angleichung ein tatsächliches Interesse von 
betroffenen Individuen ist und dass außerdem eine Tendenz zur Angleichung der 
Güterausstattung bei solchen Gütern besteht, bei denen Sättigungsphänomene und 
damit ein sinkender Grenznutzen auftritt. Insofern ist "Gerechtigkeit"   auch kein 
normatives Prinzip, das mit dem Prinzip des größten Gesamtnutzens in Konflikt 
geraten könnte, wie z. B. FRANKENA meint, wenn er feststellt: "Es gibt 
mindestens zwei grundlegende, voneinander unabhängige Prinzipien der Moral, das 
Prinzip der Wohltätigkeit oder Nützlichkeit, das eine Maximierung des Guten in 
der Welt (d. h. genauer des Übergewichts von Gutem gegenüber Schlechtem) fordert, 
und das Prinzip der Gerechtigkeit."   [[30] Frankena 1972, S.61. Nach ihm ist "Gerechtigkeit"   
dann gegeben, wenn die Alternativen "denselben relativen Beitrag"   zum Glück der 
Individuen leisten. s. FRANKENA 1972, S.62]
Die Schwierigkeit einer solchen Auffassung, die FRANKENA 
auch selber sieht, liegt darin, dass man jetzt zwei unabhängige Kriterien für 
die Gültigkeit von Normen hat, die u. U. miteinander in Konflikt geraten können, 
wenn die eine Alternative den größeren Gesamtnutzen besitzt, während die andere "gerechter"   ist. Um dennoch zu einer Entscheidung zu kommen, müssten beide 
Kriterien letztlich doch zu einem gemeinsamen Maßstab zusammengefasst werden, und 
dabei "mag es sich als unmöglich erweisen, die Bedingungen, unter denen der 
Gerechtigkeit der Vorrang gebührt, im einzelnen anzugeben."   [[31]  
S. FRANKENA 1972, S. 62] 
Auch für 
BARRY,{-262-} der eine ähnliche Position vertritt, bleibt das normative 
Problem letztlich ohne Entscheidung: ".. Wenn wir uns mit Interessen befassen, so 
sind dabei zwei miteinander im Konflikt liegende Prinzipien wirksam: ein 
aggregatives und ein distributives. Sie arbeiten, so scheint es mir, im 
Bewusstsein der meisten Menschen voneinander unabhängig; und wo sie 
widersprechende Antworten geben, gibt es kein höheres Prinzip, an das man den 
Konflikt verweisen könnte."   [[32] BARRY 1960/61, S.191] Dann bleibt jedoch unklar, welche normativen 
Fragen mit einer solchen Methodologie überhaupt beantwortet werden können, wenn 
diese kein widerspruchsfreies Gültigkeitskriterium entwickeln kann. {-236-} 
 
§ 52 Der Übergang von der intersubjektiven Bestimmung der 
individuellen Interessen zu 
 
individualistischen Entscheidungs-Systemen
Wie oben bereits ausgeführt wurde, 
ist zur Bestimmung des Gesamtinteresses bzw. des Gesamtnutzens im Prinzip ein 
intersubjektiver Konsens über die Interessen jedes Individuums erforderlich. 
Damit die individuellen Nutzen überhaupt berücksichtigt werden können, müssen 
sie von den Individuen auch erkannt werden können. 
Ein solches Verfahren würde 
jedoch - vor allem bei größeren Kollektiven - in der Praxis einen ungeheuren 
Entscheidungsaufwand bedeuten, da jeder die Interessen jedes andern kennen 
müsste, um die kollektive Entscheidung zu bestimmen. Außerdem müsste für den 
Fall eines nicht erreichten Konsens über irgendeinen individuellen Nutzen 
zusätzlich ein verbindliches Entscheidungsverfahren existieren, um die 
kollektive Entscheidung nicht zu blockieren. [[1] Ähnlich muss auch in den 
empirischen Wissenschaften bei fehlendem Konsens ein verbindliches 
Entscheidungsverfahren existieren, um überhaupt handlungsfähig zu sein. So 
müssen z. B. Gerichte auch dann Urteile fällen, wenn nicht zwischen allen 
Gutachtern ein Konsens über die Sachlage besteht] {-264-}
Eine wesentliche Vereinfachung der Interessenermittlung 
kann nun dadurch erzielt werden, dass die Bestimmung der individuellen Nutzen 
den betreffenden Individuen selber überlassen bleibt. In solchen 
Entscheidungs-Systemen, die man als "individualistisch"   oder "autonom"   
bezeichnen kann, sind die Individuen bei der Formulierung ihrer Interessen 
völlig autonom. Wenn sie bestimmte Interessen als ihre eigenen artikulieren, so 
brauchen sie diese nicht mehr gegenüber andern Individuen zu rechtfertigen. 
Hier 
besteht ein wesentlicher Unterschied zu solchen Entscheidungs-Systemen, bei 
denen die Bestimmung der individuellen Nutzen eine Angelegenheit des 
argumentativen Konsens der gesamten Gruppe einschließlich des betreffenden 
Individuums selber bleibt, wie z. B. in informell entscheidenden kleinen 
Gruppen, wo es selbstverständlich ist, dass die von einem Individuum 
vorgebrachten Wünsche auch von andern Individuen diskutiert, abgeschwächt oder 
bekräftigt werden können. 
Auf der andern Seite sind individualistische bzw. 
autonome Entscheidungs-Systeme zu unterscheiden von autoritären 
Entscheidungs-Systemen, in denen die Interessen der Individuen von sozialen 
Autoritäten oder Eliten gewissermaßen in stellvertretender fürsorglicher 
Herrschaft festgestellt werden.
So selbstverständlich die autonome, rein subjektiv 
vorgenommene Bestimmung der individuellen Interessen durch die Betroffenen 
selber aufgrund der liberalen Tradition auch erscheinen mag, so wenig 
ist diese jedoch unter dem Gesichtspunkt einer normativen Methodologie 
selbstverständlich. Denn die Möglichkeit eines argumentativen Konsens über 
Normen beruht ja auf der solidarischen Berücksichtigung aller individuellen 
Interessen. Damit diese jedoch {-265-} überhaupt erfolgen kann, muss zuvor ein argumentativer 
Konsens über die Beschaffenheit dieser individuellen Interessen möglich sein.[[2]Entsprechend 
gehen in den empirischen Wissenschaften auch nur die intersubjektiv 
nachvollziehbaren Wahrnehmungen in das allgemeine Wissen ein.] 
Wenn den Individuen in bestimmten Entscheidungs-Systemen völlige Autonomie in 
der Bestimmung ihrer Interessen gegeben wird, so ist dies also kein oberster 
methodologischer Grundsatz, sondern ein Verfahren, das aus Gründen der Praktikabilität gewählt werden kann, sofern dadurch eine erhebliche Senkung 
des Aufwands der Interessenermittlung erreicht wird und sofern außerdem das 
erzielte Ergebnis eine hinreichende Annäherung an die wirklichen individuellen 
Interessen darstellt. [[3] Die Forderung nach der Konsensfähigkeit der 
individuellen Interessen ist insofern kein Freibrief für Bevormundung, da ja das 
betroffene Individuum in diesen Konsens einbeschlossen sein muss.]
Dass die autonome Interessenformulierung durch das 
jeweilige Individuum kein oberstes Prinzip sein kann, ergibt sich bereits 
daraus, dass auch in individualistischen Entscheidungs-Systemen individuelle 
Interessen nur in einem kollektiv gesetzten Rahmen geltend gemacht werden können. 
Alle individuellen Interessenäußerungen werden dabei bestimmten "Normalisierungen"   unterworfen, bevor sie in die Bestimmung des Gesamtinteresses 
eingehen. Diese Normalisierung erfolgt gewöhnlich über die gesellschaftlich 
sanktionierte Ausstattung der Individuen mit dem Medium der 
Interessenartikulation, sei es in Tauschwirtschaften das Geld, oder sei es in 
Abstimmungs-Systemen die Stimme. 
Ein Individuum kann in {-266-} Tausch- oder Abstimmungs-Systemen sein 
individuelles Interesse eben immer nur mit dem Gewicht geltend machen, wie es seine Ausstattung 
mit Kaufkraft oder Stimmkraft erlaubt. An dieser Tatsache einer kollektiv 
sanktionierten Normalisierung der individuellen Nutzen auch in 
individualistischen Systemen wird deutlich, dass die Bestimmung der 
individuellen Nutzen immer vor dem Hintergrund eines kollektiven Konsens 
darüber stattfindet.
Zum andern wird auch in individualistischen 
Entscheidungs-Systemen die Autonomie der Interessenartikulation niemals allen 
Individuen zugesprochen, sondern an bestimmte Bedingungen der Mündigkeit geknüpft. So dürfen gewöhnlich Kinder, Schwachsinnige, Süchtige 
oder Geisteskranke ihre Interessen nicht autonom formulieren. Diese Maßnahme 
kann jedoch nur damit gerechtfertigt werden, dass die legitimierten Vormünder 
die Interessen dieser Individuen besser artikulieren können als diese selber. 
Nur unter dieser Voraussetzung kann man bestimmten Individuen überhaupt legitimerweise das 
Recht absprechen, ihre Interessen autonom zu bestimmen. [[4] Zum Problem der 
Entmündigung s. o. § 14] 
Wenn jedoch in individualistischen Entscheidungs-Systemen 
den Individuen innerhalb eines gesetzten Rahmens völlige Autonomie der 
Interessenformulierung gegeben wird, so ist es besonders wichtig, dass die 
Individuen dies unter Bedingungen tun, die ihnen eine Artikulation ihrer 
wirklichen Interessen erlaubt. Andernfalls verliert ein individualistisches Entscheidungs-System {-267-} jede Rechtfertigungsgrundlage, denn die 
von den Individuen artikulierten Interessen entsprechen dann nicht ihren 
wirklichen Interessen und damit fällt die kollektive Wahl nicht mehr auf 
diejenige Alternative mit dem größten Gesamtnutzen. Die 
Qualifikationsbedingungen der individuellen Entscheidung müssen deshalb genauer 
untersucht werden.
Dies kann an einem Beispiel veranschaulicht werden, 
bei dem ein 
Mann zwischen Bier, Wein und Saft wählen kann. Angenommen die Frau dieses Mannes 
ist dagegen, dass er Alkohol trinkt. Er würde also Ärger mit ihr 
bekommen, wenn er Bier oder Wein wählen würde. Unter diesen Umständen wählt der 
Mann jedoch nicht mehr zwischen den drei Getränken, sondern zwischen den 
modifizierten Alternativen "Bier mit Ärger", "Wein mit Ärger"   und "Saft (ohne 
Ärger)". Seine Wahl zwischen diesen - durch Sanktionierung modifizierten - 
Alternativen hat folglich keinerlei Aussagekraft hinsichtlich seines 
individuellen Interesses in Bezug auf die ursprünglichen Alternativen der bloßen 
Getränkearten. {-268-}
Man kann diese Freiheit von Sanktionen auch als die 
äußere Freiheit der Interessenartikulation bezeichnen. Sie ist eine notwendige 
Bedingung für die Äußerung des wirklichen Eigeninteresses durch das Individuum. 
Eine sanktionierte Interessenäußerung würde das Individuum selber nicht als 
Ausdruck seines Willens anerkennen können, sodass ihr die notwendige 
Qualifikation fehlt, um sie bei der Bestimmung des Gesamtinteresses 
berücksichtigen zu können. [[5] Ein gebräuchliches Verfahren, um eine 
Sanktionierung der individuellen Entscheidung zu verhindern, ist die 
Geheimhaltung der Interessenäußerung bzw. die Anonymität.]
Der Begriff der "Sanktion"   bedarf noch 
einer weiteren Präzisierung, denn es kann u. U. schwierig sein zu entscheiden, 
ob es sich bei 
einem die Interessenäußerung beeinflussenden Ereignis um die unzulässige 
Sanktionierung einer Alternative handelt oder ob es sich bloß um eine der 
Alternative selber zuzurechnende Folgewirkung handelt.
Dies kann am obigen Getränkebeispiel verdeutlicht werden. 
Dort wurde davon ausgegangen, dass der Alkoholgenuss des Mannes von seiner Frau 
sanktioniert wird. Dieser Fall könnte jedoch auch anders beschaffen sein, 
wodurch die Annahme einer Sanktionierung zweifelhaft würde. Dann wäre die 
ärgerliche Verstimmung der Frau keine Sanktion, sondern sie wäre nur die 
Folgewirkung auf den Alkoholgenuss des Mannes. Da sich diese Verstimmung auf den 
Mann negativ auswirkt, wählt er ein nicht-alkoholisches Getränk. Hat in diesem 
Fall die Frau die Entscheidung ihres {-269-} Mannes nun sanktioniert oder ist ihre Verärgerung nur eine 
kausale Folgewirkung des Alkoholgenusses, ähnlich wie es vielleicht ein schwerer 
Kopf am nächsten Morgen ist?
