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Verbindlichkeit und inhaltliche Richtigkeit von Normen
Dieser Text erschien unter dem Titel "Wahrheit und Verbindlichkeit von Normen"   
zuerst in
 K.-P. Markl (Hrsg.): Analytische Politikphilosophie und ökonomische Rationalität 
Band 1, Westdeutscher Verlag Opladen 1985
*** Empfehlung: Nutzen Sie die Suchfunktion Ihres Internet-Browsers! ***
Inhalt:
I. Kognitivismus und 
Dezisionismus in der Ethik
II. Probleme des Dezisionisten
III. Probleme der Kognitivisten
IV. Probleme der Diskurstheorie
V. Die Notwendigkeit normsetzender Institutionen  
VI. Das Spannungsverhältnis zwischen inhaltlicher Richtigkeit und formaler Verbindlichkeit von Normen 
Anmerkungen / Literatur
(Kurze Einführung in das Thema)
Textanfang
I. Kognitivisten und Dezisionisten in der Ethik
Durch die Geschichte der normativen Theoriebildung zieht sich ein grundlegender Gegensatz: 
auf der einen Seite stehen diejenigen, die Normen vor allem als Behauptungen 
auffassen, die wahr oder falsch sein können. Diese Gruppe könnte man als "Kognitivisten"   
bezeichnen, insofern für sie die Bestimmung wahrer Normen ein Problem der 
Erkenntnis oder "Kognition"   ist, ähnlich dem Problem der 
Bestimmung wahrer empirischer Aussagen. 
Auf der andern Seite stehen diejenigen, die Normen vor allem als Setzungen 
auffassen, die weder wahr noch falsch sein können, sondern denen eine Geltung 
bzw. Verbindlichkeit allein kraft verfahrensmäßiger Setzung zukommt. Diese 
Gruppe könnte man als "Dezisionisten" bezeichnen, insofern 
für sie die Geltung von Normen sich auf letztlich nicht mehr hinterfragbare 
Setzungen bzw. Entscheidungen (Dezisionen)  gründet. Dabei sind die 
Bezeichnungen der beiden theoretischen Grundhaltungen als "kognitivistisch" 
oder "dezisionistisch" als praktische Kurzformeln gedacht 
und decken sich nicht notwendig mit dem sonstigen Sprachgebrauch.
Der Gegensatz zwischen einer "kognitivistischen" und einer "dezisionistischen" Grundhaltung in normativen Fragen 
findet sich mehr oder weniger ausdrücklich wieder etwa in den Kontroversen zwischen 
Naturrechtstheoretikern  und Rechtspositivisten, zwischen Utilitaristen 
und Vertragstheoretikern oder auch zwischen den deutschen Diskurstheoretikern 
und ihren Kritikern. 
Dabei lässt die Hartnäckigkeit, mit der sich beide 
Grundpositionen über die Zeit behaupten, die Vermutung zu, dass beide Seiten mit 
ihrer Kritik an der Gegenseite zumindest eine gewisse
Berechtigung haben und dass weder die 
kognitivistische noch die dezisionistische Position ohne Abstriche 
durchzuhalten ist.
II. Probleme des Dezisionisten
Die Probleme der dezisionistischen Grundposition sollen hier nur kurz skizziert werden. Wenn ich einen Dezisionisten 
frage, warum ich eine bestimmte eine Norm befolgen soll, so kann dieser nur auf 
das im gegebenen Fall praktizierte Verfahren der Normsetzung verweisen und 
z. B. sagen: "Du 
sollst die Norm befolgen, weil wir es so vereinbart haben" 
oder "... weil es geltendes Recht ist"   oder "... weil es Gottes Gebot ist".
Wenn auf das Verfahren der Normsetzung verwiesen wird, so kann man jedoch weiter 
fragen, warum man denn die Resultate des betreffenden Verfahrens 
anerkennen soll. Wenn der Dezisionist jetzt auf übergeordnete Verfahren 
verweist und z. B. sagt "... weil dies der geltenden Verfassung entspricht", 
so verschiebt er das Problem der Begründung nur auf diese Verfahren, ohne es 
jedoch zu lösen. 
Entweder bricht der Dezisionist die Begründung irgendwo ab - so wie z. B. Kelsen, 
der die Anerkennung einer Grundnorm voraussetzt, von der dann die Geltung aller 
anderen Rechtsnormen hergeleitet wird1). Dies wäre 
Dezisionismus im 
engeren Sinne. 
Oder aber die Verbindlichkeit des Verfahrens wird letztlich mit der Zustimmung 
des betreffenden Individuums begründet, also mit einem Versprechen bzw. einer 
Vereinbarung (Konvention), dass es die gesetzten Normen befolgen wird. Diese 
Position, die alle Geltung von Normen letztlich auf eine Selbstverpflichtung der 
Individuen zurückführen will, könnte man als "Konventionalismus"   
bezeichnen. 2)
Wird dabei die 
Zustimmung als faktisch vollzogen interpretiert - wie z. B. bei Tussman 
3) - so 
bleibt letztlich die Frage, warum man gegebene Versprechen halten soll. Dass die 
Befolgung von Versprechen weder logisch noch intuitiv zwingend ist, zeigt sich 
bereits daran, dass man darüber, unter welchen Bedingungen ein Versprechen 
ungültig sein soll, geteilter Meinung sein kann. Wie stark darf etwa der "stumme 
Zwang der Verhältnisse"  ein Individuum bedrängen, ohne dass seine "Zustimmung"  zur Farce wird? Dies sind normative Fragen, 
auf die der Konventionalist eine begründete Antwort schuldig bleiben muss. 
Hinzu kommt als Schwierigkeit dieser Position, dass die "faktische 
Zustimmung"   oft eher gewaltsam in das Verhalten der Individuen 
hineininterpretiert werden muss, da diese Zustimmung von denen, die in 
bestehende normative Ordnungen hineingeboren werden, meist gar nicht explizit 
gegeben wird.
Will der Konventionalist zur Vermeidung dieser Schwierigkeiten jedoch die 
Zustimmung des Individuums nur als die in einer fiktiven Situation zu erwartende 
Zustimmung verstanden wissen - so wie etwa Rawls, der von der
fiktiven Zustimmung in der "original 
position"   ausgeht 
5) 
-  so nähert 
sich der Dezisionist der kognitivistischen Position an, insofern der 
Setzungscharakter der Normen dann zurücktritt zugunsten einer von 
Zwangsverhältnissen und verzerrenden Eigeninteressen möglichst befreiten 
Argumentationssituation, wie sie für die Wahrheitssuche charakteristisch ist. 
Soweit die Skizze der dezisionistischen Grundposition und ihrer Probleme.
III.
