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Soziale Verbindlichkeit und
inhaltliche Richtigkeit von Normen
Notizen
Inhaltliche 
Richtigkeit und soziale Verbindlichkeit
Der argumentative Konsens ist nicht geeignet, in der Praxis 
eine soziale Koordination zu erreichen. Dazu bedarf es Verfahren, die – trotz 
unterschiedlicher Überzeugungen der Einzelnen - Normen als für alle Beteiligten 
verbindliches "Recht"   in Kraft setzen.
Die Verfahren der Normsetzung (Abstimmungen, Wahlen, Verträge, 
Entscheidungsbefugnisse, etc.) sollen die soziale Koordination ermöglichen. 
Insofern sind sie danach zu bewerten, inwiefern durch ihre Anwendung die soziale Koordination gelingt.
Zugleich sollen die durch Verfahren als "verbindlich"   
gesetzten Normen auch inhaltlich 
möglichst richtig, also allgemein akzeptabel sein. Insofern sind die Verfahren der 
Normsetzung auch danach zu bewerten, inwiefern die daraus hervorgehenden Normen inhaltlich richtig sind.
Die Verfahren der Normsetzung erfordern einen bestimmten 
Aufwand. Insofern sind sie auch nach der Höhe dieses Aufwands zu bewerten. 
Damit ergibt sich eine komplexere Situation als bei der rein inhaltlichen 
Diskussion.  
***
Bei vielen normativen Fragen sind unterschiedliche 
Antworten rational vertretbar, weil man risikobehaftete Annahmen machen muss. 
In diesem Fall kommt es nicht zum Konsens, auch wenn alle danach streben. Wenn 
in dieser Situation jeder sich gemäß der Norm verhält, die er für inhaltlich richtig 
hält, ist keine soziale Koordination möglich.  
Die eigene Überzeugung, dass die geltenden Normen nicht dem Gemeinwohl 
entsprechen, ist für sich genommen deshalb noch keine ausreichende 
Rechtfertigung für die Nicht-Befolgung dieser Normen.
Ohne soziale Koordination gibt es keine Kooperation, keine Konfliktvermeidung 
und keine Verständigung zwischen den Einzelnen. Ohne soziale Koordination sind 
die Einzelnen letztlich nicht überlebensfähig.
Koordinationsabhängig ist der Bereich der Kommunikation. Wenn jemand die 
Kommunikation verbessern will, so nützt ihm die individuelle Praktizierung der 
neuen verbesserten Sprachelemente (Worte, Abkürzungen, Schriftzeichen etc.) 
nichts, wenn die andern deren Bedeutung nicht kennen. Bei der Einführung eines 
neuen Begriffs bedarf es deshalb einer Erläuterung des eigenen Handelns (z. B. in 
Form einer Übersetzung des neuen Begriffs in bereits bekannte Begriffe) und 
einer Erläuterung der hinter dieser Neuerung stehenden Überlegungen. 
Koordinationsabhängig ist auch der Bereich der symbolischen Umgangsformen. Wenn 
es in einer Gesellschaft Sitte ist, die Anwesenden in der Reihenfolge ihres 
sozialen Ranges zu begrüßen, so kann es von den Ranghöchsten als persönliche 
Missachtung verstanden werden, wenn jemand aus demokratischer Überzeugung die 
Anwesenden in der räumlich gegebenen Reihenfolge begrüßt. Es bedarf auch hier 
einer Erläuterung des eigenen Handelns und der dahinter stehenden abweichenden 
Überzeugung.
Wenn in einer Gesellschaft die Frauen ihre weiblichen Reize 
verbergen müssen, wenn sie ihre Frauenehre behalten und nicht als "Flittchen"   
gelten wollen, so kann es als Aufforderung zur sexuellen Kontaktaufnahme 
missverstanden werden, wenn eine junge Frau ihr schönes langes Haar zeigt. Dabei 
handelt sie nur gemäß ihrer Überzeugung, dass es für eine Frau nichts 
Entehrendes ist, die Aufmerksamkeit und Bewunderung fremder Männer zu erregen. Auch hier 
bedarf 
es der Erläuterung des eigenen Handelns und der dahinter stehenden veränderten 
Überzeugung.
Stark koordinationsabhängig ist die Zusammenarbeit bei der Herstellung eines 
gemeinsamen Werkes. Jemand mag inhaltlich Recht haben mit seiner Überzeugung, 
dass eine veränderte Arbeitsorganisation (z. B. Einschieben einer halbstündigen 
Pause um 10 Uhr vormittags) besser wäre als durchzuarbeiten. Er würde jedoch das Gegenteil von dem 
erreichen, was er beabsichtigt, wenn er als Einziger um 10 Uhr das Werkzeug 
ablegen und die Frühstücksbrote herausholen würde. Hier würde auch eine 
Erläuterung seiner Überzeugung hinsichtlich der positiven Auswirkung der Pause 
nicht ausreichen, weil die Arbeitsabläufe real gestört bleiben.