Negative Folgen einer Alternative stellen keine Sanktion 
dar, wenn sie gewissermaßen "naturbedingt"   sind, d. h. wenn sie nicht von der 
Willensentscheidung eines andern Individuums abhängen. Insofern sind Erkrankungen der Atemwege, die sich bei einem Kettenraucher 
einstellen, keine Strafe, sondern eine - negativ bewertete - Folgewirkung des 
Rauchens. Eine Sanktionierung liegt nur dann vor, wenn das Verhalten eines 
Individuums nach dem Willen eines andern beeinflusst werden soll. 
Die Verärgerung der Frau muss in diesem Fall also für sie ein Mittel sein, um 
das Verhalten ihres Mannes gezielt zu beeinflussen. Nur wenn sie "beim besten 
Willen"   ihre Verstimmung nicht vermeiden kann, weil sie sich unwillkürlich 
einstellt, handelt es sich um eine bloße Folgewirkung und keine Sanktionierung. 
[[6] Da es allmähliche Übergänge zwischen einer bewussten 
Willensentscheidung und einer unwillkürlichen Reaktion gibt, kann auch die 
Unterscheidung zwischen Sanktion und Folgewirkung nur graduell sein. Vgl. zur 
Psychologie des Willens unten § 53.]
Eine Sanktion muss nach dieser Definition der 
willensmäßigen Entscheidung eines andern Individuums "zuzurechnen"   sein. Dieser 
Zusammenhang zum Willen eines andern Individuums kann jedoch auch sehr indirekt 
sein. So ist zwar die Schwangerschaft unter bestimmten Bedingungen eine 
biologische Folge des Geschlechtsverkehrs, trotzdem kann jedoch eine 
unerwünschte {-270-} Schwangerschaft den Charakter einer negativen Sanktion 
erhalten. Dies wäre dann der Fall, wenn aufgrund der Entscheidungen anderer 
Individuen das betreffende Individuum daran gehindert wird,  
Verhütungsmittel anzuwenden. Damit wäre eine Schwangerschaft ein Ereignis, das 
dem Willen anderer Individuen zuzurechnen wäre und das insofern eine Sanktionierung 
des Geschlechtsverkehrs 
darstellt.
Wenn positiv oder negativ bewertete Folgen jedoch 
ausdrücklicher Bestandteil der Alternativen sind, so stellen sie kein Problem 
für eine qualifizierte Interessenäußerung des Individuums dar, selbst wenn sie 
auf den Willen anderer Individuen zurückgehen. Ein Beispiel hierfür wären die 
Versprechungen, die die Kandidaten für ein bestimmtes politisches Amt ihren 
Wählern machen. Die von ihnen versprochenen Maßnahmen stellen keine unzulässigen 
Sanktionierungen der Wahlentscheidung dar, sondern machen gerade den Inhalt der 
zur Entscheidung anstehenden Alternativen aus.
Im Falle fehlender oder falscher Information entscheidet 
das Individuum eigentlich nicht über die tatsächlich zur Entscheidung stehenden 
Alternativen, sondern über modifizierte Alternativen, die seinen eigenen 
fehlerhaften Anschauungen entsprechen. Im obigen Beispiel findet die Wahl also 
nicht mehr zwischen den Alternativen "Bier", "Wein"   und "Saft"   statt, sondern 
zwischen "Bier", "Traubensaft"   und "Saft". Die Wahl des Individuums drückt 
deshalb nicht das Interesse des Individuums hinsichtlich der tatsächlich zur 
Entscheidung stehenden Alternativen aus.
Auch im Fall von Informationsmängeln wird die 
Feststellung, dass die Interessenäußerung des Individuums unqualifiziert ist, 
nicht an einem vom betreffenden Individuum nicht nachvollziehbaren Kriterium 
festgemacht, sondern auch das Individuum selber wird zu der Ansicht kommen, dass 
seine Entscheidung aufgrund von Informationsmängeln falsch war. [[7]Natürlich 
kann eine Entscheidung trotz Informationsmängel richtig sein, d. h. dass das 
Individuum auch nach der Korrektur der Information zur gleichen Entscheidung 
gelangt. Dies ist jedoch nur zufällig. In jedem Fall erfordert die Aufdeckung 
von Informationsmängeln eine Überprüfung der Entscheidung.] 
In unserm 
Fall hätte das Individuum vielleicht gesagt: "Hätte ich gewusst, dass es 
sich nicht um Traubensaft sondern um Wein handelt, so hätte ich Wein gewählt."   Es 
hält also seine eigene Entscheidung nachträglich für falsch.
Im obigen Beispiel war das Informationsproblem sehr krass an 
der Verwechslung von Wein und Traubensaft dargestellt worden. Für die 
Richtigkeit einer individuellen Entscheidung können jedoch Informationen der 
verschiedensten Ebenen relevant sein. Die Informationsproblematik {-272-} wurde in der Theorie der rationalen 
Entscheidung bereits sehr detailliert analysiert, sodass hier auf eine 
ausführliche Darstellung verzichtet werden kann. [[8] Als ausführliche Darstellung der 
Entscheidungstheorie ist GÄFGEN 1968 zu empfehlen. Dort finden sich auch weitere 
Literaturhinweise.] Im Folgenden sollen nur 
die wichtigsten Aspekte genannt werden.
Wenn die Interessenäußerung eines Individuums ausdrücken 
soll, welche der zur Entscheidung stehenden Alternativen den größten 
individuellen Nutzen hat, so muss das Individuum alle relevanten Alternativen 
bei seiner Entscheidung berücksichtigen. Wenn das Individuum bei der Wahl des 
Getränkes z. B. nur die drei Alternativen "Bier", "Wein"   und "Saft"   
berücksichtigt hat und weitere verfügbare Getränkearten auf einem andern Tablett 
übersehen hat, so sagt seine Entscheidung für Bier nichts darüber aus, ob Bier 
in dieser Situation die individuell beste Alternative gewesen ist. Vielleicht 
hält das Individuum seine Entscheidung nach einer Information über die weiteren 
Alternativen für falsch und sagt: "Wenn ich gewusst hätte, dass es auch Sekt 
gibt, so hätte ich natürlich Sekt gewählt."   Die Berücksichtigung aller 
relevanten Alternativen ist also eine notwendige Qualifikationsbedingung der 
individuellen Interessenäußerung.
Wenn das Individuum über 
entscheidungsrelevante Aspekte der Ausgangssituation nicht oder falsch 
informiert ist, so wird es ebenfalls zu Entscheidungen kommen, die das 
Individuum letztlich {-273-} selber nicht akzeptieren kann und bereuen wird. Das obige 
Beispiel einer solchen Verwechslung von Wein mit Traubensaft stellt eine solche 
Fehlbeurteilung der Ausgangssituation dar. 
Natürlich sind nicht alle Aspekte der 
Ausgangssituation entscheidungsrelevant. Eine vollständige Beschreibung einer 
Situation wäre auch im Prinzip unmöglich. Entscheidungsrelevant sind jedoch 
solche Aspekte der Ausgangssituation, die zu Konsequenzen führen können, die die 
Bewertung der Alternativen durch das Individuum beeinflussen.
Aus der Kenntnis der Ausgangssituation und den empirischen 
Gesetzmäßigkeiten lassen sich die Folgen abschätzen, die sich bei 
verschiedenen alternativen Handlungsverläufen einstellen werden. Diese 
Konsequenzen der verschiedenen Alternativen spielen für deren Bewertung durch das 
Individuum eine entscheidende Rolle. Das Individuum muss die möglichen Folgen 
seiner Entscheidung bedenken, wenn es seinem Interesse nicht zuwider handeln 
will und seine Entscheidung nicht nachträglich bereuen will.
So kann der Genuss von Wein zur Folge haben, dass man am 
nächsten Tag Kopfschmerzen hat. Diese Konsequenz kann z. B. dadurch besondere 
Bedeutung erlangen, dass man am nächsten Tag eine wichtige, die ganze Leistungsfähigkeit erfordernde Aufgabe zu erfüllen hat. Wenn 
das Individuum jedoch die leistungsmindernden Auswirkungen des Weingenusses nicht 
kennt, so kann es diese bei seiner Bewertung der Alternativen nicht 
berücksichtigen und kommt damit zu Fehlentscheidungen.
Häufig kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine 
sichere Prognose aller Konsequenzen möglich ist, sodass unter den Bedingungen 
des Risikos oder der Ungewissheit {-274-} entschieden werden muss. Dabei müssen 
die Wahrscheinlichkeiten geschätzt werden, mit dem die verschiedenen möglichen 
Konsequenzen zu erwarten sind. Auch hier können dem Individuum Fehler 
unterlaufen, die seine Interessenäußerung unqualifiziert werden lassen. [[9]S. 
hierzu GÄFGEN 1968, Kap.6, 12 u. 13.]
Hierauf weist auch BRANDT hin, wenn er fragt: "Aber was heißt es, ein Ereignis p zu wollen? Dieser Begriff ist schwerer zu 
fassen als es auf den ersten Blick scheint, wie jeder weiß, der angesichts einer 
schwierigen Entscheidung versucht hat, dem Ratschlag zu folgen: 'Tue das, was du 
am meisten willst!' Es erscheint als völlig klar, dass etwas zu wollen kein so 
einfacher introspektiver Tatbestand ist wie etwa ein Kitzelgefühl."   [[10] BRANDT 1966, S.  263.]
Die in der Entscheidungstheorie gebräuchliche 
Nutzenfunktion oder Präferenzrangfolge zur Darstellung {-275-} der Interessenstruktur des Individuums ist eigentlich nur 
das dürre und reduzierte Ergebnis eines innerpsychischen Prozesses, über dessen 
Kompliziertheit und mögliche Konflikthaftigkeit man sich nur schwer eine 
angemessene Vorstellung machen kann. Erst die moderneren psychologischen 
Forschungen und Theorien haben mit der Vorstellung eines vollkommen integrierten 
Willens des Individuums aufgeräumt. [[11] Dabei kann man davon ausgehen, dass diese 
Forschungen noch weitgehend am Anfang stehen und nur einen sehr vorläufigen 
Einblick in die komplizierte menschliche Motivationsstruktur und den Prozess der 
Willensbildung geben. Wichtige Phänomene, wie z. B. psychische Störungen, 
bedürfen noch einer genaueren Erklärung. Vgl. zur Motivationsforschung z. B. BINDRA/STEWART 1966.]
1. Die individuelle Entscheidung in der 
 
psychoanalytischen 
Persönlichkeitstheorie
Der Mensch wird danach gewissermaßen zum "Fremdling im eigenen Haus", denn es gibt unbewusste Bereiche und Antriebe 
seiner Persönlichkeit, über die er sich keine bewusste Rechenschaft ablegen 
kann. Bestimmte Erinnerungen, Wünsche und Gedanken können aus dem Bewussten in 
das Unbewusste verdrängt werden und dort unintegriert und unreflektiert 
weiterwirken und das Verhalten des Individuums beeinflussen. Schuldgefühle, 
Ängste, Aggressionen und Hemmungen können von solchen verdrängten {-276-} Konflikten herrühren und dem Individuum selber als 
unerklärlich erscheinen bzw. von ihm nur nachträglich rationalisiert werden.
Nach der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie wird 
dies ganze System relativ verselbständigter Motivbündel, die in 
unterschiedlichem Maße der Bewusstmachung und der willkürlichen Steuerung 
zugänglich sind, durch ein kompliziertes System von Integrationsleistungen und 
Abwehrmechanismen des "Ich"   in einem Gleichgewichtszustand gehalten, der es dem 
Individuum normalerweise ermöglicht, zu einem realitätsgerechten und 
willensmäßig koordinierten Handeln zu kommen. 
Allerdings kann das "Ich"   durch 
unverarbeitete Konflikte mit dem "Es"   (z. B. bei Angst vor verdrängten 
Triebwünschen) und mit dem "Über-Ich"   (z. B. bei verdrängten Schuldgefühlen) 
geschwächt sein und zu irrationalen Formen der Konfliktbewältigung neigen.
Angesichts eines solchen Persönlichkeitsmodells wird 
deutlich, dass man nicht ohne weiteres von "dem"   Willen einer Person sprechen 
kann und dass sich das Problem einer qualifizierten Entscheidung nicht in 
Problemen der Informationsgewinnung und ihrer Verarbeitung erschöpft. 
Angesichts 
des komplizierten Aufbaus der menschlichen Persönlichkeit bedarf es immer erst 
bestimmter psychischer Integrationsleistungen und Identitätsstrukturen, um die 
unterschiedlichen Impulse, Motive und Gefühle zu einem zielgerichteten Handeln 
zusammenzufassen. Und bei bestimmten schweren Belastungen - vor allem in der 
kindlichen Entwicklungsphase - kann diese Fähigkeit des "Ich"   nachhaltig 
neurotisch gestört werden oder sogar völlig versagen, wie z. B. in der 
Schizophrenie und {-277-} anderen Geisteskrankheiten. [[13] Für den 
neurotischen Menschen ist typisch, dass er sich nur schwer und mit großem 
Aufwand an seelischer Energie entscheiden kann und dass er selber nicht weiß, 
was er will und warum er sich unglücklich fühlt.]