Probleme der Kognitivisten
Auch kognitivistische Positionen haben ihre z. T. altbekannten Probleme. So tut 
sich der Kognitivist, für den die richtige und damit zu befolgende Norm durch 
argumentative Wahrheitssuche zu bestimmen ist, gewöhnlich schwer mit der 
Interpretation einer Normsetzung durch Verfahren wie Vertrag, Versprechen, 
Mehrheitsbeschluss oder autorisierten Befehl. 
Dies kann etwa am Utilitarismus 
demonstriert werden. Wenn man unter "Utilitarismus" die Forderung versteht, immer 
so zu handeln, dass der Nutzen für die Gesamtheit möglichst groß wird, so hat 
das, wie Brandt schreibt, "schwer akzeptierbare Konsequenzen. Es 
impliziert, dass man, wenn man einen Jungen zum Rasenmähen angestellt hat und 
dieser nach Beendigung der Arbeit nach seiner Bezahlung fragt,  ihm nur dann die 
versprochene Bezahlung geben soll, wenn man keine bessere Verwendung für sein 
Geld finden kann." 6)
Diese und ähnliche 
Kritiken haben verschiedene Theoretiker dazu geführt, anstelle dieses auf 
einzelne Handlungen bezogenen "Handlungs-Utilitarismus"   Varianten eines "Regel-Utilitarismus"   zu entwickeln, 
bei dem die Frage nach dem Nutzen für die Gesamtheit nicht auf die einzelne 
Handlung bezogen wird, sondern auf die generelleren Regeln des Handelns, die 
ihrerseits dann in jedem Einzelfall verbindlich sind. 7)
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Argumentation von 
Rawls in dem 
frühen Text "Two Concepts of Rules".8) Nach Rawls muss man zwischen der 
Rechtfertigung einer einzelnen Handlung und der Rechtfertigung einer Institution 
unterscheiden. Danach ist die Anwendung utilitaristischer Überlegungen auf die 
Rechtfertigung der Institution "Versprechen"   sinnvoll, sie ist jedoch nicht 
zulässig bei der Frage, ob man ein einzelnes Versprechen halten soll oder 
nicht. ".. Das Entscheidende an der Institution (des Versprechens, E.W.) 
besteht darin, dass man seinen Rechtsanspruch aufgibt, gemäß utilitaristischen 
oder eigeninteressierten Erwägungen zu handeln, um die Zukunft festlegen und 
Pläne vorausschauend koordinieren zu können. Es bestehen klare utilitaristische 
Vorteile darin, eine Institution zu haben, die es dem Versprechenden zur 
Entschuldigung (der Nichteinhaltung eines Versprechens, E.W.) versagt, irgendwie 
allgemein an das utilitaristische Prinzip zu appellieren, durch das die 
Institution selber gerechtfertigt wird. .. Verschiedenste Entschuldigungen sind 
für die Nichteinhaltung eines Versprechens zulässig, aber darunter befindet sich 
nicht die, dass der Versprechende (wahrhaftig) meinte, seine Handlung sei 
entsprechend allgemein utilitaristischen Gesichtspunkten die beste."   
9)
Rawls weist hier auf ein wichtiges Problem hin, das allerdings kein spezielles 
Problem des Utilitarismus ist, sondern das sich für jede kognitivistische 
Theorie stellt. Wie oben bereits ausgeführt, fassen kognitivistische Theorien 
Normen als Behauptungen auf, deren Wahrheit sich im Prinzip argumentativ 
erweisen lassen muss. Sie versuchen, von methodologischen Regeln der 
Argumentation - wie z. B. dem utilitaristischen Kalkül - unmittelbar zu 
inhaltlichen Handlungsnormen zu gelangen. 
Insofern jedoch über die wahre oder richtige Norm keine Einigkeit zwischen den 
Individuen besteht, ist es problematisch, wenn die Individuen ihre normativen Überzeugungen zum Kriterium ihres Handelns erheben. 
Überall, wo es auf das richtige Zusammenwirken der Individuen ankommt - und das 
ist in den wichtigsten Lebensbereichen der Fall - ist es problematisch, wenn 
jeder nach seinen eigenen normativen Überzeugungen handelt. Denn bei 
unterschiedlichen Überzeugungen durchkreuzen die Individuen mit ihren Handlungen 
dann wechselseitig ihre Pläne, so dass schließlich selbst bei bestem Willen 
aller Beteiligten kein Individuum seine normativen Überzeugungen realisiert.
Eine gewisse Milderung des Problems könnte man eventuell dadurch erreichen, dass jeder die abweichenden Überzeugungen der andern Individuen bei 
seinen Überlegungen in Rechnung stellt.
Ein solcher wechselseitiger Abstimmungsprozess wirft allerdings erhebliche 
Probleme auf, denn um seine eigene Überzeugung 
vom richtigen Handeln bilden zu können, muss man zuvor wissen, welche 
Überzeugungen die andern haben - und denen geht es ebenso. 
Es gibt dann keine Überzeugungen, von denen man als gegeben ausgehen kann 
- eine Situation ähnlich der von Spieltheoretikern analysierten strategischen 
Ungewissheit. 
Abgesehen von diesem Problem ist der unmittelbare Übergang von der individuellen 
Überzeugung zum Handeln jedoch für die soziale Koordination vor allem 
deshalb problematisch, weil sich die Überzeugungen der Individuen im Laufe der 
Zeit ändern können. Wenn Individuum A heute noch davon überzeugt ist, dass der 
Handlungsverlauf x der richtige ist, so kann es morgen schon y für richtig 
halten. Damit werden aber die Pläne aller andern Individuen hinfällig, 
die noch davon ausgingen, dass Individuum A den Handlungsverlauf x ausführen 
wird. Eine Koordination der individuellen Pläne wird unmöglich. 
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die aufgezeigte Problematik völlig 
unabhängig davon ist, ob man das utilitaristische Kalkül auf einzelne Handlungen 
anwendet oder auf generelle Handlungsregeln. Die Koordinationsprobleme würden 
auch dann auftreten, wenn die Individuen 
gemäß ihren Überzeugungen bezüglich der Handlungsregeln handeln. Denn auch für diese Überzeugungen gilt, dass sie sich ändern 
können und dass man sich darauf nicht unbedingt verlassen kann. 
Abhilfe können hier nur Normsetzungsverfahren schaffen, die auch gegenüber 
Individuen mit abweichenden Überzeugungen Verbindlichkeit beanspruchen. 
IV.
Probleme der Diskurstheorie
Diese Problematik betrifft auch die Diskurstheorie. Diese postuliert - bei Anerkennung der 
logischen Unterschiede zwischen positiven und normativen Behauptungen - auch für 
die letzteren die "Wahrheitsfähigkeit". Wahrheit kommt all jenen 
Behauptungen zu, denen in einem rein argumentativen, herrschaftsfreien Diskurs 
jedermann zustimmen kann. 10) 
Wenn man der Diskurstheorie folgend "Wahrheit"   als argumentative 
Konsensfähigkeit auffasst, so wird besonders deutlich, dass es problematisch 
ist, von der Ebene der Wahrheitssuche unmittelbar zur Handlung 
überzugehen. Der Diskurs muss nämlich, um mit Habermas zu sprechen, "handlungsentlastet"   sein 11). Er darf nicht unter dem Druck stehen, für das 
konkrete Handeln in einer bestimmten Situation eine normative Entscheidung zu 
erbringen. 