Die verschiedenen Handlungsbereiche sind also in unterschiedlichem Maße abhängig 
von der sozialen Koordination und empfindlich gegen unkoordiniertes Handeln.
***
Wenn mehrere Individuen eine "Gesellschaft"   bilden, die 
gemeinschaftlich handeln soll, bedarf es sozialer Institutionen, die Normen 
setzen, die für alle 
Mitglieder verbindlich sind, unabhängig davon, ob 
die Mitglieder die getroffenen Entscheidungen für die besten halten oder nicht. 
Andererseits sollen diese verbindlichen Normen inhaltlich möglichst dem 
unparteiisch bestimmten und abgewogenen Gemeinwohl 
entsprechen.
Eine Möglichkeit zur Lösung dieses Problems besteht darin, dass die 
Gesellschaftsmitglieder in einem ersten Schritt eine "verfassunggebende Versammlung"   bilden und 
gemeinsam beschließen, wie die Entscheidungen der Gesellschaft zustande kommen 
sollen, die dann für alle verbindlich ist.
***
Dies "In-Kraft-Setzen von Normen"   kann durch verschiedenste 
Verfahren erfolgen:
-  Aufteilung der Entscheidungsbefugnisse über Sachen und 
Personen durch Eigentumsrechte, Elternrechte, Erbrechte, 
Gemeindeselbstverwaltung, Länderhoheit, Staatssouveränität,
 - Verträge wie Tauschvertrag, Kaufvertrag, Mietvertrag, Werkvertrag, 
Arbeitsvertrag, Gesellschaftsvertrag, Ehevertrag, 
 - Abstimmungen nach verschiedenen Kriterien wie relative, absolute, dreiviertel 
Mehrheit oder Einstimmigkeit,
 - Befehlsbefugnisse und Hierarchien.
Es können auch Kombinationen dieser Verfahren angewendet werden.
***
Die Ebene der inhaltlichen Richtigkeit von Normen und die Ebene der sozialen Verbindlichkeit bestehen nebeneinander und keine der beiden ist durch die andere ersetzbar.
***
Ein alltäglicher Konflikt
Rentner Müller sieht, dass Leute im Park grillen, obwohl 
das verboten ist.
Bevor Rentner Müller wegen des unerlaubten Grillens die Polizei holt, versucht 
er es noch einmal mit Argumenten. Es ergibt sich zwischen Rentner Müller und 
einem der Grillfreunde folgender Dialog:
Rentner Müller: "Dass Sie das Grillverbot für sachlich unbegründet halten, kann 
doch kein Argument gegen die Verbindlichkeit des Gesetzes zum Schutz der 
Grünanlagen sein. Ich bin auch mit manchen Gesetzen nicht einverstanden, z. B. 
mit der Benzinsteuer, aber deswegen bin ich doch nicht berechtigt, diese Gesetze 
zu ignorieren. Wenn jeder nur das tut, was er inhaltlich für richtig hält, dann 
klappt doch gar nichts mehr und wir stehen ständig vor ungelösten Konflikten, so 
wie z. B. jetzt."  
Der Grillfreund: "Und wenn schon! Na und?"  
Rentner Müller: "Soll das heißen, dass das geltende Recht für Sie keinerlei 
Verbindlichkeit besitzt?"  
Der Grillfreund: "Sie sagen es!"  
Rentner Müller: "Wenn ich jetzt meinen Schäferhund auf sie hetzen 
würde, und sie nach einigen schmerzhaften Bissen die Flucht ergreifen würden, 
dann würden sie mich also nicht wegen gefährlicher Körperverletzung anzeigen?"  
Der Grillfreund kommt ins Grübeln. Aber dann antwortet er: "Ich würde nicht auf 
rechtliche Schritte verzichten, um meinen Überzeugungen Geltung zu verschaffen, 
aber die Rechtsordnung ist für mich dabei nur ein Mittel zum Zweck. Wo das Recht 
mit meinen Überzeugungen konform geht, benutze ich es. Wo es meinen 
Überzeugungen nicht entspricht, versuche ich, es zu umgehen."  
Für den Grillfreund gibt es also nur die moralische, inhaltliche Geltungsebene 
von Normen. Die Probleme, die aus einem möglichen moralischen Dissens entstehen, 
sieht er nicht oder legt ihnen zumindest keine Bedeutung bei.
Siehe auch 
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
    
Verbindlichkeit und inhaltliche Richtigkeit von 
Normen *** (66 K)
   
Normativer Diskurs und verbindliche Normen *** 
(93 K)
***
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inhaltliche Richtigkeit von Normen - Notizen"  
Letzte Bearbeitung 14.07.2007 / Eberhard Wesche
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