Dass die "innere Welt"   der eigenen Persönlichkeit für jeden 
Menschen ein mindestens ebenso komplexes und unerforschtes Gebiet darstellt wie 
die äußere Welt, wird unmittelbar in Kunst und Literatur deutlich. In den 
Phantasien, Monologen und Bildern moderner aber auch älterer Literatur und Kunst 
werden innerpsychische Vorgänge und Konflikte deutlich, die von den stark 
vereinfachten Persönlichkeitsmodellen einer rationalistischen Psychologie 
ignoriert wurden. Wenn eine moderne Romanfigur eine Konfliktsituation mit den Worten ausdrückt: "Jedes Teil in mir schrie 'nein!' aber die Summe von allem schrie 'ja!'", so ist das zwar nur eine paradox formulierte Metapher, aber sie 
vermittelt einen unmittelbaren Zugang zu den innerpsychischen Konflikten und 
macht das Problem einer qualifizierten Interessenartikulation des Individuums 
anschaulich.
2. Die individuelle Entscheidung in 
lernpsychologisch 
orientierten Persönlichkeitstheorien
In 
einer Entscheidungssituation mit ihrer Vielzahl von Reizen werden nun 
verschiedenartige, sich teilweise widersprechende Impulse nervlicher und 
hormonaler Art ausgelöst, die erst über höhere Steuerungszentren bis hin zur 
Denktätigkeit des Großhirns in eine einheitliche Reaktion integriert werden 
müssen. [[14] Zur Steuerungsfunktion des Zentral-Nerven-Systems 
vgl. z. B. HEBB 1967, S.107ff. u. 233ff.]
Die unvollkommene Hierarchisierung des nervlichen Systems 
der Verhaltenssteuerung, die sich als entwicklungsgeschichtliches Erbe verstehen 
lässt, ist für die Qualifikationsbedingungen der individuellen 
Interessenartikulation nicht ohne Bedeutung. Dies kann an einem Beispiel 
verdeutlicht werden, bei dem das unmittelbar assoziative Lernen und das durch 
Denken vermittelte Lernen in entgegen gesetzte Richtungen wirken. 
Wenn man z. B. 
am Radio gerade einen heftigen elektrischen Schlag erhalten hat, so ist das 
Anfassen des Gerätes mit Schmerz und Schreck assoziiert. Dieses assoziative 
Lernen kann auch dann noch weiterwirken, wenn dem Individuum die theoretische 
Einsicht sagt, dass jetzt keine Gefahr eines elektrischen Schlages mehr besteht, 
da der Netzstecker herausgezogen ist. Trotzdem wird man unwillkürlich mit der Hand zurückzucken und ein ungutes Gefühl haben beim erneuten Anfassen 
des Gerätes. 
Solche automatischen Reaktionen, die {-279-} durch ein traumatisches Erlebnis oder durch lange 
Gewohnheit entstehen können, sind also durch theoretische, über Denkvorgänge 
vermittelte Einsicht und logische Argumentation u. U. nur schwer veränderbar. [[15] 
Das Beispiel stammt aus DOLLARD/MILLER 1950.]
Während im Idealfall theoretischer Erkenntnis die Erfahrung 
eines einzigen kontrollierten Experiments genügt, um die Vorstellung von der 
Beschaffenheit der Realität und damit das Verhalten in vergleichbaren Fällen zu 
verändern, baut sich das assoziative Lernen in einem langen Prozess von 
Bekräftigungen auf und wird nur allmählich durch Nicht-Bekräftigung gelöscht. 
Im 
Menschen sind gewissermaßen noch die Lernmechanismen früherer Stufen der 
stammesgeschichtlichen Entwicklung wirksam, als noch kein entwickeltes Großhirn 
mit der Fähigkeit zum logisch-begrifflichen Denken vorhanden war. Beim 
assoziativen Lernen werden gleichsam nur Korrelationen intuitiv registriert, 
jedoch keine kausalen Gesetzmäßigkeiten. Das assoziative Lernen ist deshalb auch 
schlecht geeignet, das Verhalten auf plötzlich geänderte Lebensbedingungen 
umzustellen, die besser über begriffliche Denkprozesse bewältigt werden können. 
Inwiefern der Mensch als "Gewohnheitstier"   zu einer qualifizierten Entscheidung 
befähigt ist bzw. welche sozialen und psychischen Bedingungen einer 
qualifizierten Interessenartikulation hinderlich oder förderlich sind, bedarf 
noch weiterer psychologischer Forschung - insbesondere, was die Entstehung und 
Stabilisierung von Vorurteilen und Stereotypen angeht. Dies konnte hier nur als 
Problem angerissen werden. {-280-}
Ein 
junger Mann möchte gern ein Mädchen kennenlernen, aber aufgrund unverarbeiteter 
ödipaler Konflikte ist er sehr schüchtern und gehemmt. Es kostet ihn bereits 
einige Überwindung, in ein Tanzlokal zu gehen. Als er dann dort ist, fühlt er 
sich wie gelähmt und kann sich nicht dazu bringen, ein Mädchen zum Tanzen 
aufzufordern, obwohl er sich dies fest vorgenommen hat. Die Möglichkeit dazu ist 
von den äußeren Bedingungen her gegeben, aber die inneren Ängste, die in der 
Situation mobilisiert werden, sind zu stark. Völlig niedergeschlagen verlässt er 
schließlich unverrichteter Dinge das Lokal. Seine Hemmung und ihre Ursachen sind 
ihm selber unerklärlich und hinterher ärgert er sich über sein eigenes 
Verhalten.
Hier handelt es sich offensichtlich um willensmäßig nicht 
zu überwindende, unwillkürliche Angstreaktionen, die das Verhalten des Individuums 
steuern. Reale äußere Sanktionen waren nicht zu befürchten, sodass man eine 
solche Angst im Alltag meist als "unvernünftig"   bezeichnet. Solche "unvernünftigen"   Ängste finden sich häufiger bei Kindern oder in neurotischer 
Form als Phobien. Die Wirksamkeit solcher Ängste bei der Steuerung des 
Verhaltens ist im allgemeinen nicht so leicht zu erkennen, weil das Individuum 
gewöhnlich bereits vermeiden wird, sich überhaupt in solche Konfliktsituationen 
zu begeben. Dies Vermeidungsverhalten {-281-} ist übrigens ein Grund, warum sich solche irrationalen 
Verhaltensweisen stabilisieren. Sie können dann nämlich nicht verlernt bzw. gelöscht 
werden. 
Kann man nun im obigen Fall sagen, dass der junge Mann seinem Interesse 
entsprechend gehandelt hat? Kann man sagen, dass er lieber unverrichteter Dinge 
das Lokal verlässt als ein Mädchen zum Tanzen aufzufordern? Eine solche 
Interpretation des Verhaltens ist sicherlich problematisch, denn dabei wird 
unberücksichtigt gelassen, dass das Individuum selber sein Verhalten als falsch 
und als zwanghaft empfindet, insofern es unwillkürlich und gegen seinen 
bewussten Willen verläuft. Das Individuum ist in diesem Fall innerlich unfrei, denn es kann sein Verhalten nicht seinem bewussten Willen 
unterwerfen.
Zur Verdeutlichung kann hier ein 
längeres Zitat aus der 
Neurosentheorie von EYSENCK und RACHMAN dienen: "Neurotisches Verhalten ist 
fehlangepasst. Eine Person, die neurotische Verhaltensweisen annimmt, erreicht 
nicht, was sie möchte, sondern das, was für sie in hohem Maße unvorteilhaft ist 
... MOWRER (1950) bezeichnet das als 'neurotisches Paradoxon'. Der gesunde 
Menschenverstand glaubt, dass ein normaler vernünftiger Mensch und selbst ein 
Tier innerhalb der Grenzen seiner Intelligenz die Folgen seiner Handlungen 
abwägen kann: Ist das Resultat günstig, wird die entsprechende Handlung 
fortgesetzt, ist es ungünstig, dann wird die entsprechende Handlung gehemmt, 
aufgegeben. Bei der Neurose beobachtet man jedoch Handlungen, die mit vorwiegend 
ungünstigen Folgen verbunden sind, und doch überdauern sie Monate, Jahre oder 
ein ganzes Leben. Kein Wunder, dass dann der gesunde Menschenverstand sich gegen 
eine Anerkennung der Verantwortlichkeit in solchen Angelegenheiten sträubt {-282-} und sie in den Bereich des Geheimnisvollen verweist."   [[16] EYSENCK/RACHMAN 1968, S.15.]
Übrigens müssen solche neurotischen Phänomene keineswegs 
nur auf den privaten Bereich der Intimgruppen beschränkt bleiben, sondern können 
auch zu Massenphänomenen werden, die große Teile der Bevölkerung erfassen, wie 
sich an bestimmten politischen und religiösen Bewegungen zeigt, die weitgehend 
auf wahnhaften Vorstellungen aufbauen. [[17] Vgl. z. B. die Diskussion des 
Antisemitismus bei HORN 1974 sowie die dort angegebene Literatur.]
2. Verführung und Sucht
Hat diese Entscheidung nun sein 
Interesse ausgedrückt? Wollte er lieber Alkohol trinken als darauf verzichten? 
Am nächsten Tag bereut er vielleicht sehr, dass er "schwach"   geworden ist 
und verurteilt sein eigenes Verhalten. Auch in diesem Fall kann das tatsächliche 
Verhalten sicherlich nicht als Ausdruck der wirklichen Interessen des 
Individuums genommen werden. [[18] Es gibt auch die paradoxe Möglichkeit, dass sich 
Individuen gewissermaßen selbst verführen, indem sie sich in verführerische 
Situationen begeben. Deshalb verlangt man auch, dass von vornherein solche "gefährlichen"   Situationen gemieden werden.]
Noch deutlicher wird dies im Fall echter Sucht, z. B. 
nach Heroin. Wer einmal an Heroin gewöhnt ist, kann auch mit äußerster 
Willensanstrengung kaum davon loskommen und ist insofern innerlich unfrei. 
Dass ein Süchtiger nun versucht, sich Heroin zu verschaffen und zu 
nehmen, kann man sicherlich nicht als Ausdruck seiner wirklichen Interessen 
nehmen. Im Zustand der Ernüchterung verwünscht auch der Süchtige seine 
Abhängigkeit von der Droge und es ist nicht selten, dass sich Süchtige aus 
Verzweiflung mit einer Überdosis das Leben nehmen.
Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, dass es 
problematisch ist, die faktischen Interessenäußerungen der Individuen ohne 
weiteres als Ausdruck ihrer wirklichen Interessen zu nehmen, wenn bestimmte 
Qualifikationsbedingungen nicht gegeben sind. Die Möglichkeit, um auch 
ohne 
normative Voraussetzungen {-284-} inhaltlicher Art zu einer Qualifizierung des individuellen 
Willens zu gelangen, ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass das Individuum selber seine Entscheidung als falsch bezeichnen und korrigieren kann. Dabei 
bleibt der Wille des Individuums letztlich der Bezugspunkt für die Bestimmung 
seines Eigeninteresses. Das Individuum "bereut"   selber seine Entscheidung und 
stellt fest, dass sie nicht seinem wirklichen Interesse entsprochen hat. 
Die 
Bedingungen, unter denen solche vom betreffenden Individuum selber nicht 
anzuerkennende Entscheidungen geschehen, wie Sanktionierung, innere Unfreiheit, Informationsmängel oder mangelnde Reflektion der eigenen Motive, lassen 
sich vom konkreten Einzelfall lösen und verallgemeinern. Dadurch ist es auch 
möglich, nicht erst im Nachhinein die Korrektur der Entscheidung vorzunehmen, 
sondern bereits von vornherein zu sagen, dass man unter diesen Bedingungen 
Entscheidungen treffen wird, die man selber nicht anerkennen kann und bereuen 
wird. 
Die Qualifikationsbedingungen des individuellen Willens lassen sich dabei 
nicht nur für ein einzelnen Individuum angeben, sondern treffen auch auf bestimmte 
Gruppen von Individuen oder gar alle Individuen zu. So sind z. B. für alle 
Individuen Entscheidungen überprüfungsbedürftig bzw. nicht anerkennbar, die sie 
im Rauschzustand getroffen haben. In dem Maße, wie ein Konsens über die 
Qualifikationsbedingungen des individuellen Willens anhand der Erfahrungen über 
Korrekturen eigener Entscheidungen gebildet wird, ist dann auch der 
erforderliche Konsens über die wirklichen Interessen der Individuen 
herstellbar.{-285-}
Die Klärung der Qualifikationsbedingungen der individuellen 
Interessenartikulation ist besonders für individualistische 
Entscheidungs-Systeme von zentraler Bedeutung, in denen die Bestimmung der 
individuellen Interessen den betreffenden Individuen selber überlassen bleibt. 