In konkreten Handlungssituationen besteht  häufig ein Zeitdruck: wo 
schnell gehandelt werden muss, müsste ein Diskurs sofort wieder abgebrochen 
werden. Insofern für den Diskurs und seine Regeln allein das Ziel der 
Wahrheitssuche gilt ("Suche bei deinen Fragen nach Antworten, denen jedermann allein aufgrund 
von Argumenten zustimmen kann!"), werden andere Gesichtspunkte wie 
die Begrenzung des Entscheidungsaufwand oder eine zeitliche Begrenzung nicht berücksichtigt. 
Da außerdem das Kriterium der Wahrheit kein faktischer sondern nur ein 
potentieller Konsens bei idealen Argumentationsbedingungen sein kann, 
garantiert der Diskurs als Verfahren auch kein definitives Ergebnis. Jede 
Behauptung, für die Wahrheit beansprucht wird, kann jederzeit durch das 
Auftauchen neuer 
Argumente wieder problematisiert werden. 
Es kann auch ohne weiteres der Fall sein, dass die vorhandenen Argumente nicht 
ausreichen, um begründete Schlüsse hinsichtlich der Wahrheit einer Behauptung zu 
ziehen, so dass verschiedene Positionen rational vertretbar bleiben. In all diesen Fällen ergibt sich aus dem Diskurs keine eindeutige Norm, 
die alle Individuen ihrem Handeln zugrunde legen könnten. Die Aufforderung an 
jedes Individuum, gemäß den wahren Normen zu handeln, kann deshalb - auch beim 
besten Willen aller Beteiligten - keine 
Koordination der individuellen Handlungen garantieren.
V. Die Notwendigkeit normsetzender Institutionen
 
Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass es sinnvoll ist, zusätzlich zum Diskurs 
besondere Normsetzungsverfahren zu haben, die verbindliche 
normative Entscheidungen erzeugen. Die Individuen sind dann aufgefordert - 
unabhängig von ihren möglicherweise abweichenden Überzeugungen -  diese 
Normen als für sie verbindlich anzusehen und zu befolgen. Dabei schaffen diese Normsetzungsverfahren für 
die resultierenden Normen eine Verbindlichkeit, die sich nicht mehr aus dem 
Anspruch auf inhaltliche Wahrheit herleitet, sondern die sich stattdessen "formal"   aus den gültigen Normsetzungsverfahren herleitet. 
Die Pflicht zur Befolgung verbindlich gesetzter Normen ist also von ganz anderer 
Art als die von den Kognitivisten postulierte "Pflicht", entsprechend den 
inhaltlich als richtig erkannten Normen zu handeln. 
Ansätze zu einer derartigen Unterscheidung der Ebenen der Wahrheit und der 
Verbindlichkeit von Normen hat es verschiedentlich gegeben, wobei sich die 
Kritik an einseitig kognitivistischen oder dezisionistischen Auffassungen vor 
allem am Begriff der Pflicht (duty, obligation) entzündete. 
Insbesondere  H.L.A. Hart hat wiederholt darauf hingewiesen, 
dass es verschiedene Typen des 
moralischen Urteils gibt und dass es "ohne Zweifel in der Philosophie die 
ständige Versuchung gibt, alle Typen des moralischen Urteils einem einzigen 
Typus anzugleichen."   12) Insbesondere der Begriff der Pflicht ist seiner Meinung 
nach von den Moralphilosophen in einem so weiten Sinne gebraucht worden, dass 
der Unterschied zum einfachen moralischen Sollen völlig verwischt wurde. "Es ist 
absurd zu sagen, man habe eine moralische Pflicht, kein anderes menschliches 
Wesen zu töten, oder eine Verpflichtung, kein Kind zu quälen. .. Die Ausdehnung 
dieser Begriffe auf das ganze Feld der Moral macht uns blind für dessen Vielfalt 
und Komplexität. .. Der Grund dafür, dass der Unterschied verwischt zu werden 
droht, liegt darin, dass 'sollen' ... gebraucht werden kann sowohl um andere 
davon abzuhalten, ihre Versprechen zu brechen, als auch davon, Kinder zu 
quälen."   13) 
Dass der Begriff der "Pflicht"   oder "Verbindlichkeit"   eine besondere Art des 
Sollens ausdrückt, ist auch von anderen Autoren betont worden. So schreibt 
G. J. Warnock: "Es gibt eine Unterscheidung zwischen denjenigen Dingen, die ich zu tun 
verpflichtet bin, und denjenigen, die ich bloß aus bestimmten Gründen tun soll. 
Wenn ich gelegentlich nicht tue, was ich tun sollte, vernachlässige ich damit 
noch nicht notwendig meine Verpflichtungen."   14) Und ganz im Sinne der hier 
vorgetragenen Überlegungen fährt er fort: "Es sei nebenbei angemerkt, dass das 
Versäumnis, irgendeine Unterscheidung zu machen zwischen jemandes 
Verpflichtungen und dem, was man tun soll, meiner Meinung nach in der 
Moralphilosophie einen beträchtlichen Unfug angerichtet hat. Denn es hat einige 
Theoretiker dazu geführt, alles 'Sollen' den Verpflichtungen anzugleichen, und 
andere dazu, alle Verpflichtungen zu einem 'Sollen' zu verdünnen, und dadurch 
wurde aus dem, was miteinander verträgliche Elemente einer einzigen Lehre sein 
sollten, der Anschein geschaffen von sich unversöhnlich gegenüberstehenden 
philosophischen Schulen. Hier wie anderswo in der Philosophie wurde ein Großteil 
der Auseinandersetzung zwischen Leuten ausgetragen, die - fest im Besitz eines 
Teils der Wahrheit - darauf bestehen, dass der Teil, den sie innehaben, in 
Wirklichkeit das Ganze ist."   15)
Auf einer etwas anderen Ebene betont auch J. Raz die Unterschiede zwischen dem 
einfachen Sollen und einer Verpflichtung 16). In seiner Analyse der 
Begründungen, wie sie im Alltag für Handlungen gegeben werden, unterscheidet Raz 
verschiedene Arten von Gründen. Zum einen gibt es "Gründe erster Ordnung", die 
das inhaltliche Für und Wider in Bezug auf eine Norm ausdrücken und die 
gegeneinander abgewogen werden müssen. Die Gründe erster Ordnung würden also 
nach der hier vorgenommenen Unterscheidung der inhaltlichen Wahrheitsebene entsprechen. Dann 
gibt es jedoch in der moralischen Argumentation noch "Gründe zweiter Ordnung". 