Die sozialen Voraussetzungen qualifizierter und mündiger individueller 
Entscheidungen liegen in den Bereichen der Erziehung, der Massenkommunikation, 
der Wissenschaft, der Literatur und der Kunst. Dabei lassen sich die 
Bedingungen 
der Aufklärung nicht ein für allemal bestimmen, sondern stellen sich im Zuge 
sozialer und technologischer Entwicklung immer aufs Neue.
In den vorangegangenen Abschnitten wurde herausgearbeitet, 
unter welchen Bedingungen die Individuen ihre Interessen nur unqualifiziert 
artikulieren können. Unter diesen Bedingungen kann die Anwendung 
individualistischer Entscheidungs-Systeme nicht mehr gerechtfertigt werden, da 
nicht die wirklichen individuellen Interessen in die Formulierung des 
Gesamtinteresses eingehen.
Deshalb sind im Rahmen individualistischer 
Entscheidungs-Systeme Handlungen unzulässig, die die Individuen daran hindern, 
zum Bewusstsein und zur Artikulation ihrer wirklichen Interessen zu kommen. 
Damit sind alle jenen Handlungen gemeint, die die 
Qualifikationsbedingungen der individuellen Entscheidung beeinträchtigen. 
Handlungen, die die äußere oder {-286-} innere Freiheit der Interessenartikulation negativ 
tangieren, sollen als "Sanktionen"  bezeichnet werden, während Handlungen, 
die die informationsmäßige und reflektionsmäßige Aufgeklärtheit der Interessen 
negativ tangieren, als "Manipulationen"  bezeichnet werden sollen.
Beide Arten von Beeinflussung der individuellen 
Interessenartikulation sind unvereinbar mit der Anwendung individualistischer 
Entscheidungs-Systeme. Dabei ist festzuhalten, dass nicht nur die betroffenen 
Individuen das Recht zur Kritik an Sanktionierung und Manipulation von 
Interessenäußerungen haben, sondern jedes Individuum.
Gemäß dem 
Solidaritätsprinzip ist die Bestimmung der individuellen Interessen im Prinzip 
eine Angelegenheit aller Individuen und nicht nur der betreffenden Individuen 
selber. Insofern können individualistische Entscheidungs-Systeme nur als 
praktikable Annäherungsverfahren an die konsensuale Bestimmung der individuellen 
Interessen gerechtfertigt werden. Diese Annäherung ist jedoch hinfällig, wenn 
die Bestimmung des Gesamtinteresses aufgrund manipulierter oder sanktionierter 
Interessenäußerungen der Individuen erfolgt. Folglich ist ein Zustand der 
kollektiven Willensbildung für ein Individuum auch dann nicht akzeptabel, wenn 
es zwar selber seine wirklichen Interessen einbringen konnte, aber andere 
Individuen dies unter dem Einfluss Dritter nicht konnten, wobei die letzteren 
damit zugleich ihre eigenen Interessen in unsolidarischer Weise mit größerem 
Gewicht versehen konnten. {-287-}
Bei der Analyse unqualifizierter Interessenäußerungen muss 
eine deutliche Unterscheidung gemacht werden zwischen der nachträglichen Korrektur einer unqualifizierten Interessenäußerung und einer bloßen Veränderung des Interesses. 
Jemand trinkt z. B. gerne Bier, aber im Laufe 
der Zeit kann sich sein Geschmack ändern, sodass ihm Bier jetzt nicht mehr so 
gut schmeckt und er lieber Wein trinkt. Dann würde er zwar heute im Falle einer 
Wahl zwischen Bier und Wein den Wein vorziehen, aber damit werden seine früheren 
Entscheidungen für Bier nicht falsch. Damals hatte er ja tatsächlich lieber Bier 
getrunken und er bereut dies auch nicht. Es handelt sich hier also um eine 
einfache Änderung der Präferenz, die an sich unproblematisch ist. Solche 
Änderungen der Präferenz stellen auch keine Inkonsistenz dar, denn für jeden 
Zeitpunkt lässt sich widerspruchsfrei eine Entscheidung formulieren.
Wenn es sich dagegen um die 
nachträgliche Korrektur einer 
Entscheidung handelt, so wird die frühere Entscheidung nachträglich für falsch erklärt, und zwar wäre sie nicht nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt falsch, 
sondern sie ist bereits zum damaligen Zeitpunkt falsch gewesen. 
Eine solche 
Korrektur kann z. B. durch eine Informationsverbesserung erfolgen, indem das Individuum erfährt, dass es bereits seit längerem zuckerkrank ist und schon 
damals eigentlich kein Bier mehr hätte trinken dürfen. Die damalige Entscheidung 
für Bier beruhte auf einem unqualifizierten Willen, weil entscheidungsrelevante 
Informationen fehlten. Hätte das Individuum schon damals {-268-} von seiner Erkrankung gewusst, so hätte es sich bereits 
damals anders entschieden.
Unter Umständen verbinden sich jedoch beide Aspekte, 
Korrektur und Änderung des Willens, miteinander. Dies ist immer dann möglich, 
wenn Entscheidungen zu treffen sind, deren absehbare Konsequenzen sich über 
einen längeren Zeitraum erstrecken. In diesem Zeitraum können sich die 
Interessen eines Individuums ändern. Das Individuum muss also bei seiner Entscheidung seine 
zukünftige Interessenstruktur möglichst vorhersehen und berücksichtigen, wenn es 
nicht später diese Entscheidung bereuen will. Wenn sich nämlich die Interessen 
in unvorhergesehener Weise ändern, so wird dadurch u. U. eine frühere 
Entscheidung falsch. 
Ein Beispiel für die falsche Einschätzung zukünftiger 
Interessen wäre es etwa, wenn sich ein junges Ehepaar ein relativ kleines Haus 
gemäß seinen heutigen Platzbedürfnissen kauft und im Laufe der Jahre mehrere 
Kinder bekommt, sodass ein viel größerer Platzbedarf da ist als erwartet. Nachträglich, von den späteren Interessen her gesehen, stellt 
sich der Kauf des kleinen Hauses nun als ein Fehler heraus: "Man hätte sich 
damals gleich für ein größeres Haus entscheiden sollen!"   [[19] Die Veränderbarkeit der eigenen Präferenzen ist 
einer der Gründe dafür, warum man folgenschwere Entscheidungen mit kaum zu 
revidierenden Konsequenzen nicht impulsiv treffen soll, sondern erst nach einer 
gewissen Bedenkzeit. In dieser Zeit kann man prüfen, wie stabil die eigenen 
Präferenzen sind, ob es nur eine "Laune des Augenblicks"   in Form eines situations- und stimmungsabhängigen Wunsches war oder ob es sich um einen über 
die Zeit hinweg stabilen Wunsch handelt. Zum Problem der Veränderung von 
Präferenzen und ihrer Berücksichtigung s. a. HARSANYI 1953/54.] {-289-}
In den vorangegangenen Abschnitten wurden Probleme bei der 
Bestimmung der individuellen Interessen diskutiert, die auf mangelnder Freiheit 
und Aufgeklärtheit der Individuen beruhen. Selbst wenn man diese Probleme jedoch 
einmal als gelöst betrachtet, können die von den Individuen geäußerten 
Interessen trotzdem eine ungeeignete Basis für die Bestimmung des 
Gesamtinteresses bilden. Dies ist dann der Fall, wenn das Individuum - wider 
besseres Wissen und ohne äußeren Zwang - nicht seine tatsächlichen Interessen 
äußert, sondern absichtlich andere Interessen als seine eigenen ausgibt. Dies 
kann als "Unaufrichtigkeit"   der Interessenartikulation bezeichnet 
werden.
Ein analoges Problem gibt es auch in der empirischen 
Methodologie in Form absichtlich falscher Wiedergabe von Wahrnehmungen durch die 
Individuen. Wenn man sich z. B. in der Geschichtswissenschaft auf die Berichte 
von Augenzeugen stützt, um den wahren Sachverhalt zu ermitteln, so stellt sich 
für die Zeugenaussagen unabhängig von den oben erwähnten Qualifikationsmängeln 
zusätzlich das Problem der möglichen Unaufrichtigkeit der Aussagen, d. h. 
Individuen können wider besseres Wissen nicht ihre tatsächlichen Wahrnehmungen 
beschreiben, sondern andere Sachverhalte als ihre eigenen Wahrnehmungen ausgeben. 
Die Unaufrichtigkeit von Zeugenaussagen ist auch bei der Wahrheitssuche vor 
Gericht ein vorrangiges Problem. Hier sind bereits Verfahren entwickelt worden, um dem Problem der 
Unaufrichtigkeit zu begegnen. Diese Verfahren können teilweise von der empirischen auf die 
normative Methodologie übertragen werden. {-290-}
1. Eigeninteresse als Motiv zur unaufrichtigen 
Interessenäußerung
Das Motiv zur bewussten Fehldarstellungen des eigenen 
Interesses ergibt sich daraus, dass man dadurch im Rahmen der gegebenen 
Entscheidungsregel sein eigenes Interesse besser durchsetzen kann. Ein 
Beispiel mag dies verdeutlichen. 
Angenommen zwei Individuen A und B steigen in 
einen Bus. Beide würden lieber sitzen als zu stehen, aber es ist nur ein 
Sitzplatz frei. Um zu einer für beide anerkennbaren Entscheidung darüber zu 
kommen, wer von beiden sich setzen darf, wäre gemäß dem reinen 
Solidaritätsprinzip zu fragen, welches Individuum das dringendere Bedürfnis nach 
einem Sitzplatz hat. Die Individuen könnten 
die Dringlichkeit ihres Bedürfnisses übertreiben und z. B. sagen: "Ich kann mich 
kaum noch auf den Beinen halten und benötige ganz dringend einen Sitzplatz." 
Unter diesen Umständen müsste ein aufrichtiges Individuum mit einem schwächeren 
Bedürfnis zu sitzen anerkennen, dass das andere Individuum den Sitzplatz 
bekommen soll.
Damit stellt sich das Problem, wie man in 
individualistischen Entscheidungs-Systemen, wo jedes Individuum in der 
Formulierung seiner Interessen autonom ist, derartig unaufrichtige 
Interessenäußerungen ausschalten kann, um das wirkliche Gesamtinteresse zu 
bestimmen. {-291-}
2. Die Überprüfung der Aufrichtigkeit von 
Interessenäußerungen
Eine Möglichkeit zur Aufdeckung unaufrichtiger 
Interessenäußerungen besteht darin, dem Individuum Widersprüche in 
seinen Äußerungen nachzuweisen. Dabei geht man - wie bei der Überprüfung von 
Zeugenaussagen - von der Annahme aus, dass es einer erheblichen 
Konzentrationsleistung des Individuums bedarf, wenn es anstelle des wirklichen 
ein erfundenes Interesse ohne Inkonsequenz artikulieren will. 
Dadurch kann es 
vorkommen, dass es in einem Moment der Unkonzentriertheit oder wenn es sich 
unbeobachtet glaubt doch sein wirkliches Interesse verrät. Widersprüchlichkeiten 
stellen zwar als solche keinen Beweis der Unaufrichtigkeit des Betreffenden dar, 
denn widersprüchliche Interessen können auch andere Gründe haben. Sie bilden 
aber einen wichtigen Hinweis und stellen im Zusammenhang mit anderen Fakten ein 
zusätzliches Indiz dar. Im obigen Beispiel hätte man die Glaubwürdigkeit des als 
dringlich geäußerten Wunsches zu sitzen dadurch in Frage stellen können, dass 
man z. B. das betreffende Individuum mit der dazu in Widerspruch stehenden 
Tatsache konfrontiert, dass es beim Einsteigen einen vorhandenen freien 
Sitzplatz nicht {-292-}in Anspruch genommen hat. Folglich kann sein Bedürfnis zu 
Sitzen auch nicht so stark sein.
Da sich Interessen nicht nur verbal oder durch 
Wahlhandlungen artikulieren sondern auch durch teilweise unwillkürliches Ausdrucksverhalten, so können auch hier Inkonsistenzen zwischen den 
verschiedenen Ausdrucksebenen einen Hinweis auf die Unaufrichtigkeit der 
geäußerten Präferenzen geben. Wenn jemand etwa aus Höflichkeit gegenüber dem 
Gastgeber äußert, dass ihm das servierte Gericht ganz ausgezeichnet schmeckt, 
während er gleichzeitig ein mühsames Schlucken und einen verkrampften 
Gesichtsausdruck zeigt, so ist dies ein Hinweis darauf, dass ihm das Essen 
vielleicht doch nicht so gut schmeckt wie er vorgibt.
Eine weitere Möglichkeit zur Prüfung der Aufrichtigkeit von 
Interessenäußerungen ist die Überprüfung ihrer Übereinstimmung mit empirischen Fakten und Gesetzmäßigkeiten, die das geäußerte 
Interesse als unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich erscheinen lassen. Der 
Ansatzpunkt für eine solche Kritik ist der Umstand, dass Interessen selber 
Fakten darstellen, deren Vorhandensein kausaler Erklärung zugänglich ist so wie 
andere psychologische Faktoren auch. Art und Stärke von Interessen lassen sich 
im Prinzip empirisch-kausal erklären. Eine geäußerte Präferenz, die bekannten 
Fakten und Gesetzmäßigkeiten widerspricht, begründet dann einen Zweifel an ihrer 
Aufrichtigkeit.