Dies sind ihrerseits Gründe dafür, ob man bestimmte andere Gründe gelten lassen 
soll oder nicht. "Ein Grund zweiter Ordnung ist irgendein Grund dafür, aus einem 
bestimmten Grund zu handeln oder das Handeln zu unterlassen."  
Unter diesen sind besonders die von Raz sogenannten "ausschließenden Gründe"   (exclusionary 
reasons) von Interesse. "Ein ausschließender Grund ist ein Grund zweiter Ordnung 
dafür, das Handeln aus irgendeinem Grund zu unterlassen."   
18) Ein derartiger 
'ausschließender Grund' kann z. B. durch ein Versprechen oder durch den Befehl 
eines Vorgesetzten gegeben werden, also durch verfahrensmäßig gesetzte Normen. 
Im Falle eines inhaltlich problematischen Befehls durch einen militärischen 
Vorgesetzten wäre z. B. die Tatsache des Befehls ein ausschließender Grund dafür, 
die inhaltlichen Gründe erster Ordnung gegen die Befolgung des Befehls nicht zu 
berücksichtigen. Ein Untergebener könnte etwa argumentieren: "Befehle sind Befehle und sollten befolgt werden, selbst wenn sie inhaltlich 
falsch sind und selbst wenn kein Schaden aus ihrer Nichtbefolgung entsteht. Das 
heißt es, ein Untergebener zu sein. Es bedeutet, dass es nicht Deine Sache ist 
zu entscheiden, was das Beste ist. Man mag der Meinung sein, dass bei Abwägung 
von Gründen ein bestimmtes Handeln richtig ist, und kann dennoch zu Recht sich 
nicht dafür entscheiden. Ein Befehl ist ein Grund dafür, zu tun, was einem befohlen 
wurde, ohne Rücksicht auf das Übergewicht der 
Gründe."   19)
Hier macht Raz ganz deutlich, dass es in solchen Fällen verschiedene 
Argumentationsebenen gibt, zum einen die inhaltliche Richtigkeit des 
Befehls und zum andern die verfahrensmäßige 
Verbindlichkeit als Befehl eines Vorgesetzten.
Auch in der 
politischen Philosophie hat die Unterscheidung zwischen einer inhaltlichen und 
einer verfahrensmäßigen Ebene der Geltung von Normen eine Rolle gespielt. Mit 
aller Deutlichkeit hat z. B. Wollheim herausgearbeitet, dass bei Anwendung des 
Mehrheitsprinzips die überstimmte Minderheit in dem Dilemma steht, dass sie 
einerseits als Demokraten die Befolgung des Mehrheitsbeschlusses für ihre 
Pflicht halten und dass sie andererseits diesen Beschluss zugleich für inhaltlich falsch 
halten. Wollheim spricht hier von einem "Paradox in der Theorie der Demokratie", da für einen Demokraten der Beschluss zugleich 
befolgt werden soll (weil mehrheitlich 
beschlossen) und nicht befolgt werden soll (weil inhaltlich falsch).
Wollheim betont 
allerdings zu Recht, dass dies Problem dann 
nicht auftaucht, wenn die Individuen bei der Abstimmung aufgefordert werden, 
ihre jeweiligen Eigeninteressen zum Ausdruck zu bringen, die erst durch das 
Mehrheitsprinzip zu einem kollektiven Interesse zusammengefasst  
werden. Dass Eigeninteresse und kollektives 
Interesse differieren, stellt ja keinerlei Paradox dar.21)
Das Dilemma ist jedoch dann akut, wenn die Individuen bei der Abstimmung bereits 
ihr Urteil über das kollektive Interesse ausdrücken (Wollheim spricht hier von
'evaluations') und die 
Wählerschaft also als eine Art Jury für die Wahl der besten Politik angesehen 
wird. Nach Wollheims Meinung entspricht die 
Interpretation der Abstimmung als einer Juryentscheidung eher dem, was 
in einer Demokratie vor sich geht, als die 
Interpretation der Abstimmung als Verfahren zur Zusammenfassung unterschiedlicher Eigeninteressen. 
Unabhängig von der letzteren Frage ist das Problem, das Wollheim formuliert 
hat, jedoch ein reales und entsteht 
nicht nur durch eine individualistische 
Perspektive. Immer dann, wenn neben die
normative Wahrheitssuche im Diskurs irgendein verbindliches 
Normsetzungsverfahren tritt, können individuelle Überzeugung und 
verbindlich gesetzte Norm miteinander in Konflikt geraten - ganz unabhängig 
davon, im Rahmen welcher politischen Einheit und durch welches Verfahren die 
Normsetzung stattfindet. Und dabei muss es keineswegs so sein, dass der Fehler 
immer bei denjenigen Individuen liegt, deren Überzeugung von der gesetzten Norm 
abweicht.
Wollheim selbst hat für die Auflösung des 
Dilemmas Hinweise gegeben, indem er eine Unterscheidung trifft zwischen "direkten"  
moralischen Prinzipien und "indirekten"(oblique) moralischen Prinzipien. 
Direkte Prinzipien beziehen sich auf die Moralität von Handlungen, Politiken, 
Motiven etc., wobei diese mit Hilfe bestimmter allgemeiner beschreibender 
Ausdrücke ausgewählt oder bezeichnet werden, z. B. Mord, Neid, Wohlwollen, 
Empfängnisverhütung, Lügen etc. 
Im Gegensatz dazu beziehen sich indirekte Prinzipien 
auf die Moralität von Handlungen, Politiken, Motiven etc., wobei sie mit Hilfe einer künstlichen Eigenschaft identifiziert werden, 
mit der sie entweder durch den Willensakt eines Individuums oder als Folge des 
körperschaftlichen Handelns irgendeiner Institution versehen werden. 
Beispiele 
direkter Prinzipien wären: 'Mord ist schlecht', 'Empfängnisverhütung ist 
erlaubt'. 
Beispiele für indirekte Prinzipien wären: 'Was vom Souverän befohlen 
wird, soll getan werden' oder 'Was vom Volk 
gewollt wird, ist richtig'."  
Wollheim unterscheidet hier also zwei 
verschiedene Geltungsebenen normativer Sätze, die der oben getroffenen 
Unterscheidung zwischen inhaltlicher und verfahrensmäßiger Richtigkeit 
weitgehend entsprechen. Konflikte zwischen beiden Ebenen stellen dabei keine 
logischen Widersprüche dar. 
Somit verschwindet das logische Paradox des überstimmten Demokraten, denn die 
widersprüchlichen Sollensaussagen beziehen sich einmal auf direkte inhaltliche 
Prinzipien und das andere Mal auf indirekte verfahrensmäßige Prinzipien. 
Allerdings ist damit noch nicht das sachliche Problem gelöst, 
wie sich ein Demokrat im Falle eines Auseinandertretens inhaltlicher und 
verfahrensmäßiger Richtigkeit verhalten soll.
Als letztes Beispiel für Versuche 
zur Differenzierung zwischen der Ebene der Wahrheit und der Ebene der 
Verbindlichkeit seien diejenigen Rechtsphilosophen genannt, die sich wie z. B. 
Radbruch weder ganz der kognitivistischen noch ganz der dezisionistischen 
Grundposition verschrieben haben. 
Nach Radbruch hat sich das Recht auszurichten an den drei Grundwerten 
Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit. Für die Wahrheitsebene 
benutzt Radbruch also ein zweigeteiltes Kriterium: Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. 
Dabei stellt nur die Gerechtigkeit ein objektivierbares Kriterium 
dar. Da die Frage der Zweckmäßigkeit nicht objektiv entscheidbar ist, ergibt 
sich die Notwendigkeit einer verbindlichen Normsetzung zur Beendigung des 
Streits. "Die Frage des Zweckes musste, soweit sie auf die ethischen Güter 
abgestellt war, im Relativismus enden. Da deshalb insoweit das richtige Recht 
nicht festgestellt werden kann, muss es festgesetzt werden, und zwar durch eine 
Macht, die das Festgesetzte auch durchzusetzen vermag. Dies ist die 
Rechtfertigung des positiven Rechts; denn die Forderung
der Rechtssicherheit kann nur durch die 
Positivität des Rechts erfüllt werden. Damit zeigt sich als dritter Bestandteil 
der Rechtsidee: die Rechtssicherheit."   
25) 
Interessant ist für unsern Zusammenhang nun, dass die Kriterien der 
Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit in Konflikt geraten können, so dass 
gerechte Norm und gesetzte Norm auseinander treten. "Rechtssicherheit 
fordert also die Geltung positiven Rechts. 
Das Bedürfnis der Rechtssicherheit kann aber auch dazu führen, dass tatsächliche 
Zustände zu Rechtszuständen werden, ja paradoxerweise dazu, dass aus Unrecht 
Recht wird. Um der Rechtssicherheit willen, nämlich damit der Streit einmal ein 
Ende finde, erlangt auch das Fehlurteil Rechtskraft, ja wo Fallrecht oder 
Präjudizienkultus gilt, Geltung über den Einzelfall hinaus für künftig 
gleich liegende Fälle. Ursprünglich 
gesetzwidrige Gewohnheit wird zum Rechte und vermag dann auch das ihr 
entgegenstehende Gesetz aus der Geltung zu drängen." 26) 
Im Konflikt zwischen den verfassungsmäßigen Grundwerten Gerechtigkeit 
und Rechtssicherheit zeigen sich auch hier die unterschiedlichen Geltungsebenen 
von Normen: inhaltlich gesehen sollte einem Fehlurteil nicht entsprochen 
werden, denn es ist falsch. Verfahrensmäßig gesehen ist dasselbe Urteil aber "rechtskräftig" und damit verbindlich, so dass ihm von dorther entsprochen 
werden sollte.
Mit diesen ausführlichen Zitaten ist 
hinreichend belegt worden, dass von den 
verschiedensten Autoren eine Berechtigung für beide Geltungsebenen normativer 
Sätze, die Wahrheitsebene und die Ebene der verbindlichen Setzung, anerkannt 
wurde.
Damit stellt sich das Problem, wie sich beide Ebenen zueinander verhalten. 
Insbesondere stellt sich die Frage, welche Ebene sich im Falle eines Konflikts 
durchsetzen soll: Was sind die Grundlagen und die Grenzen des Gehorsams 
gegenüber verfahrensmäßig gesetzten Normen? Dabei können natürlich im Rahmen 
dieses Aufsatzes nur eher vorläufige Antworten auf diese Fragen skizziert 
werden. 
 
Für die Frage nach der Wahrheit bzw. inhaltlichen Richtigkeit von Normen 
erscheinen methodologische Kriterien am geeignetsten, wie sie in der 
Diskurstheorie und in modernen Versionen des Utilitarismus entwickelt wurden.28) Danach muss sich der Wahrheitsanspruch für eine Norm daran erweisen, ob über 
sie in einem zwangfreien, rein argumentativen Diskurs ein universaler Konsens 
möglich ist. Die argumentative Konsensfähigkeit einer Norm scheint dabei nur 
dann gegeben zu sein, wenn sie dem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse 
entspricht. Darunter ist zu verstehen, dass jedes Individuum 
die Interessen jedes andern solidarisch so zu 
berücksichtigen hat, als seien es zugleich seine eigenen.
Wie oben bereits gezeigt wurde, wäre es für die Verwirklichung des solidarisch 
bestimmten Gesamtinteresses jedoch nicht unbedingt förderlich, wenn dies Ziel 
den Individuen direkt als Richtschnur ihres Handelns gegeben würde. Denn aufgrund 
nicht übereinstimmender und veränderlicher individueller Überzeugungen 
hinsichtlich des Gesamtinteresses würde keine Koordination zwischen 
den Individuen zustande kommen. Eine 
koordinierte Kooperation der Individuen, ohne die in vielen Fällen ein im 
Gesamtinteresse liegendes Resultat nicht erreicht werden kann, setzt deshalb 
eine für alle Beteiligten verbindliche Norm voraus, die sie unabhängig 
von ihren möglicherweise abweichenden Überzeugungen befolgen.
Die Einschaltung von verbindlichen Normsetzungsverfahren zwischen 
Wahrheitsüberzeugung und Handeln der Individuen bedeutet nach der hier 
vertretenen Position keine Abkehr vom Maßstab des Gesamtinteresses. Die 
Notwendigkeit von Normsetzungsverfahren wird umgekehrt vom Maßstab des 
Gesamtinteresses her begründet. Insofern ist das Ziel der Koordination (bzw. 
Rechtssicherheit), das durch verbindliche Normsetzung erreicht wird, auch kein 
Selbstzweck, denn es kann ja auch Koordination mit Zielsetzungen geben, die dem 
Gesamtinteresse eher schädlich sind. Und auch "Sicherheit" 
ist unter dem Gesichtspunkt des Gesamtinteresses 
kein eigenständiger Wert, denn es kann auch den "sicheren Untergang" geben.
Da Koordination kein Selbstzweck sein 
kann, ist es auch nicht gleichgültig, welche Verfahren der verbindlichen 
Normsetzung Anwendung finden und wie die resultierenden Normen inhaltlich 
beschaffen sind. Es sollten deshalb möglichst nur solche Normen verbindlich 
gemacht werden, die der Verwirklichung des Gesamtinteresses dienen, denen also 
zugleich Wahrheit zukommt. Die Frage ist, welche Verfahren der Normsetzung dazu 
am besten geeignet sind. 