Den Ansatz zu einer solchen ursächlichen Erklärung des 
eigenen Interesses hat das Individuum im obigen Bus-Beispiel bereits gemacht, 
indem es nicht nur gesagt {-293-} hat, dass sein Wunsch nach einem Sitzplatz sehr 
dringend ist, sondern indem es noch darauf hingewiesen hat, dass es kaum noch 
stehen könne. Wenn es etwa noch die Ursache dieser Erschöpfung dargelegt hätte - 
z. B. stundenlanges Stehen bei der Arbeit als Verkäufer - , so könnte man 
aufgrund dieser Fakten und erforschter Kausalzusammenhänge zwischen 
Muskelbeanspruchung und Erschöpfung auf das Vorhandensein eines entsprechend 
dringlichen Interesses nach Entlastung der Muskulatur schließen. 
Dabei bedarf es 
übrigens nicht unbedingt eines streng kausalen Erklärungsmodells, sondern es 
genügen oft - wie auch bei anderen empirischen Fragen - Argumente von 
geringerer Stringenz, wie z. B. der Hinweis auf andere vergleichbare Individuen, 
die unter gleichen Umständen andere Interessen äußern. [[20] S. dazu auch § 
39 zum interpersonalen Nutzenvergleich] Allerdings sind die 
Möglichkeiten einer empirisch gesicherten Argumentation beim gegenwärtigen 
Forschungsstand auf diesem Gebiet noch relativ gering. Vor allem die 
außerordentlich große Variabilität menschlicher Einstellungen aufgrund 
unterschiedlicher Lebenserfahrungen und Lernprozesse kompliziert die Situation 
erheblich. [[21] Mit der Suche nach Erklärungen der geäußerten 
Interessen ist natürlich nicht ihre inhaltliche normative Rechtfertigung 
gemeint. Beides muss deutlich unterschieden werden. Zur empirischen Bedürfnisforschung s. u. § 62.]
Ein weiteres Mittel zur Aufdeckung unaufrichtiger 
Interessenäußerungen soll hier noch erwähnt werden, obwohl seine Zuverlässigkeit 
sehr zweifelhaft ist. Gemeint ist der Rückschluss von bestimmten Angstsymptomen 
auf die Tatsache der Unaufrichtigkeit. Diesem {-294-} Vorgehen entspricht im Alltag der Satz: "Dir sieht man es 
doch an, dass du nicht die Wahrheit sagst."   Aber die Entwicklung zuverlässiger "Lügendetektoren"   erscheint kaum aussichtsreich, weil die emotionalen Reaktionen 
auf bewusstes Lügen sehr unterschiedlich sind und weil Angstreaktionen auch 
durch andere Faktoren wie die peinliche Befragungssituation selber ausgelöst 
werden können.
Aufgrund der angestellten Überlegungen wird deutlich, dass 
es meist einen großen Aufwand erfordert, unaufrichtige Interessenäußerungen als 
solche zu identifizieren, und dass die vorhandenen Verfahren nicht sehr 
zuverlässig sind. Deshalb werden andere Wege zur. Neutralisierung dieser 
Problematik notwendig. 
Eine Möglichkeit dazu besteht darin, 
die 
Entscheidungsverfahren selber so zu gestalten, dass das Eigeninteresse der 
Individuen zu unaufrichtiger Interessenäußerung möglichst gering ist. Je mehr 
Vorteile sich Individuen durch Unaufrichtigkeit verschaffen können, desto 
stärker ist ihre Motivation dazu und desto fragwürdiger wird das gesamte 
Entscheidungsverfahren.
Wenn man z. B. als Entscheidungsregel 
bestimmt, dass 
diejenige Alternative als kollektiv gewählt gilt, die bei Abstimmungen die wenigsten Stimmen erhält, so könnten die Individuen die Chancen 
für die Alternative, die ihrem 
individuellen Interesse am meisten entspricht, dadurch 
vergrößern, dass sie gerade nicht für diese sondern für andere Alternativen 
stimmen. Eine solche "Minderheitsregel"   würde geradezu zu unaufrichtigen 
Interessenäußerungen einladen. 
Im Unterschied dazu kann bei der Entscheidung 
zwischen zwei Alternativen nach dem Mehrheitsprinzip {-295-} niemand die Erfolgsaussichten der von ihm favorisierten 
Alternative durch unaufrichtige Präferenzäußerungen verbessern. Wie MURAKAMI in 
diesem Zusammenhang feststellt, sind kollektive Entscheidungsregeln mit einer 
nicht-negativen Entsprechung zwischen den individuellen Präferenzen und der 
kollektiven Präferenz relativ unempfindlich gegenüber einer unaufrichtigen 
Präferenzäußerung aufgrund von Eigeninteresse. [[22] S. MURAKAMI 1968, Kap.4, Abschnitt 
10.] 
Dabei ist mit einer "nicht-negativen Entsprechung zwischen individuellen und kollektiven 
Präferenzen"   gemeint, dass eine Alternative x in der kollektiven 
Präferenzrangordnung gegenüber einer andern Alternative nicht fallen darf, wenn 
sie nicht auch in der Rangordnung irgendeines Individuums gegenüber dieser 
Alternative gefallen ist. [[23] S. dazu auch unten § 132, wo die verwandte 
Bedingung der 'positiven Entsprechung' erläutert wird.]
Eine besonders elegante Lösung des Problems unaufrichtiger 
Interessenäußerungen liegt dann vor, wenn das Entscheidungsverfahren so 
konstruiert ist, dass gerade die vom Eigeninteresse bestimmte Darstellung der 
eigenen Interessen durch die Individuen dazu führt, dass die vom Gesamtinteresse 
her gesehen beste Alternative sich durchsetzt. In diesem Fall ist jede 
moralische Steuerung und Überwachung der Individuen zur Vermeidung von 
Unaufrichtigkeit überflüssig, denn ein eigeninteressiertes, strategisches 
Verhalten der Individuen bei ihren Interessenäußerungen ist im Gegenteil gerade 
erwünscht. 
In dieser Weise funktioniert z. B. das Abstimmungsverfahren 
entsprechend der {-296-} Regel der relativen Mehrheit, bei der gerade das 
strategische Abstimmungsverhalten der Individuen in Form von 
Abstimmungsvereinbarungen dazu führt, dass die Mehrheitsalternative sich 
durchsetzt. [[24] s. dazu unten Kap.19.]
Will man das Interesse eines 
derart unmündigen Individuums 
ermitteln, um dies bei der Bestimmung des Gesamtinteresses zu berücksichtigen, so muss derjenige Wille 
theoretisch konstruiert werden, den das Individuum hätte, 
wenn es selber zu einem qualifizierten Willen fähig wäre. Die Probleme, die bei 
einer derartigen Rekonstruktion individueller Interessen auftreten, 
sollen im Folgenden näher analysiert werden. {-297-}
§ 62 Die stellvertretende Rekonstruktion des individuellen 
Interesses durch eine  Bedürfnistheorie
1. Die intuitive Rekonstruktion fremder Interessen
Die Notwendigkeit zur Rekonstruktion der Interessen kann sich dabei auch dann 
ergeben, wenn das betreffende Individuum zwar im Prinzip zu qualifizierten 
Willensäußerungen fähig wäre, der dazu notwendige Aufwand für die Qualifizierung 
oder für die Ermittlung der Interessenäußerungen jedoch zu hoch ist.
Zum Ausgangspunkt der Überlegungen soll der relativ 
einfache Fall genommen werden, dass das betreffende Individuum zwar eine 
qualifizierte Willensäußerung abgeben könnte, dass dies aber nicht möglich ist, 
weil es nicht erreichbar ist. Dieser Fall, dass das Interesse eines nicht 
anwesenden Individuums berücksichtigt werden muss, ohne dass man es fragen kann, 
tritt im Alltag relativ häufig auf. Man stellt sich dann die Frage: "Wie würde 
der Betreffende selber entscheiden, wenn er anwesend wäre?"   und versucht 
dementsprechend seine Entscheidung zu rekonstruieren. {-298-} 
Eine solche Prognose des Entscheidungsverhaltens ist 
zumindest annäherungsweise möglich, wenn man die Bedürfnisse des Individuums aus 
früheren, ähnlich gelagerten Entscheidungssituationen her kennt und die dort 
gewonnenen Kenntnisse auf den jetzigen Fall überträgt. So kommt es z. B. durch 
längeres enges Zusammenleben etwa innerhalb einer Familie oft zu einer ganz 
erstaunlichen Kenntnis der Wünsche, Vorlieben und Abneigungen des andern. Eine 
solche Kenntnis der Bedürfnisse des andern ist für ein befriedigendes 
Zusammenleben innerhalb eines Haushalts, in dem ständig Entscheidungen 
stellvertretend für die andern Mitglieder getroffen werden müssen, eine 
notwendige Voraussetzung. 
Für eine solche intuitive Rekonstruktion des 
Interesses eines andern Individuums ist also u. U. noch nicht einmal ein 
methodisch kontrolliertes wissenschaftliches Vorgehen erforderlich, denn die 
angesammelte Alltagserfahrung reicht hierzu bereits aus. In dem Maße, wie eine 
solche Rekonstruktion gelingt, ist auch eine stellvertretende Entscheidung 
unproblematisch. 
Ob eine Interessenrekonstruktion richtig ist, ließe sich dabei 
in diesem Fall relativ einfach dadurch überprüfen, dass man das betreffende 
Individuum nachträglich selber befragt, ob es mit der vorgenommenen Rekonstruktion seiner 
Interessen einverstanden ist.
2. Die Betroffenheit des Individuums von Entscheidungen
Eine grobe Vorklärung der Interessenlage lässt 
sich dabei oft schon dadurch gewinnen, dass man danach fragt, 
ob das Individuum 
überhaupt durch diese Entscheidung betroffen wird, d. h. ob seine 
Interessen überhaupt tangiert werden.
Wenn die anstehende Entscheidung z. B. Veränderungen in 
einem andern Land betreffen, zu dem das Individuum keine besonderen Beziehung 
hat, sodass praktisch keine Veränderung seiner eigenen Lebensumstände zu erwarten 
ist, so reichen bereits sehr einfache Annahmen über die Interessenstruktur von 
Menschen aus, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die 
Entscheidung dem Individuum "gleichgültig"   ist bzw. dass sie das 
Individuum "gar nicht 
betrifft".
Eine derartige Grenzziehung zwischen Betroffensein und 
Nicht-Betroffensein von einer Entscheidung ist jedoch nicht ganz 
unproblematisch. So gibt es z. B. Interessen von Individuen, die praktisch 
unabhängig von einer direkten faktischen Betroffenheit wirksam sind, weil sie - 
vermittelt über die Identifikation des Individuums mit einer "Idee"   - an ganz 
allgemeine Zielvorstellungen geknüpft sind. So wird es z. B. einem engagierten 
Alkoholgegner nicht gleichgültig sein, ob in einem andern Land die 
Alkoholwerbung eingeschränkt wird oder nicht, selbst wenn er selber keine 
unmittelbare Beziehung zu diesem Land hat und keine Rückwirkungen auf ihn selber 
zu erwarten {-300-} sind. 
Bei solchen "idealistischen"   Interessen kann folglich 
das Fehlen unmittelbarer Auswirkungen auf das betreffende Individuum nicht den 
Schluss auf seine Indifferenz gegenüber der Entscheidung rechtfertigen. Hier 
liegen sicherlich noch erhebliche theoretische Probleme, die insofern wichtig 
sind, als sie das Konzept des "individuellen Interesses"   überhaupt betreffen. So 
hat z. B. BAIER den Versuch gemacht, zwischen einer wirklichen Betroffenheit des 
Individuums, die auf faktischen Folgewirkungen der zur Entscheidung stehenden 
Alternativen beruht, und einer nur scheinbaren Betroffenheit, die allein durch 
das Wissen von den Alternativen vermittelt ist, eine Unterscheidung zu treffen. 
[[25] S. dazu BAIER 1967, S.128.] 
Zu klären wäre dabei vor allem, inwiefern es sich bei solchen "idealistischen"   Interessen nicht eigentlich um individuelle Interessen handelt, 
sondern um eine engagierte Form des moralischen Urteils - etwa dass die 
Einschränkung des Alkoholkonsums im Gesamtinteresse jeder Gesellschaft liegt. 