Eine erste Antwort darauf wäre es, 
Normsetzungsverfahren zu fordern, die dem Diskurs möglichst weitgehend 
entsprechen und zugleich ein definitives Resultat garantieren. Beispiele hierfür 
wären etwa öffentliche Diskussionen mit anschließenden Abstimmungen unter den 
Bedingungen der Meinungs- und Wahlfreiheit. Allerdings können auch derartige 
diskursähnliche Verfahren keine inhaltlich richtigen Resultate garantieren, da 
sie mit den verschiedensten Fehlermöglichkeiten behaftet sind. Ein Beispiel 
hierfür wäre der Fall, dass beteiligte Individuen an bestimmten Punkten für 
Argumente nicht zugänglich sind aufgrund von Vorurteilen, Manipulation etc. 
Verschärft wird die mögliche Diskrepanz zwischen wahrer und gesetzter Norm 
dadurch, dass diskursähnliche Verfahren aufgrund des hohen 
Entscheidungsaufwands und des großen Zeitbedarfs für viele Situationen nicht 
geeignet sind. Dies macht deutlich, dass es kein für alle Situationen bestes 
Normsetzungsverfahren geben kann, sondern dass je nach Informationsbedarf, 
Zeitdruck, Wichtigkeit der Entscheidung, Verhaltensdisposition der Individuen 
usw. unterschiedliche Verfahren geeignet sind. Die Vor- und Nachteile der 
einzelnen Verfahren sollen hier nicht weiter verfolgt werden.
29) 
Für die hier verfolgte Fragestellung bleibt es nur wichtig festzuhalten, 
dass es unter dem Gesichtspunkt einer Verwirklichung des Gesamtinteresses 
gerechtfertigt sein kann, in bestimmten 
Bereichen diskursferne Normsetzungsverfahren anzuwenden, und dass besonders bei 
diesen aber auch bei den diskursähnlichen Verfahren die daraus 
resultierenden Normen unter inhaltlichen 
Kriterien erhebliche Mängel aufweisen können, d. h. dass u. U. wahre und 
verbindliche Norm weit auseinander fallen können. 
Die Frage ist, wie sich die Individuen in solchen Situationen 
verhalten sollen. Sie stehen ja vor dem Dilemma, entweder die gesetzte Norm zu 
befolgen und damit zu einem Resultat beizutragen, das dem Gesamtinteresse eher 
schädlich ist, oder aber die gesetzte Norm nicht zu befolgen und damit die
Koordination der individuellen Handlungen zu beeinträchtigen. 
Außerdem kann aufgrund des einmal enttäuschten Vertrauens auch das zukünftige 
Funktionieren des Normsetzungsverfahrens in Mitleidenschaft gezogen werden. 
Dabei müssen allerdings von vornherein zwei Fälle unterschieden werden. Der 
eine, theoretisch eher unproblematische Fall liegt dann vor, wenn sich 
die gesetzte Norm weder direkt noch indirekt 
aus einem Normsetzungsverfahren herleitet, das hierfür richtig ist. In diesem 
Fall, z. B. wenn die Norm durch eine Minderheit zur Befriedigung ihrer eigenen 
Interessen gesetzt wird, kann die gesetzte Norm keinerlei Verbindlichkeit 
beanspruchen und es wird im Gesamtinteresse liegen, dies Normsetzungssystem 
selber zu beseitigen. Welche Mittel und Wege hierzu Erfolg versprechen und unter 
dem Aspekt des Gesamtinteresses am geeignetsten sind, hängt dabei von den 
spezifischen Umständen des Falles ab wie Machtverhältnissen, Möglichkeiten zur 
Änderung auf unblutigem Wege, Wahrscheinlichkeit und Folgen eines Bürgerkrieges 
usw.
Der andere, theoretisch schwierigere Fall ist der, dass die gesetzte Norm zwar 
inhaltlich falsch ist, sich aber direkt oder indirekt aus Normsetzungsverfahren 
herleitet, die dafür als richtig anzusehen sind. Hierhin gehört der Fall des 
Demokraten, der das Mehrheitsprinzip für das richtige Verfahren 
hält, um eine bestimmte normative Frage zu entscheiden, 
der jedoch einen einzelnen Mehrheitsbeschluss für inhaltlich falsch und dem 
Gesamtinteresse zuwiderlaufend hält. Dieser Fall soll im Folgenden erörtert 
werden.
Vermeiden ließe sich das Dilemma einer 
Entscheidung zwischen inhaltlicher und verfahrensmäßiger Richtigkeit dann, wenn 
innerhalb des Normsetzungssystems Verfahren der Revision inhaltlich fehlerhafter 
Normen bestehen, so dass die gesetzte Norm verbindlich korrigiert werden kann. 
Hier ist die Koordinationsfunktion nur zeitweise blockiert aber nicht generell 
aufgehoben. Andererseits können auch Revisionsverfahren, wie z. B. die erneute 
Abstimmung der Frage oder die Zuweisung an eine besondere Beschwerdeinstanz, 
nicht garantieren, dass die schließlich verbindliche Entscheidung inhaltlich 
fehlerfrei ist. Dann existiert aber das oben genannte Dilemma fort. 
Eine erste Antwort auf die Frage, ob der falsche Mehrheitsbeschluss befolgt 
werden soll oder nicht, könnte zustimmend ausfallen. Denn der Sinn des 
verbindlichen Normsetzungsverfahrens 
war es ja gerade, trotz möglicherweise unterschiedlicher Wahrheitsüberzeugungen 
der Individuen ein koordiniertes Handeln zu ermöglichen. Deshalb, so könnte man 
argumentieren, sollte eine abweichende Überzeugung auch nicht ohne
weiteres eine Rechtfertigung bilden, die 
verbindlich gesetzte Norm nicht zu befolgen. Wenn es so wäre, hätte man 
sich den Umweg über das Normsetzungsverfahren sparen können und es den 
Individuen von vornherein freistellen sollen, entsprechend ihren Überzeugungen 
vom Gesamtinteresse zu handeln.
Dies Argument ist richtig, jedoch lässt sich daraus kein generelles 
Gehorsamsgebot gegenüber verfahrensmäßig richtigen aber inhaltlich falschen 
Normen ableiten. Denn der Koordinierungszweck gilt ja nicht absolut sondern nur 
durch seinen Beitrag zur Verwirklichung des Gesamtinteresses. Es kann deshalb 
Fälle geben, in denen die gesetzte Norm in so hohem Maße schädlich für das 
Gesamtinteresse ist, dass der gleichzeitige Vorteil der Koordinierung im Sinne 
einer Stabilisierung der Zukunftserwartungen mehr als aufgewogen wird. Dann 
wäre es von der Befriedigung des Gesamtinteresses her gesehen besser, wenn 
Individuen gemäß ihren abweichenden Überzeugungen auch unkoordiniert handeln, 
als wenn sie die gesetzte aber inhaltlich katastrophale Norm befolgen. 