Der "Idealist"   wäre dann jemand, der in engagierter Form für die Durchsetzung 
normativer Vernunft Partei ergreift, wobei nur die psychologische Form der 
Identifikation mit einer Idee den Eindruck erweckt, als handele es sich dabei um 
sein individuelles Interesse. [[26] Zur Rolle von "Idealen"   im Verhältnis zu "Interessen"   
vgl. das Kapitel hierzu in HARE 1965, S.137ff.] {-301-}
3. Die Erforschung der menschlichen 
 
Bedürfnisstruktur
- ihr Leben erhalten wollen,
- Krankheit und Schmerzen vermeiden 
wollen,
- in bestimmten Abständen ein Bedürfnis 
nach Nahrung und Schlaf haben,
- extreme Hitze und Kälte zu meiden suchen,
- ein Bedürfnis nach körperlichem 
Kontakt und sexueller Lust haben,
- ein Bedürfnis nach Kommunikation mit 
andern Menschen haben usw. usf.
Solche allgemeinmenschlichen Bedürfnisse lassen sich vor 
allem für den Bereich bestimmen, wo es um die Bedingungen menschlichen Überlebens, 
um das Existenzminimum geht. Allerdings kann auch dieses Existenzminimum je nach 
Umweltverhältnissen und individueller Konstitution schwanken. [[27] Vgl. hierzu und zur Bedürfnistheorie allgemein ARNASZUS 1974, S.84ff.] Wenn man 
annimmt, dass das Interesse des Individuums an der Erhaltung seines eigenen 
Lebens dominierend ist, so lässt sich daraus schließen, {-302-} dass alle Alternativen nicht im Interesse eines 
Individuums sind, die sein Überleben verhindern. Solche Existenzminima können 
deshalb zumindest als normative Grenzwerte, d. h. als Beschränkungen des 
Spielraums angesehen werden, innerhalb dessen sich eine Alternative befinden 
muss, die dem Interesse eines Individuums entsprechen soll.
Derartige konkrete Maßstäbe von Grundbedürfnissen oder 
Mindesttoleranzgrenzen fordert auch KNAPP: "Mindesttoleranzgrenzen sind nichts 
anderes als maximale Belastungsgrenzen des Menschen, die auf empirisch 
überprüfbaren Kriterien beruhen und als solche Gegenstand wissenschaftlicher 
Bestimmung sein können. Quantitative Maßstäbe dieser Art gibt es bereits in Form 
von Grenzen tolerierbarer Luft- und Wasserverunreinigung, der Radioaktivität der 
Atmosphäre, der tragbaren Konzentration von gesundheitsschädlichen Chemikalien 
zur Konservierung von Nahrungsmitteln usw. Auch auf dem Gebiet menschlicher 
Ernährung hat unser Wissen erhebliche Fortschritte gemacht, indem wir heute die 
minimal erforderlichen Quantitäten und Qualitäten von verschiedenen Nährstoffen 
für verschiedene Arten menschlicher Tätigkeiten und Umgebungen bestimmen können. 
Auch für das Wohnungs- und Verkehrswesen und die Lebensbedingungen in den 
heutigen Großstädten sowie das Gesundheitswesen arbeitet man heute an der 
Vorbereitung von empirisch überprüfbaren Indikatoren der Belastung bzw. 
Überlastung des Menschen."   
Allerdings betont KAPP selber, "dass 
Mindesttoleranzgrenzen keine Maßstäbe optimaler Lebensbedingungen sind, und zwar 
aus zwei Gründen. Erstens umfassen sie nur einen Teil menschlicher Bedürfnisse 
und zweitens sind sie Mindestgrenzen mit Bezug auf diese Bedürfnisse. Sie 
stellen erstrebenswerte Zustände höchstens insofern dar, als {-303-} eine Vernachlässigung bzw. Überschreitung solcher Grenzen 
eine tatsächliche Gefährdung des Menschen bedeuten würde. ... In diesem 
spezifischen und im Grunde relativ bescheidenen Sinne kann man derartige 
Toleranzgrenzen gleichzeitig als wirkliche Mindesterfordernisse des menschlichen 
Lebens, das heißt als existentielle Grundbedürfnisse bezeichnen."   [[28] 
KAPP 1968, S.12ff.]
Allerdings 
ergeben sich schon bei der Aufstellung von 
Existenzminima Probleme. So kommt es ja vor, dass Menschen bewusst ihr Leben 
opfern, sei es, weil ihnen ein Weiterleben noch unerträglicher erscheint, oder 
sei es, weil ihnen ein anderer Zweck noch wichtiger ist. 
Außerdem bleibt unklar, wie Alternativen zu bewerten sind, die mit einem 
erhöhten Überlebensrisiko verbunden sind, denn das Bedürfnis zu überleben 
kann schwerlich so weitgehend interpretiert werden, dass bereits die geringste 
Risikoerhöhung eine Alternative unakzeptabel macht. Dann dürfte z. B. auch kein 
Mensch mehr Auto fahren.
Ein weiteres Problem solcher allgemeinen Aussagen über 
menschliche Bedürfnisse besteht darin, dass diese immer am Beispiel von Menschen 
eines bestimmten Kulturkreises und einer bestimmten Epoche gewonnen wurden, 
womit ihre Verallgemeinerung auf alle Menschen problematisch wird. Die 
Stichprobe, die eine solche induktive Verallgemeinerung erlauben würde, ist 
nicht repräsentativ für die Gesamtmenschheit sondern selektiv. Man hätte also jedes 
Mal zu überprüfen, ob eine Verallgemeinerung im speziellen Fall zulässig 
ist.[[28] KAPP 1968, S.12ff.] {-304-}
 
Isolierte Feststellungen über einzelne Bedürfnisse 
reichen jedoch dann nicht mehr zur Bestimmung des individuellen Interesses aus, 
wenn zwei oder mehr Arten von Bedürfnissen von der Entscheidung in 
entgegen gesetzter Weise tangiert sind. Ein banales Beispiel wäre die 
Entscheidung über die Entfernung eines 
Weisheitszahns, der die Gesundheit der andern Zähne gefährdet, dessen Entfernung 
aber mit Schmerzen verbunden ist. In einem solchen Fall müssen die beiden 
Bedürfnisse nach Gesundheit und Schmerzfreiheit gegeneinander abgewogen werden, 
um das individuelle Interesse zu bestimmen. 
Das bedeutet aber, dass man die 
Bedürfnisse gegeneinander gewichten muss, dass also die Bedürfnistheorie 
Aussagen über intraindividuell vergleichbare Bedürfnisintensitäten machen muss, 
um die verschiedenen tangierten Bedürfnisse zu einem individuellen Interesse zu 
aggregieren. {-305-} Solche komplexen Gewichtungen verschiedener 
Bedürfnisbereiche sind jedoch vom gegenwärtigen Stand der Motiv- und 
Bedürfnisforschung nur sehr grob zu leisten, obwohl hier in den letzten Jahren 
erhebliche Fortschritte erzielt worden sind. Die Bedürfnisse und ihre Stärke 
sind von Individuum zu Individuum verschieden und unterscheiden sich selbst beim 
gleichen Individuum von einem Zeitpunkt zum andern. Insofern können 
Rekonstruktionen von Interessen mittels einer Bedürfnistheorie nur mit Vorsicht 
vorgenommen werden.
5. Die Annahme einer 
 
Hierarchie der Bedürfnisse
Unter 
dieser Bedingung erfolgt die individuelle Entscheidung zwischen verschiedenen 
Alternativen in der Weise, dass zuerst das wichtigste Bedürfnis als Kriterium 
herangezogen wird. Erfüllen mehrere Alternativen dies Bedürfnis gleich gut, so 
wird das zweitwichtigste Bedürfnis zur Entscheidung herangezogen. Wenn auch dies 
keine Entscheidung bringt, so zieht man das drittwichtigste Bedürfnis heran usw. 
bis schließlich nur noch eine Alternative übrig bleibt, die dann dem Interesse 
des Individuums am besten entspricht. 
Wenn im obigen Beispiel das Bedürfnis nach 
Gesundheit einen höheren Rang besitzt als das Bedürfnis nach Schmerzvermeidung, 
so würde die Alternative: "Weisheitszahn ziehen"   dem Interesse des Individuums am besten 
entsprechen, denn sie erfüllt {-306-} das vorrangige Kriterium "Gesundheit"   besser.
Solche lexikographischen Modelle menschlicher 
Bedürfnishierarchien sind sicherlich einfacher zu erstellen als eindimensionale 
Intensitätsskalen oder Nutzenfunktionen, und sie spielen bei der Vereinfachung 
von Entscheidungsproblemen sicherlich eine gewisse Rolle. Mit einer 
lexikographischen Ordnung kann man jedoch keinen Vergleich zwischen Bedürfnissen 
verschiedener Stufen vornehmen. Es können also nicht geringe Unterschiede im 
Befriedigungsgrad eines höheren Bedürfnisses durch große Unterschiede im 
Befriedigungsgrad weniger wichtiger Bedürfnisse kompensiert werden. Damit stellt 
sich jedoch die Frage, ob ein derartig vereinfachtes Modell noch eine 
hinreichende Annäherung an die reale Beschaffenheit der menschlichen 
Bedürfnisstruktur darstellt und für eine Rekonstruktion der individuellen 
Interessen geeignet ist. In vielen Fallen existiert keine derartig fixierte 
Prioritätenskala der Bedürfnisse, die ein starres Nacheinander in der 
Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse erfordert. [[30] Zu den Möglichkeiten solcher hierarchischer 
Bedürfnismodelle s. BAY 1970, S.12f. u. 327f. sowie die dort diskutierte 
psychologische Literatur.]
6. Methodologische Probleme der Bedürfnistheorie
Der Begriff "Bedürfnis"   bezeichnet in der empirischen 
Psychologie kein unmittelbar der Beobachtung zugängliches Phänomen, sondern 
stellt ein theoretisches Konstrukt dar. Theoretische Konstrukte haben nur einen 
indirekten Bezug zur beobachtbaren Realität, insofern sich mit ihnen Aussagen 
formulieren lassen, aus denen wiederum Hypothesen deduktiv ableitbar sind, die 
dann unmittelbar der Beobachtung zugänglich sind. Wenn man sagt: "Individuum A 
hat ein Bedürfnis zu trinken", so drückt man damit nicht einen in gleicher Weise 
beobachtbaren Sachverhalt aus wie wenn man sagt: "Individuum A hat eine trockene 
Zunge". Die Frage ist, wie man trotzdem die erstere Aussage empirisch überprüfen 
kann und wie der Ausdruck "Bedürfnis zu trinken"   (Durst) mit erfahrbaren 
Phänomenen verknüpft ist.
In der 
erfahrungswissenschaftlichen Theoriebildung dienen Bedürfnisfeststellungen dazu, 
bestimmte Verhaltensweisen damit zu erklären, dass sie der Befriedigung dieses 
Bedürfnisses dienen. Wenn man z. B. jemanden etwas trinken sieht, so kann man 
dies Verhalten mit dem Vorhandensein von Durst erklären. Die Frage ist jedoch, 
ob man durch eine solche bedürfnistheoretische Erklärung überhaupt irgendwelche 
zusätzlichen Erkenntnisse über die Wirklichkeit gewonnen hat oder ob es sich 
dabei nur um eine tautologische Formulierung handelt. Die Feststellung: "Individuum A hat getrunken, weil es Durst hat"   hat {-308-} dann keinerlei zusätzlichen Erkenntniswert gegenüber der 
Aussage "Individuum A hat getrunken", wenn sich die Tatsache des Durstes nicht 
logisch unabhängig von der Tatsache des Trinkens feststellen lässt. 
Es darf also 
nicht der Zirkelschluss gemacht werden, dass man auf die Frage: "Wie stellt man 
fest, dass A Durst hat?"   antwortet "Am Trinken", und dass man auf die Frage: "Warum trinkt A?"   antwortet: "Weil er Durst hat".[[31] Solcherart "hoffnungslose Zirkularität"   bescheinigt 
Joan ROBINSON dem Nutzenbegriff der neoklassischen erklärenden Preistheorie. S. 
ROBINSON 1966, S. 148.]
Eine Möglichkeit, um das Bedürfnis unabhängig vom 
Befriedigungsverhalten zu bestimmen und damit eine Tautologie zu vermeiden, 
liegt darin, dass man als beobachtbaren Indikator für das Bedürfnis die verbalen 
Äußerungen des Individuums nimmt, die sich auf seine introspektiv wahrnehmbaren 
Empfindungen des Durstgefühls beziehen. Allerdings hätte eine solche "Theorie"   
über die Ursachen des Trinkens weiterhin eine sehr geringe Erklärungskraft, denn 
man könnte damit nur vorhersagen, dass ein Individuum, das das Bedürfnis zu 
trinken äußert, trinken wird, sofern etwas Trinkbares verfügbar ist und keine 
andern Bedürfnisse dem entgegenstehen. 
Aussagekräftiger würde eine empirische 
Theorie des Trinkbedürfnisses erst dadurch, dass man den Faktor 'Durst' in den 
Zusammenhang weiterer theoretischer Aussagen stellt, indem man z. B. formuliert: "Wenn ein Mensch mehrere Stunden keine Flüssigkeit aufgenommen hat, so verspürt 
er ein Durstgefühl, das mit wachsender Dauer stärker wird"   oder "Je höher die 
Außentemperatur ist, desto stärker entwickelt sich das Durstgefühl"   oder "Wenn {-309-} Menschen starken Durst haben, suchen sie nach etwas 
Trinkbarem"   usw. 
So ließe sich eine erfahrungswissenschaftliche Theorie des 
Trinkbedürfnisses aufbauen, die für die Erklärung und Prognose menschlichen 
Verhaltens brauchbar ist. Die Brauchbarkeit einer bestimmten Bedürfnistheorie in 
erklärender Absicht lässt sich dabei im Prinzip daran beurteilen, wie gut diese 
Theorie zur Erklärung und Prognose menschlichen Verhaltens geeignet ist und 
unsere diesbezüglichen Fragen beantwortet. Durch das Kriterium der Erklärungskraft wird also in der empirischen Psychologie willkürlichen 
Begriffsbestimmungen und Behauptungen über menschliche Bedürfnisse 
entgegengewirkt.
Das Kriterium der Erklärungskraft kann jedoch nicht ohne 
weiteres zur Bestimmung eines normativ anwendbaren Bedürfnisbegriffs 
herangezogen werden. Während die empirische Bedürfnistheorie ein 
Befriedigungsverhalten erklären soll, soll die normative Bedürfnistheorie 
die Befriedigung fordern, d. h. sie dient zur Rekonstruktion des zu 
berücksichtigenden individuellen Interesses angesichts einer 
Entscheidungssituation. Eine erklärende Bedürfnistheorie wäre nur dann auf die 
normative Problemstellung unverändert übertragbar, wenn gilt, dass sich die 
Individuen immer gemäß ihren wirklichen Interessen verhalten. Wenn eine 
erfahrungswissenschaftliche Bedürfnistheorie prognostizieren kann, wie sich ein 
bestimmtes Individuum in einer Entscheidungssituation verhalten wird, so wäre 
unter dieser Bedingung immer auch zugleich bestimmt, welche Entscheidung dem 
Interesse des Individuums am besten entspricht. {-310-} 
Wie jedoch oben ausgeführt wurde, entspricht das Verhalten 
des Individuums nicht notwendig seinem wirklichen Interesse in Bezug auf die zur 
Entscheidung anstehenden Alternativen, sondern tut dies nur, wenn bestimmte 
Qualifikationsbedingungen erfüllt sind. Eine Bedürfnistheorie in normativer 
Absicht müsste deshalb so beschaffen sein, dass sie die Entscheidung des 
Individuums bei Erfüllung der Qualifikationsbedingungen der 
Entscheidung bestimmt. 
Damit ist für eine Bedürfnistheorie in normativer 
Absicht 
zugleich ein intersubjektiv zugängliches Falsifikationskriterium formuliert, das 
einen Schutz gegen die beliebige Postulierung "wirklicher Bedürfnisse"   bietet. 
Die bedürfnistheoretische Rekonstruktion eines individuellen Interesses ist 
dadurch überprüfbar und falsifizierbar, dass sich das Individuum tatsächlich für die bedürfnistheoretisch bestimmte Alternative entscheidet, sofern 
die Qualifikationsbedingungen gegeben sind.
Wenn also irgendwelche Bedürfnisse eines Individuums 
postuliert werden, so müssen diese letztlich durch die qualifizierten 
Interessenäußerungen des betreffenden Individuums überprüfbar sein. Nur dann ist 
gewährleistet, dass das Individuum diese von andern postulierten Bedürfnisse als 
seine eigenen akzeptieren kann. Werden die individuellen Bedürfnisse jedoch über 
Kriterien bestimmt, die vom qualifizierten Willen des betreffenden Individuums 
unabhängig sind, so ist damit die Konsensfähigkeit in Bezug auf die 
individuellen Interessen in Frage gestellt, die ja die grundlegende 
Voraussetzung für die normative Anerkennbarkeit eines derart bestimmten 
Gesamtinteresses und für die Gültigkeit der gewonnenen Normen darstellt. {-311-}
Ein Beispiel für eine unzulässige Abtrennung der 
postulierten Bedürfnisse vom qualifizierten Willen des betreffenden Individuums 
wäre etwa die Verbalhornung des psychoanalytischen Verdrängungskonzeptes. Dabei wird ein bestimmtes Verhalten beliebig als Ausdruck eines 
verdrängten Wunsches interpretiert und diese Behauptung wird geschickt gegen 
eine mögliche Widerlegung immunisiert, wie etwa im folgenden Beispiel.
Angenommen eine Frau zeigt sehr starke Besorgnis, wenn ihr 
Mann mit dem Auto unterwegs ist. Sie ermahnt ihn häufig zu vorsichtiger 
Fahrweise, zum Anlegen des Sicherheitsgurtes, zur Vermeidung von Fahrten während 
der Dunkelheit, macht sich große Sorgen, wenn er später als erwartet kommt usw. 
Dies Verhalten interpretiert nun jemand vulgär-psychoanalytisch als Ausdruck 
eines verdrängten Wunsches der Frau. Er sagt etwa: "Diese außergewöhnliche 
Besorgnis der Frau dient nur zur Verdeckung der verdrängten entgegen gesetzten 
Motive der Frau und verrät, dass sie eigentlich ihren Mann hasst und den 
unbewussten Wunsch hat, er möge verunglücken". 
Die Frau mag diese 
Motivunterstellung empört zurückweisen und ihre Besorgnis mit dem Hinweis 
begründen, dass tatsächlich viele Autofahrer verunglücken und dass ihre Sorge 
also berechtigt ist. Der "Psychoanalytiker"   wird entgegnen, dass ihr entrüsteter 
Protest nur wiederum beweise, dass sie einen starken Widerstand gegen die 
Bewusstwerdung dieser Todeswünsche gegen ihren Mann hat und dass ihr 
Rechtfertigungsversuch nur eine entsprechende 'Rationalisierung' darstellt.
Ob die Frau also den behaupteten Wunsch zugibt oder 
abstreitet, jedes mögliche Verhalten dient nur der Bestätigung des theoretisch 
postulierten Bedürfnisses {-312-} Die Frau befindet sich also in einer 
Zwickmühlensituation: gibt sie den Wunsch zu, so wird die Behauptung bestätigt, 
streitet sie ihn ab, so wird die Behauptung über den Todeswunsch ebenfalls 
bestätigt. Damit hat sich eine solche Annahme von Bedürfnissen gegen jede 
mögliche Widerlegung immunisiert und ist damit argumentativ unzulässig. 
Da der Wille der Frau bei der Bestimmung ihrer eigenen 
Bedürfnisse überhaupt keine Rolle spielt, stellt eine Norm, die aufgrund einer 
derartigen Bestimmung des Bedürfnisses formuliert wird, nur ein bloßes 
Gewaltverhältnis dar und ist nicht konsensfähig. {-313-}
Eine erste erhebliche Vereinfachung dieser Aufgabe ergibt 
sich durch die Einführung individualistischer Entscheidungs-Systeme, in denen 
für die Bestimmung der individuellen Interessen nur noch das betreffende 
Individuum selber zuständig ist und kein direkter Konsens aller notwendig ist. 
Trotzdem bleibt der Aufwand zur Ermittlung des Gesamtinteresses noch erheblich, 
denn es müssen ja für sämtliche Alternativen jeder Entscheidung Informationen 
über die individuellen Interessen aller Beteiligten erfasst und verarbeitet 
werden.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass zwischen dem 
Auftauchen des normativen Problems und dem Abschluss des Informations- und 
Entscheidungsprozesses Zeit verstreicht. In dieser Zeit bleibt die Umwelt 
jedoch nicht unverändert und auch die Interessen der Individuen sind zeitlichen 
Veränderungen unterworfen. {-314-} Dadurch veralten die eingeholten Informationen, sodass eine 
Entscheidung schon in dem Augenblick überholt sein kann, wo sie schließlich 
getroffen wird. Oft sind relevante Alternativen, die anfänglich bestanden 
hatten, nach Ablauf einer bestimmten Zeit z. B. überhaupt nicht mehr verfügbar.
Ein Alltagsbeispiel kann die 
Bedeutung der Zeitbeschränkung im 
Entscheidungsprozess verdeutlichen. Angenommen es gibt zu einem Ziel zwei 
Verkehrsverbindungen: die Eisenbahn, die um 13 Uhr abfährt, und das Flugzeug, 
das um 15 Uhr fliegt. Wenn man sich um 11 Uhr die Frage stellt, welches der 
beiden Verkehrsmittel man wählen soll, so muss die Entscheidung spätestens 
innerhalb von 2 Stunden getroffen sein, denn danach ist die Entscheidung bereits 
von den Ereignissen überholt, da nur noch das Flugzeug bleibt.
Oft duldet eine Entscheidung keinen Aufschub oder eine 
Entscheidung "drängt", wie man sagt. Ein bestimmtes Handeln muss innerhalb einer 
bestimmten Frist normativ geregelt werden, wenn man nicht relevante Alternativen 
vergeben will, die zwar anfänglich bestanden haben, deren Realisierung aber nach 
einer bestimmten Zeit unmöglich wird. Schließt man den Entscheidungsprozess 
später ab, so hat man sich damit praktisch gegen diese entgangenen Alternativen 
entschieden. Die Kosten der Entscheidung bestehen neben dem Aufwand für 
Information, Kommunikation und Organisation also auch in den durch die Dauer des 
Entscheidungsprozesses bereits entgangenen Alternativen, von denen man erst im 
Nachhinein erkennt, dass sie eigentlich hätten gewählt werden müssen. 
Aus diesem 
Grund spielen in der Praxis Verfahren zur Senkung des Aufwands und zur 
Beschleunigung bei der {-315-} Ermittlung der individuellen Interessen und der Bestimmung 
des Gesamtinteresses eine erhebliche Rolle. Viele Verfahren, die unter dem 
Gesichtspunkt einer perfekten Messung der individuellen Nutzen vielleicht Mängel 
aufweisen, erweisen sich aufgrund ihres geringen Aufwands und ihrer 
Schnelligkeit als beste aller möglichen Verfahren der kollektiven Entscheidung.[[1] Zur Vereinfachung von Entscheidungsproblemen s. a. GÄFGEN 1968, Kap.9.]
Vor allem wenn es sich um 
individualistische Entscheidungs-Systeme handelt, bei denen die Bestimmung der 
individuellen Interessen durch die betreffenden Individuen selber erfolgt, 
bedeutet eine derartige Dezentralisierung der Entscheidungsaufgaben eine 
erhebliche Senkung des Entscheidungsaufwands. Es muss sich dann immer nur eine 
begrenzte Anzahl von Individuen über die zur Entscheidung anstehenden 
Alternativen informieren und ihr Interesse artikulieren, während sich die 
übrigen Individuen damit gar nicht befassen {-316-}müssen. Zugleich wird die Menge der zur Aggregierung des 
Gesamtinteresses nötigen Daten entsprechend verringert.
Das Problem ist jedoch, wie sich rechtfertigen lässt, dass 
kollektive Entscheidungen, die für jedermann normative Gültigkeit beanspruchen, 
nur von einem Teil der Individuen gefällt werden.
Die mögliche 
Rechtfertigung für eine derartige Abgrenzung dezentraler Verfügungsbereiche 
besteht darin, dass deren Einteilung entsprechend der Betroffenheit der Individuen vorgenommen wird. 
Die Individuen 
werden von einer Entscheidung in ihren Interessen nicht immer gleich stark 
betroffen und bei vielen Entscheidungen werden die Interessen bestimmter 
Individuen praktisch überhaupt nicht berührt. Für diese Individuen ist die 
Entscheidung dann im wahrsten Sinne des Wortes "gleichgültig"   und "uninteressant", denn sie haben für keine der Alternativen eine Präferenz. In 
einem solchen Fall braucht die Interessenstruktur dieser Individuen gar nicht 
erst berücksichtigt zu werden. Insofern diese der Entscheidung gegenüber 
indifferent sind, wird die Gültigkeit der getroffenen Entscheidung auch dann 
nicht problematisch, wenn diese Individuen an der Entscheidung nicht beteiligt 
waren. [[2] ähnlich auch SCHWEMMER 1973, S.89f.]
Insofern sich die meisten natürlichen Prozesse mit Zunahme 
der zeitlichen und räumlichen Entfernung in ihren Auswirkungen abschwächen, 
liegt eine entsprechende Zusammenfassung der jeweils Betroffenen nach zeitlichen 
und räumlichen Kriterien nahe. Vor allem die räumliche, territoriale Gliederung 
der Individuen als Bewohner bestimmter Regionen ist ein verbreitetes Verfahren 
der Vereinfachung kollektiver Entscheidungen. Man denke nur an die nach 
räumlichen Kriterien bestimmten Staaten und ihre weiteren regionalen 
Untergliederungen bis hinunter zur Zusammenfassung einer Siedlung zu einer 
Gemeinde mit bestimmten Selbstverwaltungsrechten. 