Sofern das Normsetzungsverfahren tatsächlich das geeignetste ist, werden solche 
Fälle jedoch die Ausnahme bleiben. In vielen Fällen wird irgendeine Koordination 
immer noch besser sein als gar keine Koordination.
Bei der Frage, ob ein Individuum die verbindlich gesetzte,
also verfahrensmäßig richtige aber 
inhaltlich falsche Norm befolgen soll oder nicht, sind die möglichen 
Folgen einer Nichtbefolgung möglichst vollständig in die Erwägungen mit einzubeziehen. 
Insbesondere ist die Gefahr zu berücksichtigen, dass sich andere 
Individuen ein falsches Beispiel daran nehmen 
und nun den gesetzten Normen den Gehorsam
auch in solchen Fällen verweigern, wo 
dies inhaltlich gar nicht gerechtfertigt ist. 30) 
Dem könnte dadurch entgegengewirkt werden, dass der Zuwiderhandelnde ganz klar 
macht, auf welche spezifische Norm sein Ungehorsam bezogen ist, und dass er 
andere Normen oder das Normsetzungsverfahren selber damit nicht in Frage stellen 
will. Durch Offenlegung der Reichweite und der spezifischen Gründe des 
Zuwiderhandelns kann also bewirkt werden, dass die nützliche 
Koordinationsfunktion des Normsetzungsverfahrens in andern Bereichen möglichst 
wenig beeinträchtigt wird. Deshalb ist es z. B. in Fällen von "zivilem 
Ungehorsam" von großer Wichtigkeit, dass die Zielrichtung des Protests 
vollkommen deutlich gemacht wird. 
Gemäß der hier vertretenen Position wird einem Individuum also die - allerdings 
nur "moralische" - Berechtigung zugesprochen, eine verfahrensmäßig richtige Norm 
aufgrund inhaltlicher Mängel nicht zu befolgen, sofern dies bei umfassender 
Abwägung aller Konsequenzen dem Gesamtinteresse besser entspricht. Dagegen mag 
eingewandt werden, dass dies eine gefährliche Position ist, da in vielen Fällen 
die Individuen irrtümlicherweise davon ausgehen werden, dass ihre normative 
Überzeugung die richtige ist und dass der Schaden der Nichtbefolgung geringer 
ist als der Schaden, der durch eine Befolgung angerichtet würde. Damit werde die 
Möglichkeit eröffnet, jederzeit unter Berufung auf das vermeintliche oder auch 
nur vorgeschobene Gesamtinteresse verfahrensmäßig richtige Normen nicht zu 
befolgen. 
Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, dass diese Gefahr zwar besteht aber 
praktisch nicht sehr groß ist. Denn die verbindlich gesetzte Norm existiert ja 
fort, einschließlich der zu ihrer Durchsetzung vorgesehenen Sanktionsregeln. 
Sofern nun, wie bei unserer Problemstellung angenommen, keine verbindliche 
Aufhebung der Norm entsprechend einem dafür vorgesehenen Revisionsverfahren 
zustande kommt, wird die Nichtbefolgung der gesetzten Norm mit negativen 
Sanktionen bedroht. Eine leichtfertige oder nur vorgeschobene Berufung auf das 
Gesamtinteresse wird durch diese Sanktionsdrohung weitgehend ausgeschlossen, 
denn der "Überzeugungstäter" muss in seiner Überzeugung schon sehr 
gefestigt sein, um trotz Sanktionsdrohung der gesetzten Norm entgegenzuhandeln. 
Ähnliches gilt für den Egoisten, der das Gesamtinteresse als Grund für seinen 
Ungehorsam nur vorschiebt. 
Mit dieser Überlegung wird zugleich deutlich, dass dann, wenn erstmal eine 
Diskrepanz zwischen wahrer und gesetzter Norm eingetreten ist, keine ideale 
Lösung mehr möglich ist, sondern nur noch das kleinere von mehreren Übeln 
gewählt werden kann. So wird im hier diskutierten Fall das Individuum für ein 
Verhalten bestraft, zu dem es zugleich moralisch berechtigt war. Es kommt 
deshalb entscheidend darauf an, derartige Diskrepanzen zwischen gesetzten und 
wahren Normen von vornherein möglichst zu vermeiden bzw. gering zu halten. 
Ein Beitrag dazu kann auf verschiedenen Ebenen geleistet werden. Zum einen 
können die Methoden zur wahren Beantwortung normativer Fragen genauer 
herausgearbeitet, besser begründet und allgemeiner gelehrt werden. In dem Maße, 
wie in der Methodologie normativer Erkenntnis Fortschritte erzielt werden, 
klaffen die normativen Überzeugungen der Individuen weniger weit auseinander 
und die Gefahr, dass die normsetzende Instanz irrtümlich inhaltlich falsche 
Normen für verbindlich erklärt, wird verringert. In dieser Weise hat ja auch die 
Entwicklung der modernen Methodologie empirischer Erkenntnis zu einer Annäherung 
der Überzeugungen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit geführt. 
Zum andern ist es notwendig, für die verschiedenen Lebensbereiche Verfahren der 
Normsetzung zu bestimmen und anzuwenden, die unter dem Gesichtspunkt des 
Gesamtinteresses zu möglichst guten Ergebnissen führen. Es ist die zentrale 
Aufgabe der normativen Sozialwissenschaften und der normativen Philosophie, auf 
die damit gestellten Fragen begründete, argumentativ Konsensfähige Antworten 
zu erarbeiten.
***
1) s. H. Kelsen: Pure Theory of Law. 2. Aufl. Berkeley 1970, S.193ff.
1b) Eine konventionalistische Position vertritt z. B. K.H. Ilting in seinem Text "Anerkennung" in: G.G. Grau (Hrsg.): Probleme der Ethik. Freiburg 1972.
2) s. J. Tussman: Obligation and the Body Politic. London u.a. 1960.
3) dazu ausführlicher die Kritik von J.L. Mackie an J.R. Searle in seinem Buch: Ethics, Inventing Right and Wrong. Harmondsworth 1977, S.64ff.
4) dazu J. Rawls: A Theory of Justice. London u. a. 1973, S.17ff.
5) s. R.B. Brandt: "Towards a Credible Form of Utilitarianism" in: H.-N. Castaneda u. G. Nakhnikian (Hrsg.): Morality and the Language of Conduct. Detroit 1965, S.109f.
6) Auf die verschiedenen Varianten des Regelutilitarismus soll hier nicht weiter eingegangen werden. S. dazu die Beiträge in B.A. Brody (Hrsg.): Moral Rules and Particular Circumstances. Englewood Cliffs, N.J. 1970 sowie die eher kritische Analyse in D. Lyons: Forms and Limits of Utilitarianism. Oxford 1967.
7) s. J. Rawls: "Two Concepts of Rules" in: Philosophical Review 64. (1955) S. 3-32, zitiert nach dem Wiederabdruck in Ph. Foot (Hrsg.): Theories of Ethics. Oxford 1967, S. 144-170.
8) ebenda S. 155f.
9) Zur Diskurstheorie s. z. B. J. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, S.148f. sowie die Beiträge in F. Kambartel (Hrsg.): Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt a.M. 1974, sowie meine eigene Arbeit: Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse. Stuttgart 1978, S. 23ff.
11) s. J. Habermas: Legitimationsprobleme ..., a.a.O., S. 148
12) H.L.A. Hart: "Legal and Moral Obligation" in: A.I. Melden (Hrsg.): Essays in Moral Philosophy. Seattle u. a. 1958, S.102
13) ebenda S.82f.
14) G.J. Warnock: The Object of Morality. London 1971, S.94.
15) ebenda S.94f.
16) J. Raz: Practical Reasons and Norms. London 1975
17) ebenda S.39
18) ebenda S.39
19) ebenda S.38
20) s. R. Wollheim: "A Paradox in the Theory of Democracy" in: P. Laslett u. W. G. Runciman (Hrsg.): Philosophy, Politics and Society. 2nd Series. Oxford 1962, S.71-87
21) s. dazu auch die Arbeit des Verfassers: Tauschprinzip … , a.a.O., S. 135f.
23) R. Wollheim, Paradox … , a.a.O. S.85
24) s. dazu G. Radbruch: Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Aufl. Stuttgart 1952. S. 36ff.
25) ebenda S.39
26) ebenda S.40
27) Hinzuweisen ist hier auf die scharfsinnige Analyse von R.A. Wasserstrom: "The Obligation to Obey the Law" in: UCLA Law Review, 10.(1963) 5.780-807. Wiederabgedruckt in A. de Cresnigny u. A. Wertheimer (Hrsg.): Contemporary Political Theory. New York 1970, S.268-296
28) Eine ausführliche Begründung dieser Position habe ich in meiner Arbeit: Tauschprinzip .., a.a.O., Teil I gegeben.
29) s. dazu etwa R.A. Dahl u. Ch.E. Lindblom: Politics, Economics and Welfare. New York u.a. 1963
30) Zu weiteren Gesichtspunkten, die bei einem Zuwiderhandeln gegen verbindlich gesetzte Normen zu berücksichtigen wären s. J.J.C. Smart: "Extreme and Restricted Utilitarianism" in: Philosophical Quarterly 6.(1956) S. 345-354, übersetzt und wiederabgedruckt unter dem Titel "Handlungsutilitarismus und Regelutilitarismus" in D. Birnbacher u. N. Hoerster (Hrsg.): Texte zur Ethik. München 1976, S.208-222
(Dies ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags in Markl, K.-P. (Hrsg.): Analytische Politikphilosophie und ökonomische Rationalität Band 1. Opladen 1985.)
***
Inhaltliche Richtigkeit 
und formale Verbindlichkeit von Normen
(kurze Einführung)
Wenn man fragt, warum Individuum A eine bestimmte Handlungsnorm N befolgt 
soll, so gibt es zwei Arten von Antworten. 
Die eine Art von Antworten bezieht sich auf  
eine Institution oder ein 
Verfahren, wodurch die Norm gesetzt wurde. Beispiele hierfür sind: A soll H 
tun, ...
"… weil A dies versprochen hat", 
"… weil der Verstorbene dies in seinem Testament so festgelegt hat", 
"… weil das geltende Recht dies vorschreibt", 
"… weil der Eigentümer es so will", 
"… weil es mehrheitlich so beschlossen wurde"   etc. 
Die andere Art von Antworten bezieht sich auf die 
inhaltliche Beschaffenheit der 
Norm. Beispiele für diese Art von Antworten sind: A soll H tun, ... 
"… weil diese Norm gerecht ist", 
"… weil diese Norm für alle das Beste ist", 
"… weil die Befolgung dieser Norm zum größten Wohl aller führt", 
"… weil diese Norm der Menschenwürde entspricht"   etc.
Offensichtlich liegen diese Begründungen auf 
zwei verschiedenen Ebenen, denn man 
kann ohne logischen Widerspruch sagen: "Ich halte den Beschluss der 
Parlamentsmehrheit zwar für inhaltlich falsch, aber dennoch betrachte ich den 
Beschluss als für mich 
verbindlich. Ich respektiere die Beschlüsse der Mehrheit."  
Man kann die ethischen Theorien nun danach unterscheiden, wie sie mit dem
Spannungsverhältnis zwischen der Ebene der 
verfahrensmäßigen Setzung von verbindlichen Normen und der Ebene der 
argumentativen Bestimmung richtiger Normen umgehen.
Auf der einen Seite stehen ganz außen die Dezisionisten. 
Für sie ist nur die verbindliche Setzung von Normen bedeutsam. Sie bestreiten, 
dass man in Bezug auf Normen überhaupt von inhaltlicher Richtigkeit und von 
einer Erkenntnis der richtigen Norm sprechen kann.
Auf der andern Seite stehen ganz außen die ethischen 
Kognitivisten. Für sie ist das Problem ethischen Handelns allein ein 
Erkenntnisproblem, das man durch die Gewinnung relevanter Informationen und 
deren Auswertung nach geeigneten Kriterien lösen kann. Eine Legitimation von 
Normen durch Verfahren ist für sie nicht möglich.
Das Hauptproblem der Kognivisten ist, dass es auch beim wissenschaftlichen 
Meinungsstreit oft nicht zu definitiven Erkenntnissen kommt, die als Grundlage 
der sozialen Koordination dienen könnten. Es werden deshalb zusätzlich 
verbindliche und sanktionierte Normen benötigt, die für jedes Individuum das 
Handeln der andern berechenbar macht. 
Das Hauptproblem der Dezisionisten ist, dass es für sie keine Berechtigung für 
einen Widerstand gegen die gesetzten Normen geben kann, denn "verbindlich ist 
verbindlich". Außerdem können Dezisionisten nicht begründen, warum man ein 
Normsetzungsverfahren irgendeinem anderen Verfahren vorziehen soll.
Hierzu gibt es verschiedene Zwischenpositionen.
Siehe auch 
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
    
Normativer Diskurs und verbindliche Normen *** 
(93 K)
   
Verbindlichkeit und inhaltliche 
Richtigkeit von Normen - Notizen ** (10 K)
***
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Alphabetische Liste aller Texte
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Ethik-Werkstatt: Ende 
der Seite "Verbindlichkeit und inhaltliche Richtigkeit von Normen"  
Letzte Bearbeitung 28.11.2005 / Eberhard Wesche
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