Je weiter ein Individuum 
räumlich von einem bestimmten Eingriff entfernt ist, desto weniger ist es in der 
Regel von der Entscheidung betroffen.[[3] Natürlich gibt es hier ganz wesentliche Ausnahmen, die 
dann eine spezielle überregionale Organisation der Entscheidungsfindung 
erforderlich machen. Man denke etwa an nukleare Explosionen in der Atmosphäre 
oder die Verschmutzung von Flüssen, die Auswirkungen über tausende von 
Kilometern haben können.] 
So sind z. B. vom Bau eines Flughafens 
vor allem die Bewohner der umliegenden Region betroffen, sei es als Benutzer 
oder nur als Anwohner. Und von der Beschaffenheit des Schulsystems einer Region 
sind vor allem die Bewohner dieser Region betroffen. [[4] Hier findet eine gezielte Einschränkung der Betroffenen 
insofern statt, als die Schulgesetzgebung nur an die Bevölkerung einer 
bestimmten Region adressiert ist und nur für diese Geltung besitzt.] Auch unterhalb der 
Gemeindeebene lassen {-318-} sich räumlich bestimmte Gruppen gemeinsam betroffener 
Individuen zusammenfassen, etwa die Bewohner von Ortsteilen, Straßenzügen, 
Häusern oder Wohnungen bis hin zur Abgrenzung von Entscheidungsbereichen, von 
denen vorwiegend ein einziges Individuum betroffen ist. [[5] Zur individuellen Verfügungssphäre s. u. § 78.] Zusätzliche 
Vorteile solcher räumlich zusammenhängenden Entscheidungseinheiten bestehen in 
der Minimierung der für die Entscheidungsfindung notwendigen Wege von 
Informationen und Personen, wodurch eine Beschleunigung des 
Entscheidungsprozesses erreicht wird.
Die zeitliche Gliederung der Individuen nach dem 
Kriterium der Betroffenheit ergibt sich in individualistischen 
Entscheidungs-Systemen automatisch dadurch, dass nur die jeweils lebenden 
Individuen jedoch nicht die zukünftigen Generationen am Entscheidungsprozess 
beteiligt sind. Oder es werden nur die jeweiligen Mitglieder einer 
Entscheidungseinheit hinsichtlich ihrer Interessen berücksichtigt und nicht auch 
diejenigen Individuen, die vielleicht zukünftig einmal zu dieser 
Entscheidungseinheit gehören werden. [[6] Allerdings gibt es auch viele Eingriffe mit 
außerordentlich langfristigen Auswirkungen für die folgenden Generationen. Als 
Beispiele wären die Erschöpfung der natürlichen Bodenschätze oder 
Aufforstungsmaßnahmen zu nennen.]
Neben den recht groben raum-zeitlichen Kriterien zur 
Abgrenzung des Kreises der Betroffenen sind natürlich noch die verschiedensten 
andern Gesichtspunkte heranzuziehen. So lassen sich etwa die Benutzer derselben {-319-} 
sozialen Einrichtung oder die Beschäftigten desselben 
Wirtschaftsbetriebes zu einem Kreis spezifisch Betroffener zusammenfassen.
Durch eine solche Beratung kann auch die Qualität der 
individuellen Entscheidung erhöht werden, da sich nicht jedes Individuum selber 
seine Informationen beschaffen muss, sondern auf bereits vorhandenes Wissen 
zurückgreifen kann. Angesichts einer Vielzahl zu treffender Entscheidungen und 
der Komplexität vieler Probleme könnte eine solche Information durch isolierte 
Individuen bei der vorhandenen Zeitbeschränkung immer nur sehr oberflächlich 
erfolgen. 
Die Beratung muss dabei übrigens nicht notwendig durch "professionelle"   Berater erfolgen, sondern kann von allen dafür geeigneten 
Individuen gegeben werden, sei es, dass ein Individuum zufällig über den 
anstehenden Entscheidungskomplex Bescheid weiß, oder sei es, dass es selber 
früher einmal vor einer ähnlichen Entscheidung gestanden hat und bereits über 
entsprechende Erfahrungen {-320-} verfügt.
Eine solche Beratung beinhaltet natürlich immer die 
Möglichkeit, dass der Experte nicht nur die Interessen der zu Beratenden 
verfolgt, sondern auch seine eigenen Interessen durch eine entsprechend 
zurechtgemachte Information einfließen lässt. Diese Macht zur Beeinflussung der 
kollektiven Entscheidung aufgrund eines Informationsvorsprungs kann jedoch durch 
bestimmte institutionelle Mechanismen beschränkt werden. So besteht eine Form 
der Kontrolle darin, dass der Ratsuchende sich den Berater seines Vertrauens 
selber aussuchen kann und diesen auch wechseln kann, wenn der Berater sein 
Vertrauen verloren hat. [[7] Natürlich muss es auch einen Mechanismus geben, der den 
ausgewählten Berater dann dazu motiviert, diese Beratung für das betreffende 
Individuum auch nach besten Kräften zu leisten. Wo dies durch Bezahlung 
geschieht, mag es sein, dass Individuen zwar das formale Recht, aber nicht die 
faktische Möglichkeit zur Wahl eines qualifizierten Beraters haben, da ihnen das 
notwendige Geld fehlt.]
Ein anderer Mechanismus zur Kontrolle der Berater ist die 
Existenz einer Mehrzahl voneinander unabhängig tätiger Berater, die durch ihre 
unterschiedlichen Informationen und Ratschläge wechselseitig eine Kontrolle 
aufeinander ausüben. Diese Kontrolle ist jedoch gefährdet, wenn es ein 
Wissensmonopol auf dem betreffenden Gebiet gibt. Außerdem ist die wechselseitige 
Kontrolle der Berater auch dann unwirksam, wenn die Berater selber eine Gruppe 
mit spezifischer Interessenlage sind. Denn - wie der Volksmund sagt - "Eine Kräher 
hackt der anderen kein Auge aus."   {-321-}
 
Dabei können die Vertretungsbefugnisse des Repräsentanten 
je nach konkretem Entscheidungsverfahren unterschiedlich weit reichen. So kann 
der Repräsentant einmal nur die Funktion haben, die Entscheidung der vertretenen 
Individuen zu übermitteln und die Argumente hierfür vorzutragen; oder aber der 
Interessenvertreter hat die Befugnis, innerhalb festgelegter Grenzen selbständig 
zu entscheiden. Auch eine völlige Übertragung der Entscheidungsvollmacht für 
einen bestimmten Zeitraum oder bis auf Widerruf ist denkbar.
Bei der Interessenvertretung stellt sich das Problem der 
möglichen Interessenverfälschung natürlich in noch schärferem Maße als bei der 
bloßen Beratung. Denn der Repräsentant mit Entscheidungsvollmacht formuliert ja 
selber die Interessen der von ihm vertretenen Individuen. Diese greifen in den 
kollektiven Entscheidungsprozess - abgesehen von der Ernennung der 
Repräsentanten - nicht mehr aktiv ein. Sie sind u. U. über die getroffenen 
Entscheidungen gar nicht mehr informiert, weil sie ja in räumlicher Trennung und 
ohne ihre Anwesenheit formuliert und gefällt werden. {-322-} 
Dadurch ist die 
Möglichkeit zur Verselbständigung der 
Repräsentanten von den Interessen der von ihnen Repräsentierten besonders groß. 
Die Interessenvertreter können sowohl durch verzerrte Interessenformulierung die 
Entscheidung in ihrem individuellen Sinne beeinflussen wie auch durch eine 
gezielte Informationsauswahl, wenn nicht entsprechende Kontrollen der 
vertretenen Individuen dem entgegenwirken. Diese Kontrolle ist vor allem dadurch 
wichtig, weil mit der Benutzung von Repräsentationsverfahren immer auch die 
Möglichkeit der Bestechung der Repräsentanten gegeben ist.
Ebenso wie bei der Einschaltung von Beratern ist es eine 
entscheidende Bedingung der Kontrolle, dass die Interessenvertreter von den 
betreffenden Individuen oder Gruppen selber bestimmt werden und dass sie einen 
neuen Repräsentanten bestimmen können, wenn der alte ihr Vertrauen verloren hat.
Allerdings bringt eine solche generelle Formulierung auch 
Probleme mit sich, weil kein Fall dem andern völlig gleicht, diese aber trotzdem 
durch die generelle Norm gleich behandelt werden.[[8] s. o. § 27 zu generellen Normen.] "Die Rechtsnorm ist eine 
generalisierte Entscheidung, durch die verbindlich das Verhalten von Kollektiven 
und Einzelpersonen mit staatlicher Sanktion vorgeschrieben wird. Sie begründet 
subjektive Rechte und Pflichten. Dabei sieht die Rechtsnorm, und darin besteht 
ihr Gehalt als generalisierte Entscheidung, von den Besonderheiten des 
Einzelfalles ab."   [[9] HEUER u. a. 1971, S.26.] 
Wenn z. B. die generelle Norm gilt: "Fußgänger dürfen 
bei roter Ampel nicht die Straße überqueren", so stellt sich die Frage, ob diese 
Norm auch dann noch sinnvoll ist, wenn z. B. nachts so gut wie gar kein 
Autoverkehr mehr herrscht. Muss der Fußgänger z. B. auch dann warten, wenn durch 
einen technischen Defekt die Ampel dauernd "rot"   zeigt? Soll er auch warten, 
wenn er gerade jemanden verfolgt, der ihm die Brieftasche gestohlen hat?
Einem Teil dieser Fälle kann man sicherlich durch die 
Aufstellung spezieller ergänzender Normen gerecht werden, indem z. B. bestimmt 
wird, dass die Ampel nicht beachtet zu werden braucht, wenn der Verkehr durch 
einen Polizisten per Handzeichen geregelt wird. Für solche generellen 
Ausnahmeregelungen gibt es jedoch ebenfalls Grenzen ihrer Anwendbarkeit, weil 
dadurch {-324-} der Aufwand der Normsetzung wieder ansteigt. 
Vor allem wird 
durch eine Vielzahl solcher Ausnahmeregelungen die Anwendung und Durchsetzung 
des betreffenden Normensystems sehr erschwert, denn es ist für die Adressaten 
unübersichtlicher. Dadurch ist diesen die Kenntnis und damit notwendigerweise 
auch die Befolgung der Normen erschwert. Dies wiederum kann nur durch einen 
erhöhten Aufwand an Belehrung der Adressaten ausgeglichen werden. [[10] Eine gewisse Anpassung einer generellen Norm an den 
Einzelfall kann durch die Instanzen erfolgen, die Normverletzungen feststellen 
und Sanktionen festsetzen. Hier können dann "mildernde"   oder "erschwerende"   
Umstände berücksichtigt werden.] 
Das Problem der Starrheit solcher generellen Normen 
ergibt sich auch durch die Geltungsdauer über einen längeren Zeitraum hinweg. 
Einerseits ist diese unter dem Gesichtspunkt der Aufwandssenkung und der 
Normdurchsetzung vorteilhaft, andererseits ändern sich jedoch mit der Zeit auch 
die Umstände, und oft konnten diese Veränderungen bei der Aufstellung der Norm 
noch nicht berücksichtigt werden. So kann z. B. eine im Laufe der Zeit 
gestiegene Verkehrsdichte die Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit 
erforderlich machen. Auch hier ist also zwischen den Vorteilen einer möglichst 
genauen Anpassung der Normen an die jeweiligen Verhältnisse und den dabei 
auftretenden Umstellungskosten abzuwägen. [[11] Man denke etwa an die gewaltigen Umstellungskosten 
bei der Umstellung eines Landes von Linksverkehr auf Rechtsverkehr, wie sie in 
Schweden vollzogen wurde.]
Eine gewisse Milderung der Starrheit genereller Normen kann 
durch allgemeine Formulierungen erreicht werden, bei denen Begriffe Verwendung 
finden, deren {-325-} deskriptiver Gehalt weitgehend unbestimmt bleibt, also 
sogenannte Leerformeln benutzt werden. Deren inhaltliche Ausfüllung 
und Präzisierung bleibt dabei jenen Instanzen überlassen, die Normverletzungen 
festzustellen haben. [[12] Die positiven Aspekte solcher Leerformeln auf der 
Verfassungsebene nennt DENNINGER 1973, S.26f. Zu Leerformeln s. a. oben § 26.] 
Allerdings werfen derartige Leerformeln andere 
Probleme auf, z. B. Das Problem der Rechtssicherheit, die für die Durchsetzung 
von Normen von erheblicher Bedeutung ist. Außerdem entsteht das Problem der 
Legitimation derjenigen Instanzen, die die Leerformeln ausfüllen und dadurch 
nicht nur Normen interpretieren, sondern genaugenommen erst schaffen. Eigentlich 
wird das Problem der Anpassung von Normen an die Besonderheiten des Einzelfalles 
durch die Verwendung von Leerformeln nicht gelöst, sondern nur von der normsetzenden auf die 
auslegende Instanz verschoben.  
Zur
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Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse"  
Letzte Bearbeitung 29.03.2011 / Eberhard Wesche